Der 11-Jährige aus dem Bekanntenkreis, der sich plötzlich unzählige Male am Tag die Hände wäscht und kaum noch das Haus verlässt. Die 16-jährige Nachbarin, die sich in die Arme schneidet und die Welt als düsteren, bedrohlichen Ort empfindet. Der 14-Jährige aus der Verwandtschaft, dessen Unruhe so stark geworden ist, dass er kaum noch zur Schule geht und regelmäßig kifft.
Fast jeder kennt im Augenblick solche oder ähnliche Geschichten von Kindern und Jugendlichen, ob im entfernten sozialen Umfeld oder ganz…
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sozialen Umfeld oder ganz nah in der eigenen Familie. Kein Wunder, dass immer häufiger die Frage laut wird, wie es kommt, dass Kinder so belastet sind. Und was wir tun können, um sie zu unterstützen.
Natürlich hat die zunehmende seelische Not der Jüngeren auch mit der Coronapandemie zu tun. Die Belastung durch monatelanges Homeschooling und die Trennung von Freunden war enorm. So zeigt etwa die COPSY-Studie der Gesundheitswissenschaftlerin Ulrike Ravens-Sieberer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, dass während der Zeit der Corona-Schutzmaßnahmen die Zahl der Heranwachsenden mit psychischen Problemen von 18 Prozent auf 31 Prozent angewachsen ist. „Kinder und Jugendliche sind in einer sensiblen Lebensphase, meistern ständig neue Übergänge und Entwicklungsschritte. Damit das gelingt, brauchen sie stabile Rahmenbedingungen“, sagt Professor Julian Schmitz, Leiter der psychotherapeutischen Hochschulambulanz an der Universität Leipzig.
Wichtig sind laut Schmitz eine liebevolle familiäre Unterstützung, ein Netz von Freundinnen und Freunden sowie ein stabiles Bildungsumfeld. Wenigstens zwei von drei stärkenden Säulen brachen in der Pandemie weg – psychische Erkrankungen nahmen zu. „Dazu kam noch, dass ein ohnehin überlastetes Hilfesystem komplett an seine Grenzen gekommen ist“, sagt Schmitz. Er fordert eine Verbesserung des Systems, setzt sich auf Twitter und in berufspolitischen Gremien dafür ein (siehe Kasten unten).
Auch schon vor Corona: Einzelne Diagnosen nehmen zu
Doch viele Kinder waren schon vor der Pandemie seelisch belastet. Bereits vor über zehn Jahren schrieb Dietrich Reinhardt, Professor für Kinderheilkunde an der LMU München, von einer spürbaren Veränderung der Häufigkeit von Erkrankungen, mit denen Kinder vorstellig wurden. Er sprach von „neuen Morbiditäten“ und bezeichnete damit eine Verschiebung „von akuten zu chronischen und von somatischen zu psychischen Störungen“.
Übergewicht und Asthma, Depression und Ängste sind heute alltägliche Themen in Kinderarztpraxen. Unter psychischen Erkrankungen leiden in der Gruppe der 3- bis 17-Jährigen heute etwa 15 Prozent. Einen deutlichen Anstieg innerhalb der letzten Jahre gab es bei der Diagnose ADHS, der Anteil ist von 6 Prozent auf 7,1 Prozent gestiegen. Über die Zunahme einzelner Diagnosen wird häufig berichtet.
Wie umfassend die psychische Krise der Kinder ist, wird gesamtgesellschaftlich erst jetzt deutlich. „Viele Kolleginnen und Kollegen sprechen davon, dass die Pandemie das Brennglas gewesen ist, unter dem sichtbar wurde, welche Schwierigkeiten Kinder und Jugendliche heute haben“, sagt Professorin Tanja Legenbauer, Psychotherapeutin von der Uniklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum. So habe man deutlich wie noch nie gesehen, dass prekäre sozioökonomische Verhältnisse die seelische Gesundheit beeinträchtigen. Denn Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien haben nicht nur stärker unter den Folgen der Coronamaßnahmen gelitten, sie haben generell ein höheres Risiko, psychische Erkrankungen zu entwickeln.
Auch die erwähnten Engpässe in der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie sind für Praktikerinnen wie Tanja Legenbauer schon lange Alltag. Dort häufen sich die Anfragen besorgter Eltern und betroffener Kinder und Jugendlicher. Zur der hohen seelischen Belastung tragen verschiedene Faktoren bei.
Wartezeit aktiv gestalten
Die Zunahme von Diagnosen wie Depression oder ADHS führt der Psychotherapeut Julian Schmitz zunächst auf einen veränderten Umgang mit psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung zurück: „Viele Eltern und auch Jugendliche wissen heute mehr und sind offener dafür, psychotherapeutische Hilfe anzunehmen.“ Diese Entwicklung begrüßt Schmitz als großen Fortschritt. Auch wenn man heute auf einen Psychotherapieplatz noch lange warten müsse, lohne es sich für viele Kinder und Jugendliche, frühzeitig diesen Weg zu gehen.
Den Eltern empfiehlt der Fachmann, die Wochen und manchmal Monate des In-der-Luft-Hängens aktiv zu gestalten, zusammen Zeit zu verbringen, zu sprechen. Doch der Psychotherapeut gibt diese Art Tipps letztlich ungern: Wenn eine seelische Erkrankung erst einmal da sei, wäre die erste Empfehlung, diese möglichst rasch und mit fachkundiger Hilfe zu behandeln. „Bei einem Beinbruch rät man Eltern ja auch nicht, auf eigene Faust einen Gips anzulegen“, sagt Schmitz.
Allein durch die Formel „Jedem Kind einen Therapieplatz“ wird man belasteten Kindern aber nicht gerecht. Es ist auch wichtig, eine generelle Haltung für Phasen zu finden, in denen Kinder ängstlich, unsicher oder bedrückt sind, so Julian Schmitz. Dazu gehört etwa, ein Gespür für deren Lebenswelt zu entwickeln. „Wir alle wissen, dass Klimakrise, Inflation und Krieg Realitäten sind, mit denen unsere Kinder aufwachsen.“
Sorgen der Kinder (ernst) nehmen
Auch wenn viele Heranwachsende hier sehr sicher leben – die Erderwärmung ängstigt viele. So benennen in der aktuellen Shell-Studie etwa 62 Prozent der Jugendlichen die Klimakrise als ihre größte Zukunftssorge. Und unter dem Schlagwort environmental grief findet man erste Studien, die nahelegen, dass Menschen, die sich um die bedrohte Natur sorgen, oft auch traurig und in hohem Maß angespannt sind.
Diese Emotionen könnten klinische Ausmaße annehmen, auch bei Kindern, erklärt die Psychologin Katharina van Bronswijk von Psychologists for Future in einem Aufsatz. Häufig nehmen Eltern diese Sorgen nicht ernst. Julian Schmitz hat beobachtet, dass sie ihre Kinder eher beschwichtigten mit Sätzen wie „Du brauchst keine Angst zu haben“ oder „Mach dir nicht solche Sorgen“. Dabei sei es wichtig, mit dem Nachwuchs über dessen Gefühle und Befürchtungen zu sprechen und diese ernst zu nehmen – egal um welches Thema es gehe. „Sorgen werden nicht größer, wenn man über sie redet, sie werden kleiner“, sagt Schmitz. Ein abwehrendes, abwiegelndes Verhalten kann Ängste und Stress dagegen verstärken.
Dass Stress generell psychische Erkrankungen begünstigt, wurde in zahlreichen Studien belegt – für alle Altersgruppen von 0 bis 99. Wer ständig angespannt ist, fühlt sich leicht bedroht, grübelt mehr, sieht eher die Schwierigkeit als die Möglichkeit. Etwas vereinfacht könnte man sagen: Je mehr äußere Stressoren bei einem Kind zusammenkommen, je weniger Ressourcen und Ausgleich es hat, desto höher wird das Risiko für die Seele.
Professorin Tanja Legenbauer hat das häufig bei Patientinnen mit Essstörungen beobachtet: Als Expertin für das Thema sieht sie häufig junge Frauen, die sich etwas zu sehr um Körpermaße und Gewicht sorgen, ihr Essverhalten rigide kontrollieren. Doch wenn aus einer Essmacke eine Essstörung wird, spielen oft auch äußere Belastungsfaktoren eine Rolle. Das kann die Coronapandemie sein, aber auch familiärer oder schulischer Druck sind oft ein Auslöser.
Burnout-Kids?
Aber erleben Kinder heute wirklich mehr Stress als frühere Generationen? Tanja Legenbauer bejaht das. „Durch die verkürzte Zeit bis zum Abitur in zwölf Schuljahren hat sich der Druck massiv erhöht“, sagt sie. Glücklicherweise hätten viele Bundesländer diese Regelung wieder zurückgenommen. Außerdem beobachtet die Therapeutin, dass die Kinder heute extrem verplant sind, viele gingen bereits in der Kita regelmäßig in diverse Sport- und Fördergruppen. „Dazu kommt, dass es nicht nur in der Schule, sondern auch in Sport und Freizeit viel um Leistung und Konkurrenz geht“, sagt Legenbauer. Ob im Fußballverein oder in der musikalischen Frühförderung. „Einfaches, zweckfreies, entspanntes Spiel ist selten geworden.“
Zum einen weil sich Spielräume für die junge Generation deutlich dezimiert haben, seien es Garagenhöfe oder Waldstücke. Zum anderen weil Termine oft den kompletten Alltag der Eltern bestimmen und dies auch die Lebenswelt der Kinder prägt. Vor wenigen Jahrzehnten ist das laut Legenbauer noch anders gewesen. Dass sich in Sachen Stress viel verändert hat, beschreibt der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort schon seit Jahren. In seinem Buch Burnout-Kids von 2015 schildert er, dass in seiner Sprechstunde verstärkt 10- bis 18-Jährige vorstellig werden, die an einer Erschöpfungsdepression leiden – die an Burnoutsymptome von Erwachsenen erinnert.
Obwohl diese Entwicklung besorgniserregend ist – man kann Einfluss darauf nehmen. Tanja Legenbauer empfiehlt Eltern beispielsweise zu gucken, ob Kinder genug Freiräume haben und auch gelegentlich Langeweile erleben dürfen. Darüber hinaus könnten Eltern die Stimmung in der Familie auch selbstkritisch in den Blick nehmen und sich fragen, wie man den Alltag entzerren könnte, mehr gemeinsame Zeit verbringt, mehr Ruhe einkehren lässt. Wenn Vater und Mutter selbst sehr gehetzt sind, beim Abendbrot berufliche Telefonate führen und fortwährend Betriebsamkeit ausstrahlen, kann sich der Druck auf die Kinder übertragen.
Ein gutes Familienklima ist dagegen ein Schutzfaktor. Schuld an der Hektik sind die Eltern natürlich nur zu einem Teil: Eine flexibilisierte Arbeitswelt fordert von vielen von ihnen permanente Erreichbarkeit, andere leiden unter prekären Jobbedingungen. Umso wichtiger wird es, selbstverantwortlich zu schauen, wie man als Familie gemeinsam mehr pausieren und auftanken kann.
Der Weg zur Work-Care-Balance
Dass der Alltag heute selbst mit Kleinkindern schon extrem durchgeplant ist und alle Beteiligten zu wenig Zeit füreinander haben, beobachtet auch der Psychotherapeut Georg Milzner. In seinem Buch Die Renaturierung der Kindheit spricht er sich dafür aus, dass kleine Kinder wieder viel mehr Zeit mit ihren Eltern verbringen, auch ganze Lebensphasen lang den Alltag mit den Eltern teilen sollten. „Ich glaube, es wäre hilfreich, nicht nur Kinder zu haben, sondern mit Kindern zu leben“, sagt Milzner. Es geht ihm deshalb um die Frage, wie Väter und Mütter gemeinsam eine neue Work-Care-Balance aushandeln können, so dass Kleinkinder in den ersten drei Lebensjahren möglichst nicht in der Kita betreut werden.
Lesen Sie hier mehr zu „Die Krise der Kinder“:
Denn besonders die frühe Krippenbetreuung sieht der Hypnotherapeut kritisch. Zwar werde es als gesellschaftlicher Fortschritt gefeiert, dass wir Kinder heute viele Stunden am Tag abgeben können. Doch diese Entwicklung könne jungen Kindern schaden. Die vertrauensvolle Bindung an Mutter und Vater werde durch frühe stundenlange Trennung beeinträchtigt, die Risiken für seelische Erkrankungen nähmen zu.
Tatsächlich zeigen mehrere Studien, dass bei Kindern, die im Alter bis zu drei Jahren in Kitas betreut werden, ein chronisch erhöhter Kortisolspiegel messbar ist. Besonders wenn der Betreuungsschlüssel schlecht ist, scheinen das Gewusel in der Krippe und die Trennung von Mama und Papa bei den ganz Kleinen großen Stress auszulösen. Inwieweit durch eine frühe Fremdbetreuung jedoch psychische Erkrankungen oder Verhaltensstörungen entstehen, kann man bei der derzeitigen Studienlage schlicht nicht sagen.
Georg Milzner appelliert dennoch an Eltern, sich wieder bewusster zu machen, wie wichtig es für kleine Kinder ist, dass Mutter oder Vater verlässlich da ist, körperlich nah und emotional ansprechbar. „Bindung ist wichtiger als Bildung“, sagt er. Und diese Bindung brauche viel Zeit.
Raus aus dem digitalen Sog
Dass Milzner bei der frühen Fremdbetreuung besorgte Töne anschlägt, ist für ihn eher untypisch. In bisherigen Publikationen, in denen es um die Auswirkungen der Digitalisierung geht, argumentierte er deutlich entspannter. „Ich glaube, dass sich die gesellschaftliche Diskussion zu viel um die Gefahren der Mediennutzung dreht und zu wenig um die Bedeutung von Kontakt zu den engsten Bezugspersonen“, sagt er. Eine überraschende Aussage. Schließlich durchdringen digitale Angebote die Lebenswelt der Kinder in einem Ausmaß, das es vorher so nicht gegeben hat.
In ihrem Buch Risiko Kindheit beleuchtet die Neurobiologin Nicole Strüber ausführlich, wie die ständige Greifbarkeit von iPad, iPhone und Spielkonsole im Kinderzimmer die neuropsychologische Entwicklung von Kindern beeinflusst. Auch Strüber kommt aber zu dem Schluss, dass die Medien nicht das Hauptproblem sind. Eher sollten Eltern beobachten, wie sich durch diese der familiäre Kontakt verändert. „Die digitalen Medien üben einen äußerst effektiven Sog auf die Kinder aus, und wir, die wir als Erwachsene grundsätzlich zu viel um die Ohren haben, geben diesem Sog gerne einmal nach, um wenigstens zwischendurch ein paar Sachen erledigt zu bekommen“, schreibt Strüber.
Ein menschlicher Impuls. Doch gerade deshalb sei es wichtig, dass Eltern dafür sorgten, dass Kinder – besonders im Vorschul- und Grundschulalter – immer ausreichend frei und medienfrei spielen können, ausgiebige Erfahrungen mit der Welt und mit anderen Kindern machen. Abenteuer und Herausforderungen in digitalen Welten zu bestehen ersetzt laut Studien keinesfalls die Lernerfahrungen, die Kinder brauchen, um sich psychomotorisch und sozioemotional gut zu entwickeln.
Wenn Kinder und Jugendliche genug Zeit in der analogen Welt verbringen, schaden die dosierten Aufenthalte in der digitalen Welt in der Regel nicht. Je mehr Zeit Kinder vor Bildschirmen verbringen, desto wachsamer sollten Eltern werden. Allerdings durchleben einige Kinder zwischendurch Phasen, in denen sie viel zu viel vor Bildschirmen hocken – was sich nach einigen Monaten wieder ausbalanciert.
Denn Kinder haben auch selbst Ressourcen, um Schwierigkeiten zu überwinden und kritische Phasen zu meistern. Je älter sie werden, desto mehr sind nicht nur Mutter und Vater an der gesunden Entwicklung beteiligt. Auch die eigene Haltung, die Freunde und Freundinnen spielen eine immer größere Rolle. Bei Jugendlichen in seelischen Krisen ist es deshalb oft passend, erst einmal eine Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. „Hauptthema vieler Pubertierender ist ein Mangel an Eigenmotivation, sie finden nur schwer Ziele, für die sie sich begeistern und einsetzen“, sagt der Kinderpsychiater Thomas Hegemann, der als systemischer Supervisor Akteure aus dem Gesundheits- und Bildungswesen berät.
Die Welt mit den Augen der Kinder sehen
Seine Einschätzung stimmt mit Zahlen des Deutschen Schulbarometers der Robert-Bosch-Stiftung überein. Im Jahr 2022 geben dort 80 Prozent der befragten Lehrer an, mit Motivationsproblemen der Schüler zu tun zu haben. Auch hier hat die Pandemie Probleme verschärft, die vorher schon bestanden. Laut Thomas Hegemann brauchen unmotivierte Teenager oft gezielte Hilfestellung, aber nicht unbedingt Psychotherapie.
Eine Unterstützung ist zum Beispiel das Programm „ich schaff’s!“, das Jugendlichen hilft, eigene Visionen für ihre Zukunft oder Ziele fürs kommende Schuljahr zu entwickeln und umzusetzen. „Heute wissen viele Erwachsene, wie es gelingt, einen respektvollen Kontakt mit Fünfjährigen aufzubauen. Man begibt sich auf Augenhöhe, stellt einfache Fragen, macht Spielangebote. Aber was macht man, wenn wenig motivierte Teenager im Raum sind? Da gibt es Unsicherheiten“, so Hegemann. Jugendliche ernst zu nehmen, ihre Fähigkeiten und Stärken zu sehen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, auch über so schwierige Fragen wie Lebensziele, können Erwachsene trainieren. Denn auch Teenagerinnen und Teenagern hilft es, wenn man ihnen immer wieder interessiert und mit Zuversicht begegnet – selbst wenn sie noch so bockig daherkommen.
Bei allen Krisenmeldungen ist Hegemann der Meinung, dass man der Jugend viel zutrauen kann: „Wir haben in der Pandemie einige gesehen, die sehr gelitten haben. Es gibt aber auch viele Kinder und Jugendliche, die gut durch die Zeit gekommen sind.“ Eine schwarzseherische Idee einer verlorenen Generation, die wahlweise durch Pandemie oder Digitalisierung bedroht ist, sei unangebracht. Besser sei ein offener, ressourcenorientierter Blick auf Kinder. Dabei sei es wichtig, individuelle Lösungen zu finden, sich auf den Einfallsreichtum und ihre Energie zu verlassen.
Das findet auch Psychotherapeutin Tanja Legenbauer. „Es hilft, sich in die Lage des Kindes hineinzuversetzen, zu spüren, wie es sich fühlen mag“, sagt sie. „Dann bekommt man einen Eindruck, wo Überforderungen sind und wo man Kindern mehr zutrauen kann.“ Auch Julian Schmitz hält nicht viel von Pauschalisierungen. Ihm ist allerdings wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass viele, die jetzt jung sind, möglicherweise belasteter sind, als man auf den ersten Blick wahrnimmt.
Sein Fazit: „Wir sollten einen milden Umgang mit unseren Kindern finden.“ Eine Kurzformel, die für die Zeit nach der Pandemie passend ist – und vielleicht auch generell entlastend für Kinder, Jugendliche und Eltern wäre.
„Krise der Kinder und Jugendlichen“ bei Psychologie Heute live!
Sie wollen mehr darüber erfahren, warum Kinder und Jugendliche immer öfter psychisch erkranken und welchen Einfluss die Mediennutzung darauf hat? Bei der Online-Veranstaltung Psychologie Heute live! am Mittwoch, 30. November 2022, ab 19 Uhr sprechen Psychologin Dr. Anna Felnhofer und unsere Chefredakteurin Dorothea Siegle genau darüber.
Für das digitale Gespräch können sich alle Interessenten hier kostenlos anmelden.
Eine Lobby für Kinder
Fachleute der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer haben im Juni 2022 einen Appell verfasst, in dem sie eine Einschätzung geben, welche Veränderungen in der Versorgungsstruktur notwendig wären, damit Kinder und Jugendliche mehr als bisher geschützt und aufgefangen werden. Diese und einige andere benennt auch der Psychotherapeut Julian Schmitz in Interviews und Vorträgen:
Mehr Schulsozialarbeiter und -arbeiterinnen, die Kinder und Jugendliche mit psychischen Belastungen vor Ort sprechen und erkennen
Den Schlüssel der Schulpsychologen so erhöhen, dass auf 5000 Kinder eine Schulpsychologin kommt. In Ostdeutschland ist der Schlüssel deutlich niedriger
Kurzfristig mehr Zulassungen für Niederlassungen im Bereich Kinder- und Jugendpsychotherapie
Ausbau der gruppentherapeutischen Angebote für Kinder und Jugendliche
Vernetzung zwischen Schulen und den Einrichtungen im Gesundheitssystem
Ausbau universeller Präventionsstrukturen, zum Beispiel von Freizeitangeboten, besonders für Risikogruppen
Belange von Kindern, Jugendlichen und Familien in den Fokus rücken – im Sinne der gesamten Gesellschaft
Quellen:
Christian J. Bachmann u.a.: ADHS in Deutschland: Trends in Diagnose und medikamentöser Therapie. Bundesweite Auswertung von Krankenkassendaten der Jahre 2009–2014 zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Deutsches Ärzteblatt International. 114, 2017, 141-148, DOI: 10.3238/arztebl.2017.0141
Georg Milzner: Die Renaturierung der Kindheit. Für eine bindungsorientierte Betreuung kleiner Kinder. Tologo Verlag, Leipzig 2022
Felix Peter und Katharina van Bronswijk: Die Klimakrise als Krise der psychischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Pädiatrische Allergologie, 03/2021, 59 – 64
Ulrike Ravens-Sieberer u. a.: Impact of the COVID-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany. European Child and Adolescent Psychiatry. 31/ 6, 2022, 879- 889
Dietrich Reinhardt und Franz Petermann: Neue Morbiditäten in der Pädiatrie. Monatsschrift Kinderheilkunde, 158/1, 2010, 14-14, DOI:10.1007/s00112-009-2113-8
Robert Bosch Stiftung: Das Deutsche Schulbarometer: Aktuelle Herausforderungen der Schulen aus Sicht der Lehrkräfte. Ergebnisse einer Befragung von Lehrkräften allgemeinbildender und berufsbildender Schulen durchgeführt von forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH. Stuttgart 2022
Michael Schulte-Markwort: Burn-out Kids. Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert. Pattloch, München 2015
Nicole Strüber: Risiko Kindheit: Die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern. Klett-Cotta. Stuttgart 2020