Antworten auf die wichtigsten Chat-Fragen zu psychischen Problemen bei Kindern

Nach Psychologie Heute live! beantwortet Michael Kölch offene Fragen zu ADHS, Depression, Essstörungen, Warnzeichen und Medikation.

Eine Jugendliche mit pinken Haaren sitzt im Schneidersitz und verschränkten Armen auf der Couch. Ihre Mutter sitzt neben ihr und hört ihr zu.
Wenn das eigene Kind psychisch erkrankt, sind Eltern oft ratlos. Zuhören und Unterstützung sind erste wichtige Schritte im Umgang damit. © Getty Images / Olga Rolenko

Wenn das eigene Kind psychisch belastet ist oder gar erkrankt, finden sich Eltern und Angehörige in einer Sorgenschleife wieder. Von Depression und Angststörungen über ADHS und Essstörungen bis hin zu selbstverletzendem Verhalten – bei Psychologie Heute live! hat Prof. Dr. Michael Kölch mit Chefredakteurin Dorothea Siegle über die häufigsten psychischen Erkrankungen von jungen Menschen gesprochen.

In der einstündigen Veranstaltung wurden viele Themen angesprochen, doch nicht alle Fragen der Zuschauerinnen und Zuschauer konnten beantwortet werden. An dieser Stelle haben wir daher die häufigsten Fragen für Sie zusammengefasst und den Kinder- und Jugendpsychiater und- psychotherapeuten Kölch um Antworten gebeten.

Leider können wir auf konkrete Fragen zu Krankheitsverläufen oder Medikation nicht eingehen, da eine Einschätzung aus der Ferne weder möglich noch seriös wäre. Unter dem Themenbereich „Medikamente“ trifft Kölch allgemeine Aussagen zu Medikamenten wie Methylphenidat (zur Behandlung von ADHS) und anderen Psychopharmaka.

Diagnose psychischer Störungen

Herr Prof. Dr. Kölch, gibt es bestimmte Altersstufen, in denen psychische Erkrankungen gehäuft bei Kindern diagnostiziert werden?

Es gibt Störungsbilder, die eher im Kleinkindalter auftreten, wie zum Beispiel Fütterstörungen, oder es zeigen sich die ersten Zeichen von Autismus. Diagnostiziert wird Autismus dann häufig leider erst später, im Alter von vier, fünf Jahren. Es gibt Auffälligkeiten, die mit dem Eintritt in die Schule zu Problemen führen, wie ADHS, oppositionelles Verhalten, Störungen des Sozialverhaltens oder auch Ängste.

Typisch mit dem Übergang in die Pubertät sind Essstörungen oder Depression, die dann klassischerweise erstmals auftreten. Tic-Störungen treten beispielsweise auch im Kindesalter gehäuft auf und dann nochmals im Jugendalter.

Es gibt immer wieder psychische Erkrankungen, die verstärkt diskutiert werden, wie aktuell ADHS im Erwachsenenalter. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer wollten wissen, ob Sie darin eine Gefahr sehen, wenn das Bewusstsein für bestimmte Krankheitsbilder stark von der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit bestimmt wird.

Das ist die alte Diskussion darüber, ob es „erfundene Diagnosen“ seien. ADHS ist eine Diagnose, die schon seit vielen Jahren besteht. Die Frage stellt sich vielmehr nach dem Umgang damit. Aus meiner Sicht findet keine Psychologisierung oder Psychiatrisierung der Gesellschaft statt. Nicht jeder, der unruhig ist, hat ADHS. Man muss in jedem Einzelfall prüfen, ob Diagnosekriterien zutreffen. Deshalb braucht es immer eine fachärztliche Einschätzung.

Einerseits wird gefordert, man müsse psychische Störungen entstigmatisieren. Wenn sie dann aber entstigmatisiert sind, kann man nicht umgekehrt sagen, dass wir jetzt zu viel über psychische Krankheiten sprechen. Dass man darüber sprechen kann, sehe ich eher als eine positive Entwicklung.

Das heißt, psychische Krankheiten finden im öffentlichen Diskurs vermehrt statt, weil sie enttabuisiert werden und nicht weil die Krankheiten oder die Diagnosen an sich zunehmen?

Genau. Es ist nicht so, als hätten sich sämtliche psychische Krankheiten verdoppelt und verdreifacht. Sondern wir sprechen jetzt über diese Phänomene. Früher waren Rückenschmerzen oder Probleme mit dem Bewegungsapparat der häufigste Frühberentungsgrund, heute sind es psychische Störungen. Damals waren das aber auch bereits psychische Störungen – die sich jedoch als Schmerzen ausgedrückt haben. Es war eine andere Diagnose aber die gleiche Erkrankung.

Eine Nachfrage aus dem Chat dazu lautete, ob manche Diagnosen zu schnell gestellt werden. Wäre es manchmal besser, abzuwarten?

Nein, die Zahlen deuten vielmehr darauf hin, dass wir zu langsam sind. Die meisten Diagnosen haben Zeitkriterien – eine einwöchige Traurigkeit ist noch keine Depression. Sämtliche Studien und auch die klinische Praxis zeigen, dass Patientinnen und Patienten eher zu spät Hilfe suchen. Kommt eine Patientin zu uns, besteht das Störungsbild oft schon ein halbes Jahr oder länger. Bei den fachlich gestellten Diagnosen kann man also nicht generell davon ausgehen, dass sie vorschnell gestellt werden.

Ambulante und stationäre Behandlung

Eine Teilnehmerin schilderte die Situation ihrer 14-jährigen Tochter, die an einer Schmerzstörung und sozialen Phobie leidet. Die Fortschritte in der Psychotherapie sind nur minimal. Ab wann ist ein Aufenthalt in einer Klinik sinnvoll?

In der Behandlung gilt zunächst: ambulant vor stationär. Es liegt aber auch in der Verantwortung der Therapeutin oder des Therapeuten, kontinuierlich zu prüfen, ob die Patientin eine intensivere Form von Therapie braucht. Es ist vollkommen richtig, das zu hinterfragen. Wenn das Mädchen drei Jahre lang eine ambulante Psychotherapie besucht, aber in dieser Zeit nicht zur Schule geht, dann wäre das falsch. Eine stationäre Behandlung wäre in diesem Fall sinnvoller.

Es gibt Patientinnen und Patienten, die eine Psychotherapie ablehnen – selbst bei einem hohen Leidensdruck. Zum Beispiel nehmen manche jungen Menschen mit Anorexie keine professionelle Hilfe an, obwohl sie bereits mehrmals zwangsernährt werden mussten. Im Chat wurde die Frage gestellt: „Wie gehen Sie mit ‚Psychotherapieverweigerern‘ um?“

Das Wort „Verweigerer“ klingt so, als wäre es den Patientinnen und Patienten bewusst. Doch bei psychischen Erkrankungen wie der Anorexie ist das im Störungsbild begründet. Insbesondere anorektische Patientinnen sind oft im Denken eingeengt auf das Gewicht oder ihre Gedanken kreisen um ihre Angst, zu dick zu sein. Das hat nichts damit zu tun, dass sie nicht gesund werden wollen. Die Krankheit ist die Ursache für dieses Verhalten und Denken.

Gerade bei Anorexie haben wir oft schwere Fälle, die trotz aller therapeutischen Bemühungen nur schlecht erreicht werden – und die nicht positiv verlaufen. Manche sterben leider immer noch an der Krankheit. Wenn über die Jahre hinweg alles an therapeutischen Mitteln ausgeschöpft ist, braucht es manchmal auch Behandlungspausen, in denen natürlich trotzdem das Leben gesichert werden muss, zum Beispiel in Form von künstlicher Ernährung. Durch die Entwicklung des Jugendlichen ergibt sich vielleicht später wieder eine Gelegenheit, bei der die Therapie gelingt.

Bei welchen Erkrankungen neben der Anorexie kann es noch schwierig sein, die jungen Patientinnen und Patienten zu erreichen?

Das ist immer der Fall, wenn es um Substanzmissbrauch geht. Da gehört es sogar dazu, dass man den Rückfall einplant – der ist auch gar nicht das Problem, sondern dass Betroffene danach nicht kontinuierlich weiter nach Hilfe suchen. Aber auch bei emotional instabilen Entwicklungs- oder Persönlichkeitsstörungen trifft das zu. Patientinnen und Patienten brechen manchmal eine Behandlung ab, daraufhin können akute Probleme entstehen wie Suizidalität.

Selbst bei schwereren Depressionen wird manchmal die Therapie abgebrochen. Betroffene ziehen sich dann oft zurück, gehen nicht mehr zur Schule oder zur Ausbildung.

Betroffene müssen oft lange auf einen Therapieplatz warten, viele wünschen sich niedrigschwellige Hilfe. Entsprechend lautete eine Frage im Chat: „Wären Heilpraktiker nicht auch eine gute Anlaufstelle, um Übergangsphasen zu überbrücken?“

Davon halte ich gar nichts. Für diese Form der Heilkunde gibt es keinerlei Evidenz oder Studien im Bereich psychischer Störungen. Aus der Wirkungsforschung wissen wir, dass die Beziehung zur Patientin oder zum Patienten ein wichtiger Bestandteil für den Erfolg einer Psychotherapie ist. Wenn sich also jemand gut mit der Heilpraktikerin oder dem Heilpraktiker versteht, dann könnte es sein, dass allein dieser Beziehungsaspekt den Betroffenen hilft. Aber allein aus fachlicher Sicht ist es nicht ratsam.

Einnahme von Medikamenten und Alternativen

Wir haben viele Fragen von Teilnehmenden zum Thema Arzneimittel erhalten. Ab welchem Alter werden Psychopharmaka oder bestimmte ADHS-Medikamente verschrieben? Und wie lange dürfen Kinder und Jugendliche sie höchstens einnehmen?

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird höchst sorgfältig mit Medikamenten umgegangen. Es gibt Medikamente, die sind erst ab einem gewissen Alter zugelassen. Es ist jedoch nicht verboten, sie bereits früher einzusetzen. Aber es ist die Ausnahme und eine individuelle Abwägung des Arztes, zum Beispiel wegen einer starken Symptomatik.

Arzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat, auch Psychostimulanzien genannt – zur Behandlung von ADHS – werden in der Regel erst ab dem Alter von sechs Jahren eingesetzt. Antidepressiva werden frühestens ab acht Jahren verschrieben. Die meisten Kinder erkranken meist erst mit zehn oder zwölf Jahren an einer Depression, weshalb Antidepressiva erst dann regelhaft eingesetzt werden.

Eltern brauchen keine Angst haben, wenn ihr Kind ein Medikament verschrieben bekommt, dass es dieses von nun an für immer einnehmen muss. Man sollte das Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt suchen und seine Bedenken äußern. Möchte eine Patientin oder ein Patient ein Arzneimittel nicht mehr einnehmen, wird nach einem Weg gesucht es abzusetzen. Es gibt aber durchaus Empfehlungen, gewisse Medikamente nicht vorschnell abzusetzen, da auch dabei manchmal Nebenwirkungen auftreten können.

Eine weitere häufige Sorge von Eltern ist, dass die Medikamente abhängig machen. Aber wenn sie fachgerecht eingesetzt werden, tun sie das nicht – weder Antidepressiva noch Methylphenidat. Bei Methylphenidat ist es häufig so, dass Jugendlichen im Alter von 13 oder 14 Jahren selbst Pausen wollen. Anders verhält es sich bei Antipsychotika, die zum Beispiel bei schizophrenen Störungen eingesetzt werden. Es besteht zwar ebenfalls keine Abhängigkeitsgefahr, aber Betroffene müssen Antipsychotika meist längerfristig einnehmen, weil die Erkrankung so schwer ist.

Welche Alternativen gibt es zur Medikation? Im Chat kam die Frage nach dem Einsatz von pflanzlichen Arzneimitteln wie Johanniskraut auf.

Johanniskraut hat auch Nebenwirkungen. Es klingt recht harmlos, aber es kann Hautausschläge verursachen oder zu unerwünschten Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten führen. Es gibt keinen Wirkbeleg für den Einsatz von Phytopharmaka, wie Johanniskraut, bei Jugendlichen.

In Deutschland wird eine Medikation mit Psychopharmaka normalerweise begleitend zur Psychotherapie, psychosozialen oder kinderpsychiatrischen Behandlung eingesetzt. Medikation alleine ist meistens gar nicht Mittel der Wahl, sie geht fast immer Hand in Hand mit einer Therapie.

Essstörungen, Angststörungen und Depressionen

Es gibt Störungsbilder, die nicht alleine auftreten. Häufig haben Menschen mit einer Essstörung auch eine Depression oder werden von Ängsten geplagt. Handelt es sich dabei um eine Kombination von Erkrankungen?

Eine psychische Störung tritt oft nicht alleine auf. Wenn Betroffene mit einer Angststörung nicht mehr das Haus verlassen, keine positive Verstärkung mehr haben, kann sich zusätzlich eine Depression entwickeln. Umgekehrt haben auch Depressive gewisse Ängste. Genauso treten bei Essstörungen gewisse Ängste auf. Die Angst vor dem Essen oder soziale Ängste kommen sehr häufig vor. Das ist eine überaus häufige Komorbidität (Anm. der Redaktion: Eine Komorbidität ist eine Begleiterkrankung, die zusätzlich zu einer Grunderkrankung auftritt.)

Eine rundum glückliche Patientin mit Anorexie, die selbstsicher und glücklich ist und keine depressiven Anteile hat, sieht man relativ selten. Natürlich machen der Nahrungsverzicht und die ständige Beschäftigung mit dem Körper auch etwas mit der Stimmung. Umgekehrt kann auch eine Depression zu einer Essstörung führen, weil beispielsweise der Appetit fehlt.

Ähnliche oder gar identische Symptome machen es manchmal schwer, im Ausschlussverfahren gewisse psychische Erkrankungen von anderen zu unterscheiden. Letztendlich behandelt man aber nicht eine Störung an sich, sondern die psychischen Symptome der Störung. Deshalb gehört es auch bei einer Essstörung dazu, die depressiven Anteile zu behandeln.

Ein Teilnehmer fragte konkret nach: Sind Angststörungen bei Kindern heilbar?

Ja, Angststörungen sind relativ gut behandelbar. Das heißt jedoch nicht, dass sie später im Leben nicht erneut auftreten können.

Der Teilnehmer schilderte weiter, dass sein Kind autistisch ist und sich kaum Fremden mitteilt. Ist in dem Fall eine Psychotherapie wegen der Angststörung ratsam? Oder genügt es, innerhalb der Familie daran zu arbeiten?

Bei einem Kind, das keinen Autismus hat, wäre es im Gegenteil angsterhaltend, wenn nur in der Familie an den Ängsten gearbeitet wird. Kinder sind soziale Wesen und sollten irgendwann Kontakte außerhalb der Familie knüpfen. Im Kindergarten gehen sie erste Freundschaften ein, später in der Schule kommen weitere dazu. In der Pubertät sollten Jugendliche dann bereits sämtliche soziale Kompetenzen erworben haben. Deshalb ist das gerade eher ein Symptom, wenn das Kind nur allein in der Familie sein kann. Es wäre ein geeignetes Therapieziel, auch draußen selbstständiger zu werden und Ängste abzubauen.

Bei Kindern mit Autismus ist es etwas komplexer: Auch bei autistischen Kindern kann man soziale Kompetenzen und Kontakte fördern. Dennoch muss hier differenziert vorgegangen werden. Ich würde das im speziellen Fall mit der behandelnden Ärztin oder Therapeutin besprechen. Dennoch ist es das Ziel bei autistischen Kindern, ihnen eine größtmögliche Teilhabe zu ermöglichen, natürlich immer bezogen auf die individuellen Einschränkungen aufgrund der Störung.

Nicht jede Angst ist gleich eine Krankheit: Je nach Phase möchte das Kind womöglich nicht im eigenen Zimmer schlafen, nicht auf Schulausflüge mitfahren oder beim Schwimmunterricht nicht tauchen. Ab wann werden solche Ängste problematisch?

Es wäre falsch, ganz ohne Angst zu sein. Die Frage, die man sich stellen muss: Sind die Ängste überwältigend? Wir hatten bereits Familien in der Klinik, deren Kinder noch mit zwölf Jahren im Ehebett geschlafen haben. Was einem pathologischen Verhalten entspricht. Man sollte sich immer fragen, was für den jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes angemessen ist.

Ist im Verein oder der Schule etwas vorgefallen, weshalb das Kind eine gewisse Zeit etwas ängstlicher reagiert, ist das unbedenklich. Manchmal schleichen sich solche Verhaltensweisen aber in den Alltag ein, ohne dass es Eltern sofort bemerken. Sie sollten einen Schritt zurücktreten und sich fragen: „Ist es normal, dass wir gar nicht mehr weggehen dürfen, weil unser Kind die ganze Zeit weint?“ Bei einem Vierjährigen würde ich sagen, dass das alterstypisch ist. Wenn Eltern jedoch eine Zwölfjährige nicht für ein bis zwei Stunden alleine lassen können, dann würde ich mir Gedanken machen.

Kinder und Jugendliche mit ADHS

Das Thema ADHS hat ebenfalls viele der Teilnehmenden beschäftigt. Eine Frage lautete, ob sich ADHS „auswachsen“ kann und ob ADHS-Kinder auch ohne die Einnahme von Arzneimitteln Techniken erlernen, mit der Krankheit umzugehen?

Da gibt es ganz unterschiedliche Verläufe. Manche Kinder können sich mithilfe von Medikation und Psychotherapie hilfreiche Kompetenzen aneignen und einsetzen. Es gibt aber ADHS-Betroffene, die langfristig Probleme haben und weiterhin Unterstützung brauchen.

Als ich vor vielen Jahren in meinen Beruf gestartet bin, wurde noch gesagt, dass ADHS mit der Pubertät endet. Heute weiß man, dass manche Betroffene auch darüber hinaus weiterhin beeinträchtigt sind. Deshalb gibt es ja auch im Erwachsenenalter die Diagnose ADHS. Die ist zwar medikamentös behandelbar, trotzdem ist es sinnvoll, mit den Patientinnen und Patienten zu erarbeiten, wie sie besser mit der eigenen Erkrankung umgehen können.

Woran liegt es, wenn ADHS erst im Erwachsenenalter festgestellt wird? Eine Frage im Chat lautete, ob die Diagnose derzeit „inflationär“ genutzt werde?

Wissenschaft verändert sich immer. Autismus im Erwachsenenalter ist ebenfalls lange nicht diagnostiziert und behandelt worden, obwohl es diese Störung natürlich gibt. Einige Patienten, die erst im Erwachsenenalter diagnostiziert werden, hatten vielleicht im Kindesalter gewisse Kompensationsstrategien, so dass es nicht zu Problemen kam. Es kann aber auch sein, dass zum Beispiel immer Probleme bestanden haben, aber Betroffene keine entsprechende Behandlung erhalten haben. Auch im Erwachsenenalter muss man kritisch hinsehen. Ist es ADHS oder eine andere Störung? Mittlerweile gibt es Kolleginnen und Kollegen, die auf ADHS bei Erwachsenen spezialisiert sind.

Ich würde mir nur dann Sorgen machen, wenn die Zahlen exorbitant in die Höhe gehen. Meine Kolleginnen, Kollegen und ich haben beispielsweise geprüft, wie oft Methylphenidat Kindern und Jugendlichen verschrieben wird. Daran haben wir gesehen, dass die Verschreibung des Medikaments in Deutschland deutlich unter dem erwarteten Wert der ADHS-Diagnosen liegt. Irgendwann ist ein Sättigungsgrad an Diagnosen erreicht, dann nimmt auch die Zahl dieser nicht mehr zu.

Wie bei anderen Störungsbildern gibt es auch bei ADHS Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Welche sind das?

Mädchen sind in der Regel weniger impulsiv als Jungs. Sie haben dafür oft stärkere Konzentrationsprobleme, während bei Jungs Impulsivität und Hyperaktivität häufig stärker ausgeprägt sind.

Hier können Sie die vorherige Psychologie Heute live!-Veranstaltung noch einmal ansehen:

Tipps für Eltern psychisch kranker Kinder

Ein stabiler Selbstwert kann das Risiko für eine psychische Erkrankung bei Kindern senken. Was können Eltern und Angehörige für ein stabiles Selbstwertgefühl ihres Kindes tun?

Sie können dem Kind eine optimistische Grundhaltung vermitteln. Wenn ich sage „Du schaffst das eh nicht“, dann wird es wahrscheinlich dazu führen, dass das Kind ein niedriges Selbstwertgefühl entwickelt. Besser wäre es zu sagen: „Das probieren wir.“ Niemand hat die Garantie, dass etwas gelingt. Es ist wichtig, dass Eltern damit rechnen, dass ihr Kind mal etwas nicht hinbekommt, es aber nicht als Katastrophe darstellen.

Selbst wenn etwas nicht gelungen ist, kann ich als Elternteil Mut zusprechen: „Vielleicht klappt es beim nächsten Mal.“ Oder: „Ist nicht so schlimm, dass es dieses Mal nicht funktioniert hat.“ Eltern sollten ihre Kinder unterstützen – ihnen aber auch nicht alles aus der Hand nehmen. Wenn ein Kind nie selbst etwas schafft, kann es auch kein gutes Selbstwertgefühl entwickeln. Nicht das Scheitern an einer Aufgabe macht das Selbstwertgefühl kaputt, sondern das Verhindern, dass das Kind überhaupt Selbstwertgefühl entwickeln kann.

Wo genau liegt der Unterschied zwischen Behütung und Überbehütung?

Von Überbehütung spricht man dann, wenn ich eine altersadäquate Entwicklung verhindere. Was mir wichtig ist zu ergänzen: Das machen Eltern nicht aus bösem Willen heraus. Überbehütung bedeutet, Eltern kontrollieren gewisse Dinge, die die Kinder eigentlich selbst können sollten. Das heißt nicht, dass ich als Elternteil nicht noch einmal einen Blick darauf werfen kann. Ich sollte es den Kindern aber nicht völlig abnehmen, eine gewisse Erfahrung zu machen. Sie brauchen eine freie Sozialisation, die auch ohne Eltern stattfindet. Wenn Eltern das nicht ermöglichen, handelt es sich um Überbehütung.

Zum Beispiel sollten Kinder lernen: Wie teile ich mein Geld selbst ein? Für was gebe ich mein Taschengeld aus? Wenn sich ein 16-Jähriger lieber das Videospiel kauft, kann er leider nicht mehr mit seinen Freunden ins Kino gehen. Nur so lernen Töchter und Söhne, dass sich das Geld nicht von alleine verdoppelt. Dieses Wissen brauchen sie später auch.

Das heißt, eine Überbehütung kann im Umkehrschluss kontraproduktiv für den Selbstwert des Kindes sein?

Irgendwann wird sich das Kind die Frage stellen: Was kann ich eigentlich? Und es wird ihm auffallen, wenn es von anderer Seite damit konfrontiert wird, sei es in der Schule oder von anderen Peers.

Es ist vergleichbar mit der Pflege von älteren Menschen. Es hat sich durchgesetzt, möglichst viele Kompetenzen zu erhalten – und ihnen nicht alles abzunehmen. Das lässt sich auch auf Kinder und Jugendliche übertragen, sie müssen diese Selbstpflegekompetenzen entwickeln. Das dauert manchmal länger und kann unpraktisch sein. Aber dafür kann es das Kind anschließend. Wenn ich ihm bis zum zehnten Lebensjahr die Schnürsenkel zubinde, dann geht es vielleicht schneller. Aber lernt es das Kind dann mit elf Jahren? Vermutlich nicht.

Was können Eltern tun, die sich Sorgen um ihr Kind machen, aber nicht über deren Kopf hinweg entscheiden wollen? Eine Teilnehmerin berichtete von ihrer 13-jährigen Tochter, die eine Beratung bei der Schulpsychologin und Jugendsozialarbeiterin ablehnt und auch nicht möchte, dass sich die Mutter dort Rat holt.

Ein wichtiger Ausspruch lautet: „Kindeswille ist nicht immer Kindeswohl.“ Der Kindeswille ist zwar ein wichtiges Kriterium, aber wir sind alle dem Kindeswohl verpflichtet – auch Eltern. Der Sprössling kann der Mutter oder dem Vater nicht vorschreiben, ob sie sich Beratung holen.

Gewisse Dinge kann ein Kind noch gar nicht einschätzen oder entscheiden. Eine Jugendliche, die Angst hat, ihr Zimmer zu verlassen, wird natürlich kein Interesse daran haben, dass sich die Mutter informiert, wie sie ihre Tochter dazu bewegt. Das ist krankheitsbedingtes Verhalten. Es ist vollkommen richtig, wenn sich die Mutter informiert, wie ihr Kind selbst Beratung annehmen kann und welche Möglichkeiten es gibt.

Wie sähe die Situation aus, wenn das Kind bereits volljährig ist? Im Chat wurde der Fall eines jungen Erwachsenen geschildert, der gerne einen Termin bei der Psychotherapie machen möchte, es aber selbst nicht schafft. Können und sollten die Eltern ihm das abnehmen?

Sobald der Sohn volljährig ist, ist ein Eingriff in das Freiheitsrecht nur möglich, wenn er sich akut selbstgefährdet. Wenn der Anruf aber im Konsens geschieht, weil dem Sohn die Kraft fehlt, dann spricht nichts dagegen. Hingehen muss der junge Erwachsene aber selbst.

Ein häufiges Problem bei schweren psychischen Erkrankungen ist, dass die jungen Erwachsenen keine Behandlung mehr wollen, aber noch bei den Eltern leben. Die Eltern sind verzweifelt. Rechtlich haben sie aber wenig Handhabe, das erwachsene Kind zur Behandlung zu bewegen.

Warnzeichen für psychische Erkrankungen

Welche Warnzeichen gibt es, die man als Angehöriger oder als Fachkraft im Umgang mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen kennen sollte?

Altersuntypisches Verhalten ist immer ein Warnzeichen, das gilt für alle Altersstufen. Wenn eine Dreijährige keinen Kontakt aufnimmt oder keinerlei Freude zeigt, oder ein Achtjähriger keine Lust am Spielen hat oder so hibbelig ist, dass ständig Dinge kaputtgehen – dann sind das Alarmsignale. Natürlich muss man dafür wissen, was alterstypisch ist – das ist gerade für junge Eltern schwerer einzuschätzen.

Ein zweites Warnzeichen ist, wenn ich merke, dass sich etwas stark verändert. Zum Beispiel plötzlich schlechte Noten in der Schule, sozialer Rückzug, ein verändertes Verhalten gegenüber der Familie oder anderen Personen, die eigentlich geschätzt werden, Änderungen im Schlaf-Wach-Rhythmus, Konsum gewisser Substanzen, die den Alltag bestimmen. Das sind typische Indikatoren.

Wie sieht es mit körperlichen Symptomen aus? Das Kind hat plötzlich immer wieder starke Kopfschmerzen oder regelmäßig Bauchweh. Können auch das Alarmsignale sein?

Ja, somatoforme Symptome sind ebenfalls Anzeichen, die darauf hindeuten, dass etwas nicht stimmt. Damit sind körperliche Beschwerden gemeint, die nicht von einer organischen Krankheit verursacht werden. Wenn das Kind plötzlich starke Kopfschmerzen hat, sollten Eltern genauer hinsehen und abklären, ob es sich vielleicht um Migräne handelt.

Oder hat das Kind immer wieder Bauchschmerzen, die dazu führen, dass das Kind nicht mehr in die Schule oder in den Sportverein geht. Verlängerte Krankheitsphasen, immer wieder Krankschreibungen, immer mehr Schulversäumnisse und in der Folge gar Angst vor der Schule – das sind ebenfalls typische Warnzeichen.

Gibt es etwas, was die Familie tun kann, um beispielsweise einer Depression des Kindes vorzubeugen oder frühzeitig entgegenzuwirken?

Zunächst ist der Blick auf Risikofaktoren wichtig. Chronischer Stress oder ständige negative Erfahrungen erhöhen das Risiko, an einer Depression zu erkranken. Wertschätzung und Unterstützung sind wichtig für Kinder.

Dazu gehört auch, was wir unseren Kindern vorleben. Wenn ich als Elternteil immer wieder betone, dass etwas gefährlich sein könnte, dann entwickelt wahrscheinlich auch mein Kind gewisse Ängste. Eltern sollten selbst eine positive Grundeinstellung haben, das Kind ermutigen und ihm positive Erlebnisse vermitteln. Das ist die beste Prophylaxe für psychische Erkrankungen.

Fachkräfte im Umgang mit psychisch kranken Kindern

Bei Psychologie Heute live! haben einige Lehrkräfte, Erzieherinnen, Sozialpädagogen und Sozialarbeiterinnen teilgenommen, die beruflich Kontakt mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen haben. Viele Fachkräfte haben sich Tipps gewünscht, wie sie am besten mit betroffenen jungen Menschen umgehen können.

Das ist nicht so leicht zu beantworten, da es ein sehr weites Feld ist. Was wichtig ist: Fachkräfte sollten sich über die Störungsbilder informieren und darüber, welche Probleme psychisch kranke Kinder und Jugendliche haben. Wenn ich mit einem Kind arbeite, das extrem impulsiv ist oder schweres ADHS hast, werde ich mit strengen Regeln nicht weiterkommen. Das führt automatisch zu neuen Konflikten. Nicht, weil das Kind die Regeln nicht befolgen will, sondern weil es das nicht kann.

Fachkräfte sollten auf die individuellen, durch die psychische Erkrankung bedingten Bedürfnisse des Kindes eingehen können. Pädagoginnen und Sozialarbeiter müssen die jeweilige Störung nicht behandeln können, aber – ähnlich wie Eltern – ein Verständnis für Symptome entwickeln und es in den pädagogischen Alltag integrieren.

Angenommen ein Lehrer bemerkt, dass sich einer seiner Schüler seit geraumer Zeit auffällig verhält, er hat den Eindruck, dass der Jugendliche ein psychisches Problem entwickeln könnte. Was kann er tun?

Hier gilt – wie bei Eltern auch: ansprechen. Der Lehrer sollte zuerst mit dem Schüler selbst reden. Gegebenenfalls kann der Lehrer auf vorhandene Strukturen zurückgreifen, wie Schulsozialarbeit oder Schulpsychologie. Und im nächsten Schritt sollte er seine Sorgen im Gespräch mit den Eltern thematisieren.

Kinder und Jugendliche können nicht nur durch eine eigene psychische Erkrankung belastet sein, sondern auch dadurch, dass ihre Eltern erkrankt sind. Eine Teilnehmerin des Live-Talks hat beruflich viel mit diesen Kindern zu tun, die häufig parentifiziert sind. Parentifizierung meint ein Ungleichgewicht in der Beziehung, wodurch das Kind übermäßig viel Verantwortung für seine Eltern übernimmt. Welche Möglichkeiten sehen Sie, diese Kinder in ihrer Familie zu entlasten?

Es gibt viele Angebote für Kinder psychisch kranker Eltern unter anderem das Nationale Zentrum Frühe Hilfen, Träger ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Man sollte sich auch lokal nach Hilfsangeboten umsehen und gegebenenfalls bei der Jugendhilfe erkundigen. Die Mitarbeitenden haben oft eine Übersicht darüber, was in der Region für betroffene Kinder angeboten wird.

Die Kinder sollten auf jeden Fall altersgerecht darüber aufgeklärt werden, dass die Eltern eine psychische Erkrankung haben und dass es nichts mit ihrem Verhalten zu tun hat – das sollte immer wieder wiederholt werden. Kinder denken oft, dass sie daran schuld sind, dass Mama depressiv ist und sich nicht über die gute Note freuen kann.

Im nächsten Schritt sollten Räume und Entwicklungschancen für diese Kinder geschaffen werden. Wenn die Eltern das nicht können, ist es wichtig, dass sich Menschen außerhalb der Familie darum kümmern. Dazu gehört zum Beispiel, dass das Kind trotzdem in den Fußballverein gehen oder Freunde besuchen kann und nicht nur zu Hause sitzt und sich Sorgen macht: Geht es Mama gut? Trinkt Papa schon wieder? Was man meistens bei Parentifizierung beobachten kann, ist, dass sich die Kinder um die Eltern kümmern. Entwicklungspsychologisch ist das aber häufig eine Überforderung für die Kinder.

Epigenetik

Zur Epigenetik kam im Chat die Frage, ob mittlerweile herausgefunden wurde, welches Gen für eine Depression verantwortlich ist?

Nein, und es wird wohl auch nie so sein, dass dafür ein einzelnes Gen verantwortlich ist. Es ist ein hochkomplexes Zusammenspiel von verschiedenen neurobiologischen und genetischen Grundlagen, Entwicklung und äußeren Einflüssen – lebenslang.

Ernährung und psychische Erkrankung

Die Zuschauerinnen und Zuschauer stellten einige Fragen zur Ernährung. Wie wirkt sie sich auf psychische Störungen aus – sowohl bei der Entstehung als auch im Krankheitsverlauf?

Es gibt einen Forschungsbereich, der die Darm-Gehirn-Achse untersucht, aber der steckt noch in den Kinderschuhen. Es gibt Vermutungen, dass etwas in der Darmflora mancher Menschen zu chronischen Entzündungen führt und die Entwicklung einer psychischen Erkrankung begünstigen könnte. Aber das muss alles noch erforscht werden.

Eine gesunde und ausgewogene Ernährung ist generell immer von Vorteil. Im Live-Talk habe ich angesprochen, dass sich ärmere Menschen oft ungesünder ernähren. Aber deshalb wird nicht unbedingt eine Depression entstehen. Andrerseits ist es zum Beispiel wichtig, wieder Spaß am Essen zu haben oder Selbstfürsorge zu treiben. Wenn Betroffene gerne Schokolade essen und das Gefühl haben, sie gönnen sich etwas, wenn sie ein Stück essen, lässt sich so etwas auch als Verstärker in der Behandlung einbauen.

Aber zu sagen: Nur wenn ich mich richtig ernähre, bleibe ich auch psychisch stabil, das wäre zu kurz gegriffen.

Hilfsangebot für Eltern und betroffene Kinder

Wie können Eltern schnellstmöglich Hilfe für ihr Kind erhalten? Was wäre zu tun, wenn es um Leben und Tod geht?

Regionale Erziehungsberatungsstelle oder Familienberatungsstellen sind geeignete erste Ansprechpartner. Sie können gegebenenfalls auch weitervermitteln. Viele Psychotherapeutinnen sowie Kinder- und Jugendpsychiater bieten auch offene Sprechstunden an. Zudem gibt es je nach Region unterschiedliche Angebote der Jugendarbeit.

Wenn es allerdings um Leben und Tod geht, sollten Eltern ihr Kind umgehend zu der für sie zuständigen Klinik bringen. Kinder- oder Hausärzte wissen, welche das ist. Dort kann dann geklärt werden, ob es eine Notfallbehandlung braucht. Eine Einweisung können der behandelnde Hausarzt oder die Kinder- und Jugend-Psychiaterin vornehmen. Eltern können auch den Rettungsdienst rufen unter 112. Manchmal muss zusätzlich die Polizei hinzugezogen werden (110).

Welche Informationsangebote oder Websites können Sie für Eltern und Fachkräfte empfehlen?

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