Eine moderne Schublade knallt nicht zu, sie gleitet die letzten Zentimeter sanft bis zum Anschlag. Die Schienen, die diesen Komfort ermöglichen, bestehen aus bis zu 40 Komponenten. Gefertigt werden sie zum Beispiel von der Firma Hettich in Kirchlengern nördlich von Bielefeld. „Unsere Fertigungsstraße ist über hundert Meter lang. Sie läuft rund um die Uhr, an sechs Tagen in der Woche. Pro Schicht entstehen etwa 6000 Schienenpaare“, erklärt Kai Breiter, der kaufmännische Leiter der Firma. Menschen sind in der…
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etwa 6000 Schienenpaare“, erklärt Kai Breiter, der kaufmännische Leiter der Firma. Menschen sind in der großen Halle kaum zu sehen. „Als die Anlage noch nicht verkettet war und die Übergaben von einem Anlagenteil zum anderen per Hand erfolgten, hatten wir hier etwa 100 Beschäftigte“, sagt Breiter. Jetzt reichen sieben Mitarbeiter pro Schicht, um die Fertigungsstraße zu betreiben. Sie behalten die großen Monitore im Blick, die den Zustand der Maschinen anzeigen: Grün heißt, alles ist in Ordnung, Gelb, gleich gibt es ein Problem, und bei Rot steht alles. Dann sehen die Zuständigen nach und bringen die Anlage wieder zum Laufen. „Früher haben die Mitarbeiter dicke Akten mit Reparatur- und Wartungsplänen herumgeschleppt, und wenn etwas stehenblieb, wurde geblättert. Das läuft jetzt alles über Tablets“, sagt Breiter.
Immer mehr Prozesse laufen automatisch
Was der Beobachter nicht sieht, ist die digitale Vernetzung hinter der Fertigungsstraße: Die Anlage registriert, wenn Bauteile ausgehen, und bestellt sie selbst beim Lager nach. Dieses holt die gewünschten Teile selbsttätig heraus und sendet dem Staplerfahrer eine Nachricht, was er wo abholen und hinbringen soll. Ist eine Palette fertig, geht eine Nachricht an das Planungssystem, der Staplerfahrer wird beauftragt, die fertige Ware abzuholen, und bringt diese in den Versandbereich, von dem die Paletten auf den bereitstehenden Auflieger gefahren werden. Ist der voll, wird das ebenfalls per Scanner verbucht, und der Fahrer erhält eine Nachricht auf sein Tablet, um den Anhänger zum Logistikzentrum zu bringen. Frachtpapiere und Rechnungen werden automatisch erstellt. „Da greift keiner mehr per Hand ein“, sagt Breiter. „Wir denken auch darüber nach, die Staplerfahrer durch ein automatisches System zu ersetzen.“ Willkommen in der digitalen Arbeitswelt!
Digitalisierung, Automatisierung, Arbeit 4.0: Das sind nur einige der Schlagworte, die die anstehenden Veränderungen der Arbeitswelt beschreiben wollen. Manche Studien warnen vor einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen, andere stellen die Entwicklung in eine Reihe mit früheren Umwälzungen wie etwa der Einführung der Dampfmaschinen, die zuerst viele arbeitslos machte, dann aber umso mehr und bessere Arbeitsmöglichkeiten geschaffen hat. In der aktuellen Übergangsphase kann niemand abschätzen, welche Auswirkungen die digitalen Veränderungen auf den Arbeitsmarkt haben werden. „Wir schauen da alle in die digitale Kristallkugel“, konstatiert Klaus-Peter Jansen, Projektreferent des Technologie-netzwerks „Intelligente Technische Systeme OstWestfalenLippe“, in dem sich mehr als 180 Firmen, Forschungsinstitute, Universitäten und Fachhochschulen zusammengeschlossen haben, um die Digitalisierung der Arbeitswelt mitzugestalten.
In allen Branchen wachsen die Herausforderungen
Während viele große Unternehmen bereits Teile ihrer Produktion digitalisiert haben oder daran arbeiten, sind die meisten kleineren und mittelständischen Unternehmen noch dabei, sich zu orientieren. „Für einen erfolgreichen Mittelständler liegt es zunächst nicht auf der Hand, warum er viel in neue Technologien investieren soll, ohne die er doch bisher auch gut zurechtkommt“, sagt Jansen. Doch die Herausforderungen wachsen in allen Branchen. In welchem Bereich man auch fragt, von der Altenpflege bis zur Industrieproduktion: Die Abläufe sollen schneller und effizienter werden, um dem Kostendruck standzuhalten.
Die Digitalisierung ist für viele die Antwort darauf. Sie ist auch ein politisch gewolltes, mit vielen Informationsangeboten unterstütztes Projekt. Dahinter steht die Befürchtung der Bundesregierung, aber auch vieler Firmenchefs: Wer jetzt nicht mitzieht – oder besser noch vorangeht –, könnte seine Stellung auf dem Markt verspielen. „Die Unternehmer müssen überlegen, was geeignet ist, den Vorsprung zu den Konkurrenten auszubauen. Sie müssen sich fragen, was es gibt, was anwendbar ist, was es kostet und ob es sich lohnt“, sagt Mikko Börkircher vom Arbeitgeberverband Metall NRW in Düsseldorf, der Firmen in Fragen der Digitalisierung berät.
Apps dienen als Assistenzsystem
Die Firma Miele hat zusammen mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz getestet, wie ihre Fertigung in Zukunft aussehen könnte: anhand eines Dampfgarers. „Von der Fließbandfertigung sind wir angesichts der immer neuen Varianten der Geräte abgekommen“, erklärt Rouven Vierfuß, Leiter des Bereichs Industrial Engineering bei Miele im ostwestfälischen Bünde. Stattdessen montieren die Mitarbeiter die Geräte nun komplett. Für den Zukunftstest wurden sie dazu mit Tablets ausgestattet, auf denen eine App läuft, die ihnen sagt, wie das jeweilige Modell zu bauen ist. „Das muss man sich wie ein persönliches Assistenzsystem vorstellen“, sagt Vierfuß. „Jeder hat einen individuellen Zugang und ein eigenes Profil, und die App zeigt genau so viele Informationen an, wie der Mitarbeiter benötigt. Wer sich noch nicht so gut auskennt, bekommt die Arbeitsschritte im Detail erklärt, wer viel Erfahrung hat, kriegt weniger angezeigt.“ Eine zweite App unterstützt die Teamleiter bei Personalplanung und Kommunikation, eine dritte hilft bei der Reparatur: Müssen Geräte nachbearbeitet werden, können die Mitarbeiter darüber auf das „Fabrikgedächtnis“ zugreifen, in dem sämtliche Fehler, die in der Montage schon vorgekommen sind, samt ihrer Behebung verzeichnet sind. Dort kann man auch demjenigen, dem das Missgeschick passiert ist, anonym Feedback geben. Die Erfahrungen waren gut: Die Assistenz-App wird bald Teil der regulären Fertigung sein.
Die Digitalisierung betrifft aber nicht nur die Industrieproduktion, da sei sie nur schon länger im Gang, sagt Breiter. „In der Verwaltung ist noch viel Potenzial.“ Fürchten müsse sich deswegen niemand: Es gehe darum, ermüdende Routinetätigkeiten zu automatisieren, damit die Mitarbeiter sich um die weitere Verbesserung der Abläufe kümmern können. „Ich glaube nicht, dass den Beschäftigten klar ist, was da auf sie zukommt“, sagt dagegen Patrick Loos von der IG Metall NRW. „Viele denken, dass sich nicht viel verändern wird, weil sie schon SAP haben und mit Excel arbeiten.“ Außerdem sei dieser Bereich anders als die Produktion in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewachsen, und man habe oft die Erfahrung gemacht, dass die neue Technik eher mehr Arbeit mache als weniger.
Doch wenn die Maschine die benötigten Teile selbst bestellt, der Kunde den Auftrag eigenhändig ins System einpflegt und das Lager sich selbständig organisiert, fallen viele klassische Sachbearbeitertätigkeiten weg. Manche Arbeitsbereiche, etwa Buchhaltung und Controlling, lassen sich leichter zentralisieren und outsourcen. „Aber das kann man nicht generalisieren, es kommt auf die Strategie des Unternehmens an“, sagt Loos. Neben dem Outsourcen gebe es auch ein „Insourcen“, bei dem Betriebe sich bemühen, Kompetenzen und Daten ins Haus zu holen und sie dort zu halten.
Viele Arbeitsfelder verändern sich
Angesichts der aktuell sehr guten wirtschaftlichen Situation heißt Digitalisierung also nicht unbedingt, dass die Gesamtzahl der Arbeitsplätze geringer wird. Vor allem im verarbeitenden Gewerbe werden Stellen verschwinden, im Bereich Information und Kommunikation neue entstehen. Dabei werden sich viele Tätigkeitsfelder verändern. „Da kann es sein, dass jemand, der bislang nur im Innendienst war, nun rausfahren und mit den Kunden sprechen soll. Das kann schon Verunsicherung auslösen“, sagt Loos. Hinzu kommt die Verdichtung der Arbeitsprozesse. „Routinetätigkeiten können langweilig, aber auch dringend benötigte Zeit sein, um herunterzukommen und sich neu zu sortieren“, erklärt Loos. Erst die richtige Mischung aus Herausforderungen und gemächlicheren Tätigkeiten mache einen Job reizvoll. „Wenn ich den ganzen Tag lang nur noch Troubleshooting mache, bin ich schon auf dem halben Weg in den Burnout.“
Beim Schienenhersteller Hettich müssen auch künftig gelernte Industriemechaniker an der Fertigungsstraße stehen, auch wenn Apps und Tablets die Aufgabe erleichtern. „Sie müssen ja auch eingreifen können, wenn unvorhergesehen etwas schiefgeht“, erklärt Kai Breiter. Allerdings fühlten sich manche dort unterfordert. „Die Mitarbeiter sagen schon mal: Gebt mir mehr zu tun. Sie möchten mehr an den Maschinen machen können. Wir prüfen, ob sich das etwa mit Datenbrillen realisieren lässt.“
Menschen, Wissen und Fähigkeiten vernetzen
Wie die Mitarbeiter eines Unternehmens letztlich auf die Digitalisierung reagieren, hat viel damit zu tun, wie die Projekte eingeführt werden. „Vor allem die Themen Entgelt, Arbeitszeit, Daten- und Gesundheitsschutz sind in dem Zusammenhang immer wieder Thema“, berichtet Mikko Börkircher vom Arbeitgeberverband Metall NRW. Dieser hat einen Fragenkatalog zusammengestellt, mit dessen Hilfe Firmenchefs erkennen können, worauf sie bei Digitalisierungsprojekten achten müssen. Auch die IG Metall bietet Hilfestellung. Die Unternehmen Hettich und Miele haben früh den Kontakt zur Belegschaft und zum Betriebsrat gesucht und viele Befürchtungen ausräumen können. So wurde etwa in Betriebsvereinbarungen niedergelegt, dass keine Daten zur Überwachung der individuellen Leistung erhoben werden, auch wenn dies technisch möglich wäre.
„Oft hört man, bei der Digitalisierung müsse die Belegschaft ‚mitgenommen‘ werden. Das ist nicht falsch, aber dahinter steht immer noch ein Top-down-Denken“, beklagt Gewerkschafter Loos. „Wir sagen: Stellt den Menschen in den Mittelpunkt und nutzt die Digitalisierung zu dem, was sie wirklich ist – zur stärkeren Vernetzung und Einbindung von Menschen, Wissen und Fähigkeiten.“ Jetzt zu schnell „was mit Digitalisierung“ zu machen, weil alle davon reden, führe zu Fehlinvestitionen.
Auch in klassischen sozialen Berufen ist Digitalisierung ein Thema. Melissa Henne ist Projektleiterin bei den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld und Düsseldorf. Hier werden kranke und alte Menschen sowie Menschen mit kognitiven Einschränkungen betreut.
In Zusammenarbeit mit dem Exzellenzcluster Kognitive Interaktionstechnologie der Universität Bielefeld haben Henne und ihre Kollegen seit 2010 verschiedene Techniken erprobt, die Menschen unterstützen könnten: Fallsensoren, die Alarm geben, wenn in einer Wohnung jemand hingefallen ist und nicht mehr auf die Füße kommt; eine intelligente Garderobe, die den Mantel reicht; eine Küche, die weiß, ob genug Wasser im Topf ist und durch ein Kochrezept führt; eine Datenbrille, die beim Bedienen einer Kaffeemaschine hilft.
Fehlende Geschäftsmodelle
Und Billie, ein Avatar, der auf einem Bildschirm erscheint, der in der Wohnung steht. Er hilft, Daten in einen Kalender einzutragen, erinnert an Termine, macht Vorschläge, was man tun oder wen man kontaktieren könnte.
„Viele Träger im Sozialwesen schauen gerade auf die neuen Technologien, aber es gibt bislang kaum Geschäftsmodelle“, erklärt Melissa Henne. Die meisten Produkte sind noch nicht marktreif, und es gibt kaum Finanzierungsmodelle für die Technologie und die Fachleute, die nötig sind, um sie zu betreiben. Zudem seien viele Fragen noch offen: Was macht ein System wie Billie mit den Menschen, die es nutzen? Erhöht es deren Autonomie oder macht es sie eher abhängig? Verändert es ihr Verhalten? Und wer entscheidet, was in das System einprogrammiert wird, was gut und was schlecht für die Nutzer ist?
Auf die Pflegenden kommen neue Herausforderungen zu, technisches Verständnis und Interesse an Technik werden auch in diesem Berufsfeld immer wichtiger. „Im sozialen Bereich haben die Menschen oft eine andere Motivation, diese Berufe zu wählen, als mit Technik zu arbeiten“, sagt Henne. „Die Digitalisierung kann einerseits eine große Chance sein, weil sie diese Tätigkeiten für andere Gruppen interessant macht, aber es wird andererseits auch Menschen geben, für die sie dadurch weniger attraktiv werden.“
In der Belegschaft der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel habe es zuerst Vorbehalte und Ängste angesichts der digitalen Vorstöße gegeben. „Der Vorstand hat dann deutlich gemacht, dass es nicht um den Ersatz von Personal geht, sondern darum, Entlastung zu schaffen, damit mehr Raum für persönliche Zuwendung besteht“, sagt Henne. Vieles in der Dokumentation von Pflegetätigkeiten und Besuchen könne inzwischen längst digital über Mobilgeräte laufen, Fotos könnten vor Ort eingespeist, Übergabeprotokolle auf Knopfdruck generiert werden.
„So müssen sich die Mitarbeiterinnen nicht vor Schichtende hinsetzen und alles eintippen“, so Henne. „Und wenn der Eindruck entsteht, da ist etwas, wovon die Klienten wirklich etwas haben, damit sie länger selbständig leben oder besser kommunizieren können, sind die Pflegenden interessiert und engagiert, auch in der Begleitung von Forschungsprojekten.“ Der Sinneswandel hat ihrer Ansicht nach auch mit einer realistischeren Einschätzung der Technik zu tun: „Die Mitarbeiter sehen, was die Technik alles noch nicht kann, und andersherum, wie schwierig und wertvoll die Arbeit ist, die sie leisten.“
Die Digitalisierung verändert nicht nur einzelne Berufsbilder, auch auf das Management kommen Veränderungen zu: Wo Flexibilität groß geschrieben und in Projektgruppen gearbeitet wird, die sich immer wieder neu über die klassischen Abteilungen, manchmal sogar über die Grenzen von Unternehmen und Ländern hinweg zusammensetzen, lässt sich das Bild des nur zuteilenden und kontrollierenden Vorgesetzten nicht halten.
Neue Aufgaben für Führungskräfte
„Wenn Teams sich schnell bilden und wieder auseinandergehen, gibt es auch keine Führungskraft, die nur Person A oder nur B führt. Stattdessen muss man möglichst viel Wissen teilen. Auch die Konkurrenten von heute werden das morgen tun müssen, damit Arbeitsplätze zumindest in Deutschland bleiben können“, sagt Mikko Börkircher. Digital Leadership sei gefragt. „In der digitalen Transformation eines Unternehmens steht die Führungskraft als Treiber und Enabler für eine „Innovationskultur“, erklärt der Psychologe und Managementberater Stefan Dörr. „Dazu gehört, ein Klima von Inspiration und Motivation herzustellen, in dem sich die Mitarbeiter entwickeln können und ermutigt werden, Neues zu schaffen, eigenständig und vernetzt zu arbeiten, Ideen auszutauschen und zu experimentieren.“
Eigentlich wisse man das aus der Führungsforschung schon seit mehr als 20 Jahren, sagt Dörr. „Mitarbeiter bringen die besten Leistungen, wenn sie wertgeschätzt werden und in einem inspirierenden und vertrauensvollen Teamklima zusammenarbeiten können. Diese Art der Führungskultur wird in der digitalen Transformation zu einer harten Währung für den Erfolg von Unternehmen.“ Experten müssen schnell eingebunden, Kunden ins Boot geholt werden. Manche Teams treffen sich zudem nie anders als auf digitalem Wege. Klassische Hierarchien gelten als zu langsam, Projektarbeit, Feedback und Rückkopplung als neue Zauberwörter. Im Büro vor sich hinarbeiten, am besten bei geschlossener Tür, und erst wieder herauskommen, wenn man fertig ist, geht nicht mehr. Stattdessen sollen in Projektteams alle über den Stand aller Arbeiten im Bilde sein und weitgehend selbständig arbeiten und entscheiden.Sind Führungskräfte künftig also überflüssig?
Jemand muss den Rahmen schaffen und Sinn vermitteln
„Als reine Aufgabenmanager und Kontrolleure schon“, sagt Dörr. „Aber als Führungskraft, die Verantwortung übernimmt, keineswegs. Jemand muss den Rahmen schaffen, die Menschen zusammenbringen, ermutigen und Sinn vermitteln: Was macht man und warum? Und sie müssen natürlich auch fragen: Wie gut sind wir? Wo werden Fehler gemacht, was lernen wir daraus? Führung wird neu definiert, aber man kann den Teams nicht zumuten, das auch noch im Blick zu haben.“Von dieser Entwicklung könnten besonders Frauen profitieren, meint Christiane Funken, die das Fachgebiet Kommunikations- und Mediensoziologie, Geschlechterforschung an der TU Berlin leitet. „Unternehmen müssen sich heute pausenlos neu sortieren. Man trifft kaum noch jemanden an seinem Arbeitsplatz an, alle eilen von einem Meeting zum nächsten, immer mit anderen Kolleginnen, um eine kundenindividuelle Lösung zu entwickeln. Alle sitzen zusammen: Techniker, Marketing, Vertrieb, Controlling und IT. Da sind Kommunikation, Integration, Konfliktlösung, psychologisches Gespür und Flexibilität gefragt. Und darin sind Frauen oft einfach besser“, sagt Funken.
Auch den Unternehmen werde immer klarer, dass ihr wichtigster Fundus Mitarbeiter sind, die sich flexibel auf immer neue Situationen einstellen können. „Sie erwarten von ihnen das, was Computer nicht leisten können: soziale Kompetenz, Integrationsfähigkeit.“ Der Fachkräftemangel, die demografische Entwicklung und die Akademisierung der Beschäftigten spielten eine weitere Rolle: Menschen wollen zufrieden sein bei der Arbeit, und sie wollen Zeit für die Familie: „Männer wollen auch Väter, Frauen nicht nur Mütter sein“, beschreibt Funken die Ergebnisse ihrer Umfragen.
Berufserfahrungen werden wichtiger als Abschlüsse
Ein Merkmal der Digitalisierung ist, dass sie sich am oberen und am unteren Ende des Qualifikationsspektrums sehr unterschiedlich präsentiert. Generell sind Menschen immer weniger durch erworbene Abschlüsse festgelegt als durch die Erfahrungen, die sie im Berufsleben machen. So kann sich mancher Facharbeiter über Projekte qualifizieren und zu den umworbenen Spezialkräften aufsteigen, die bessere, neue, flexible Arbeitsbedingungen aushandeln können. Auf der anderen Seite stehen die Menschen, die es, aus welchen Gründen auch immer, nicht in diese gefragten Berufe geschafft haben. „Im Moment sehen wir eine verstärkte Polarisierung. Die industrielle Einfacharbeit nimmt eher noch zu, aber die, die dort arbeiten, sind immer öfter nicht mehr Hilfskräfte, sondern Facharbeiter, die man als Bediener und Überwacher einsetzt – und dadurch quasi dequalifiziert“, sagt Klaus-Peter Jansen. Das birgt Stoff für Konflikte.
Die Einführung von Assistenzsystemen könnte also dazu führen, dass eine Tätigkeit einfacher wird und schlechter bezahlt wird. Das betrifft Produktion, Verwaltung und Entwicklung: Immer mehr Tätigkeiten können standardisiert und in kleine Schritte aufgespalten werden. So lassen sich Arbeitsprozesse besser steuern und optimieren. Doch selbst Ingenieure fühlen sich in dieser „agil“ genannten Arbeitsform bisweilen wie Fließbandarbeiter. „Es ist paradox“, sagt der Arbeits- und Organisationspsychologe Günter Maier. „Wir wissen genau, wie wichtig Gestaltungsmöglichkeiten zum Beispiel für Arbeitszufriedenheit sind, aber wir laufen Gefahr, sie durch schlecht gemachte Digitalisierung dennoch zu verlieren.“
Verlangsamt formelle Mitbestimmung die Prozesse?
Betriebe, in denen ein starker Betriebsrat die Interessen der Mitarbeiter vertritt, sind dabei meist noch gut dran. Oft entscheiden sie um des Betriebsfriedens willen, die Bezahlung beizubehalten. „Doch die amerikanische Unternehmenskultur, die da zu uns herüberschwappt, ist anders: bloß keine formelle Mitbestimmung“, sagt IG-Metaller Patrick Loos. „Man sagt, dass die Prozesse dadurch zu langsam werden, aber tatsächlich möchte man keine organisierte Belegschaft, weil einen das vor größere Herausforderungen stellt, entgelttechnisch und was die Arbeitsgestaltung angeht.“
Noch extremer trifft es die sogenannten Click- oder Crowdworker, die, vermittelt über Plattformen im Internet, kleinste Aufträge erledigen – Rechnungsbelege abtippen, Kleidungsstücke beschreiben, Google-Suchen ausführen –, für die sie Honorare zwischen einigen Cent und wenigen Euro bekommen. Der Vorteil dieser Tätigkeit ist ihre Flexibilität: Man kann überall arbeiten, es gibt keine festen Arbeitszeiten. Doch das Clickworken gilt als prekäre Tätigkeit: Der Verdienst ist gering, der Zeitaufwand hoch, die Konkurrenz international. Niemand fragt nach Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten, Rentenzahlungen oder Krankenversicherung. Die Menschen sind Einzelkämpfer. Gewerkschafter Loos ist sich sicher: Unternehmen, die Arbeit möglichst billig einkaufen, werden unflexibel, was langfristig ihrer Marktposition schadet.
Sorge vor einer Spaltung der Gesellschaft
Ein grundsätzliches Problem aber bleibt: Nicht alle Menschen werden genug lernen können oder wollen, um bei der Konkurrenz um gute Arbeitsplätze mitzuhalten. Die Sorge, die Digitalisierung der Arbeitswelt könne die Spaltung der Gesellschaft weiter vertiefen, formulieren alle Beteiligten. „Wir müssen uns intensiv Gedanken machen, wie Menschen, die nicht so gut qualifiziert und mit den Anforderungen der digitalen Arbeitswelt überfordert sind, anständig arbeiten und davon auskömmlich ihr Leben finanzieren können“, sagt Jansen.
„Die Veränderungen, die mit der digitalen Transformation einhergehen, sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir nicht allein den Unternehmen und Führungskräften überlassen können. Um diesen Wandel zu meistern, müssen alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte zusammenwirken“, ergänzt Dörr. Dann, aber nur dann birgt die Digitalisierung große Chancen für die Neugestaltung der Arbeitswelt.
„Interagieren statt einschränken“
Der Arbeits- und Organisationspsychologe Günter Maier sieht große Chancen in der Digitalisierung – wenn sie menschengerecht eingesetzt wird
Professor Maier, revolutioniert die Digitalisierung die Arbeitswelt?
Das würde ich so nicht sagen. Die Rede von Industrie 4.0 und Digitalisierung suggeriert, dass hier etwas sprunghaft geschieht, aber die Automatisierung von Produktionsprozessen ist schon lange im Gang, und die Digitalisierung setzt das schrittweise fort. Dadurch werden nicht massenweise ganze Berufe wegfallen, sondern manche Tätigkeiten in den Berufsfeldern werden sich digitalisieren lassen und andere nicht. Das wird nicht nur technische Berufe treffen, sondern zum Beispiel auch Psychotherapeuten, die virtuelle Realität zur Behandlung von Angststörungen einsetzen können. Die technischen Möglichkeiten sind aber nicht das Einzige, was den Arbeitsmarkt verändert, es gibt auch noch die Globalisierung, politische Entscheidungen und gesetzlicher Rahmenbedingungen, etwa zum Arbeitsschutz.
Sie haben Unternehmen bei der Einführung von Digitalisierung beobachtet. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Die schlechteste Herangehensweise ist sicher, die Beschäftigten vor vollendete Tatsachen zu stellen. Idealerweise sucht die Geschäftsführung vor der Einführung neuer Technologien das Gespräch mit den Beschäftigten, so dass diese eigene Ideen und Wünsche einbringen können. Am besten ist, wenn die Beschäftigten die Technologie erst einmal ausprobieren können, damit sie eine Vorstellung davon bekommen, worum es geht. Wenn sie sich als Partner ernst genommen fühlen und sehen, dass es darum geht, ihre Arbeitsplätze zukunftsfähig zu machen, und sie auch die nötigen Fortbildungen bekommen, sind sie meist sehr motiviert und neugierig. Aber es kommt natürlich auch vor, dass Beschäftigte klagen, dass sie jetzt nur noch auf dem Tablet herumwischen und nicht mehr mit Schraubenziehern und Messgeräten arbeiten. Manchen fehlen damit diejenigen Aspekte ihres Berufs, die sie am meisten geschätzt haben.
Was macht Ihnen am meisten Sorge?
Es ist ein Paradox: Seit etwa 30 Jahren weiß man, dass Eigeninitiative und proaktives Handeln für Unternehmen sehr wichtig sind, sie halten sie erst am Laufen. Wenn Assistenzsysteme falsch eingesetzt werden, könnten sie die Grundbedingungen für solches Handeln vernichten, weil die Personen gar keine Möglichkeiten mehr haben, den besten Weg zu suchen, Entscheidungen zu fällen und auch mal von der Hauptaufgabe abzuweichen, weil dem Kollegen der Schreibtisch überquillt oder man jemandem Auskunft gibt, der sich nicht auskennt.
All das ist immer weniger möglich, wenn Systeme überwachen, ob man am Arbeitsplatz ist und tut, was man tun soll. Wenn auch noch ein Warnsignal ertönt, wenn man die Zeitvorgabe überschritten hat, Aufmerksamkeit und Blickrichtung registriert werden, ist das eine Katastrophe. Wir brauchen intelligente Systeme, die tatsächlich mit den Menschen interagieren und ihnen mehr Möglichkeiten geben, statt sie einzuschränken.
Bringt die Digitalisierung uns dem Traum näher, immer weniger arbeiten zu müssen?
Vielleicht sehen wir jetzt deutlicher als je zuvor, dass Arbeit nichts Übles ist, das man dem Schöngeistigen entgegensetzen müsste. Arbeit ist für Menschen unglaublich wichtig – um Einkommen zu erwirtschaften, aber auch für die Teilhabe an der Gesellschaft und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Die neuen Technologien bieten uns Möglichkeiten, Arbeit neu zu gestalten, auf individuelle Fähigkeiten und Bedürfnisse einzugehen, von denen wir bisher nicht zu träumen gewagt haben. Diese Chancen sollten wir nutzen, um Arbeit menschengerecht zu gestalten und nicht nur immer kostengünstiger zu produzieren.
Prof. Dr. Günter Maier lehrt Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bielefeld und begleitet Firmen bei der Digitalisierung von Arbeitsprozessen. Er forscht u. a. zu Führungskompetenzen, organisatorischer Gerechtigkeit und Arbeit 4.0
Manuela Lenzen hat sich bei den Recherchen für diesen Text gewundert, wie viel in Fragen der Digitalisierung derzeit in ihrer Wahlheimat Ostwestfalen-Lippe passiert. Im Februar dieses Jahres erschien ihr Buch Künstliche Intelligenz (C. H. Beck)
Was ist Digitalisierung?
Digitalisierung bedeutet zunächst, etwas in ein computerlesbares Format – „Einsen und Nullen“ – zu verwandeln. So gesehen gehört schon der PC auf dem Schreibtisch dazu. In Bezug auf die Arbeitswelt meint Digitalisierung mehr: die Vernetzung von Produktions- und Verwaltungsprozessen, in die der Mensch immer seltener eingreifen muss, modulare Fabriksysteme, die sich nach Bedarf zusammensetzen lassen und sich selbst konfigurieren, und Assistenzsysteme, die uns durch Produktions- oder Reparaturprozesse leiten.
Zentral dafür ist der digitale Zwilling: Jedes Werkstück, jeder Auftrag, jeder Prozess bekommt eine Art digitales Abbild. Die Steuerung von Prozessen und die Bearbeitung von Objekten kann dann über diesen digitalen Zwilling erfolgen. Die Bielefelder Arbeitspsychologin Lisa Mlekus, Mitarbeiterin in dem Forschungsprojekt „Arbeit 4.0 – Lösungen für die Arbeitswelt der Zukunft“, demonstriert dies an einem etwa 1 x 1 Meter großen Fabrikmodell: Unter einem Schaltkreis brennt eine Kerze, ein Sensor schlägt Alarm, der Schaltkreis droht sich zu überhitzen. Auf ihrem Laptop hat Mlekus eine Skizze der Anlage. Eine E-Mail teilt ihr mit, dass etwas schiefläuft. Tun muss sie nichts: Die Anlage aktiviert selbst einen kleinen Ventilator, der die Kerze auspustet. Die Sensorwerte normalisieren sich.
Industrie 4.0
Industrie 1.0 steht für die erste industrielle Revolution mit der Einführung von Wasserkraft und Dampfmaschinen, Industrie 2.0 für die Massenproduktion an Fließbändern nach der Elektrifizierung und Industrie 3.0 für die beginnende Digitalisierung. Die vierte industrielle Revolution bringt zusätzlich die Vernetzung von Dingen und Produktionsschritten, Assistenzsysteme, die Menschen an ihren Arbeitsplätzen unterstützen, und in Ansätzen die künstliche Intelligenz mit ihren Möglichkeiten, große Mengen an Daten auszuwerten und Prozesse zu optimieren. Arbeit 1.0 bis 4.0 steht für die jeweils vorherrschende Arbeitsform.
„Industrie 4.0“ ist eher ein Aufruf als eine Beschreibung, die Schöpfung einer Arbeitsgruppe im Auftrag der Bundesregierung. Der Begriff soll helfen, die digitale Transformation der Industrieproduktion voranzutreiben, die für Deutschland als Industriestandort besonders wichtig ist, und die mittelständischen Unternehmen dabei mitzunehmen.
Quellen
Daniel Arnold u. a.: Monitor Digitalisierung am Arbeitsplatz. Aktuelle Ergebnisse einer Betriebs- und Beschäftigtenbefragung. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Berlin 2016
Andreas Boes u. a.: „Lean“ und „agil“ im Büro. Neue Organisationskonzepte in der digitalen Transformation und ihr Folgen für die Angestellten. Transcript: Bielefeld 2018
Günter Maier, Gregor Engels, Eckhard Steffen (Hrg.): Handbuch Gestaltung digitaler und vernetzter Arbeitswelten. Springer: Berlin, Heidelberg 2018
Gerd Zika u. a.: Arbeitsmarkteffekte der Digitalisierung bis 2035: Regionale Branchenstruktur spielt eine wichtige Rolle. In: IAB-Kurzbericht Nr. 9. 2018. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit: Nürnberg 2018