Die 40-jährige Schulberaterin Sarita wuchs in einer kleinen Stadt in Indien auf, in einem Zuhause mit wenig Geld. So lange sie sich erinnern kann, war ihr Vater alkoholabhängig und schlug die Mutter jede Nacht. Schon als kleines Mädchen nahm sie es auf sich, die Wut des Vaters auf sich zu ziehen, um die Mutter zu schützen. Mit 16 Jahren nahm Sarita, die eigentlich anders heißt, ihren Mut zusammen und floh eines Nachts gemeinsam mit ihrer Mutter und den Geschwistern aus dem Elternhaus.
Sie versuchte, für…
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versuchte, für ihre Familie Geld zu verdienen, etwa indem sie die Kinder von Nachbarn beaufsichtigte. Jede kleine und große Entscheidung, die sie damals und auch noch viele Jahre später traf, fällte sie für das Wohlergehen ihrer Mutter und der Geschwister.
Ich lernte Sarita kennen, als sie Ende dreißig war, frisch geschieden nach einer emotional unterdrückenden Ehe. Sarita wollte eine Psychotherapie beginnen, unter anderem um sich selbst etwas Gutes zu tun, aber auch um den Ärger gegenüber ihrer Mutter aufzuarbeiten, genauso wie die verwirrend starke Trauer, die der Tod ihres Vaters in ihr ausgelöst hatte, sowie die unerträgliche Abscheu, die sie gegenüber sich selbst empfand. Ihre Behandlung begann sie mit folgenden Worten: „Ich möchte mich um mich selbst kümmern, aber ich weiß nicht wie.“
Kinder schultern das Gewicht der Familie
Wenn Kindern in zu jungen Jahren erwachsenenähnliche Rollen aufgebürdet werden und sie sich regelmäßig mit schwierigen finanziellen, rechtlichen, medizinischen oder emotionalen Herausforderungen auseinandersetzen müssen, von denen man nicht ernsthaft erwarten kann, dass Kinder sich damit beschäftigen, vor allem nicht dauerhaft, dann kann es sein, dass sie parentifiziert werden. Parentifizierung wird üblicherweise definiert als eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind. Es handelt sich aber eher um ein Ungleichgewicht in der Beziehung zwischen den Familienmitgliedern, so dass das Kind übermäßig viel Verantwortung für das Wohlergehen der Eltern übernimmt, wofür es aber nicht ausreichend entwickelt ist und daher kurz- und langfristig Schaden nimmt.
Die Kindheit ist eine sehr empfindliche Lebensphase. Unser Gefühl von Sicherheit hängt von den Menschen ab, die sich in dieser Zeit um uns kümmern, sowie von den Umständen, in denen wir groß werden. Wir wollen als Kinder unsere Eltern froh sehen und wollen, ja müssen wissen, dass es ihnen gutgeht. Kinder tun folglich alles, um die Ängste von Mutter oder Vater zu schmälern, was zunächst auch ihrer eigenen psychischen Stabilität zuträglich ist. Dabei wissen sie nicht um den Preis, den sie Jahre später bezahlen werden.
Die eigenen Eltern erschüttert zu sehen kann bei manchen Kindern dazu führen, dass sie Mediatorin spielen oder Therapeut, Beschützerin, Manager für die Gesundheit oder die rechtlichen Angelegenheiten der Familie. Die Grenzen sind fließend. Einmal ihrer Rolle als Kind entrückt, entwickeln die Kinder ein starkes Verantwortungsgefühl sowohl für ihre Eltern als auch für das Wohlergehen der gesamten Familie.
Wenn diese Menschen als Erwachsene ihre Kindheitserlebnisse beschreiben, dann sprechen sie von sich als Sekretärin oder Sekretär der Eltern, als unermüdlicher Roboterarm für die Bitten ihrer Eltern, als emotionale Jongleure, Bäumchen-wechsel-dich oder Chamäleon. Sie haben die Fähigkeit, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und sich darum zu kümmern oder sich den anderen anzupassen. Sie wissen, wann sie vermitteln müssen, wann therapieren und wann jemand Schutz braucht. Sie wissen, wann Zeit zu kämpfen oder zu verschwinden ist. Sie wollen keinen Grund dafür bieten, dass es den Eltern schlechtgeht. Sie glauben, das Gewicht all der Familienprobleme allein tragen zu müssen.
Die Familien hielten sich für normal
Solche Kinder werden extrem wachsam, als ob sie einen emotionalen Radar hätten, immer aufmerksam schwirrend, um die psychologische Arbeit von allen anderen zu verrichten, damit diese sie nicht tun müssen. Die Kinder können deren Schmerz so eindringlich wahrnehmen und sich so sehr darum sorgen, dass die Eltern nicht einmal danach fragen müssen. Parentifizierung wird das stabilisierende Element, durch das die Familie funktioniert.
Kulturelle Normen mögen die Nuancen definieren, in denen Parentifizierung erlebt wird oder sich äußert. In meinen Studien habe ich aber festgestellt, dass das Phänomen an sich über Kulturen, Länder und Lebensumstände hinweg auftaucht. Von Brasilien bis Deutschland, von Neuseeland bis Indien: Es ist unerheblich, wo wir uns befinden. Die Muster sind bemerkenswert gleich.
Hier wie dort: Zahlreiche Umstände können die Rollenumkehr in Gang setzen. Manche sind offenkundig. Vielleicht ist in einer Familie jemand gestorben, die Eltern haben sich scheiden lassen oder eine zehrende psychische oder körperliche Erkrankung belastet Mutter, Vater oder Geschwister, so dass eines der Kinder seine eigenen Bedürfnisse beiseiteschiebt und sich um die anderen kümmert. Auch strukturelle Probleme wie Armut, Migration oder Krieg können Auslöser sein. Die Kinder kooptieren dann die Erwachsenenrolle, um der Familie wortwörtlich das Überleben zu sichern.
In anderen Familien – solchen, in denen ich meine Forschung begonnen habe – scheint es gar keine sichtbaren Gründe zu geben. Das Elend dieser Familien wird von der Gesellschaft weggewischt und die Familien halten sich selbst für normal. Dabei können diese Elternhäuser erfüllt sein von täglichem Streit, von Gewalt zwischen Mutter und Vater, von nicht diagnostizierten oder ignorierten psychischen und körperlichen Erkrankungen – und doch bleiben die Familien unter dem Radar.
Gute finanzielle Verhältnisse, die Anwesenheit beider Eltern, Zugang zu Bildung und Kultur lassen sie als gutes, stabiles und gesundes Zuhause erscheinen. Die Familien selbst glauben ebenfalls nicht, dass irgendetwas falsch läuft, und suchen keine Hilfe. In Saritas Elternhaus verschmolzen gleich mehrere dieser Risikofaktoren.
Ständige Existenzangst - auch als Erwachsene
Parentifizierung wird dann davon gefestigt und verstärkt, dass die Kinder so viel für ihre Familien tun, aber niemand ihre Seelenqual wahrnimmt. Stattdessen werden ihre Bemühungen übersehen oder nicht wertgeschätzt und manchmal auch ausgenutzt. Die Familien verlassen sich darauf, dass die Kinder die zentralen Haltgeber im täglichen Miteinander werden. Doch das Gewicht der Familie zu tragen prägt die Kinder immens – bis ins Erwachsenenleben.
Junge Kinder haben noch nicht so fortgeschrittene kognitive Fähigkeiten. Wenn sie sich selbst stets in Situationen wiederfinden, die unglücklich oder beängstigend sind, dann beginnen sie zu glauben, dass es da einen Zusammenhang mit ihnen gibt. Die innere Welt wird zunehmend von Angst, unguten Vorahnungen und einer Art Beklemmung geprägt. Sie glauben, dass ihre Existenz für die Menschen, die sie am meisten lieben, eine Last ist – denn die Eltern sind unglücklich, obwohl sich die Kinder so sehr anstrengen. Dieses Gefühl von Last und Nutzlosigkeit verfolgt sie über Jahrzehnte.
Viele Männer und Frauen, mit denen ich gearbeitet habe, ringen mit einer Existenzangst und wollen die Bestätigung haben, dass sie es verdient haben, am Leben und glücklich zu sein. Mich hat die Aussage eines Patienten erschrocken, der sagte, er sei eine Verschwendung von Fleisch. Dieser Schmerz hat seine Wurzeln in der Kindheit, in dem wiederholten Gefühl, hilflos und wertlos zu sein, und darin, dass der eigene Schmerz für jene Menschen unsichtbar zu sein scheint, die sie am meisten lieben, denen sie am meisten vertrauen, die sie beschützen sollten. Die Eltern.
Die Kinder leben unter dem nicht enden wollenden Druck, die Ängste von allen abfangen zu müssen, und haben zugleich keine Wahl, als sich immer wieder um andere zu kümmern. Diese Fürsorge wird zu der grundlegenden Art und Weise, wie diese Kinder, auch als Erwachsene, durch die Welt gehen.
Kein Gespür für eigene Bedürfnisse
Wenn Kinder und Jugendliche über Jahre in dieser Erwachsenenrolle agieren, etabliert das ein Narrativ vom guten, umsorgenden und ewig hilfreichen Kind. Mit dieser Identität verzichten sie aber darauf, ihr eigenes Leben zu erfahren und zu erleben, wie es für sie angemessen wäre. Sei es, mit Freundinnen Zeit zu verbringen, mal Risiken einzugehen oder einfach das Gefühl von Leichtigkeit zu haben. All das, was normalerweise die Jugend ausmacht. Stattdessen schöpfen sie Selbstwert daraus, reifer zu sein und die bessere Pflegerin oder der bessere Pfleger.
Selbst für Freunde und Verwandte werden sie zum Kummerkasten, jeder und jede kommt mit seinen Problemen zu ihnen. Man nennt sie „alte Seelen“, vor allem weil sie ruhig und verantwortungsbewusst sind und komplexe emotionale oder logistische Probleme mit scheinbarer Leichtigkeit lösen können. Für andere fühlt es sich so an, als hätten jene Menschen selbst keine Probleme, weil sie so selbstbeherrscht wirken.
Parentifizierung hat aber noch eine andere Folge. Wem das geschehen ist, der lebt oft abgeschnitten von den eigenen Bedürfnissen und hat Schwierigkeiten, diese zu erkennen oder gar zu äußern. Es fällt den Betroffenen leichter, den Fokus auf andere zu legen. Sich um die eigenen Sorgen zu kümmern geht einher mit der Befürchtung, von anderen abgelehnt zu werden. Als würden alle Menschen um sie herum weglaufen, nur weil man sie um etwas bittet.
Das ist nicht verwunderlich, denn die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu äußern wurde im Elternhaus davon überschattet, was die Eltern benötigten und fühlten; oder sie wurden beantwortet mit Ärger, Ignoranz oder Strafe. Es war also besser, keine eigenen Bedürfnisse zu haben. So entstand nach und nach das Gefühl, nicht die gleiche Unterstützung zu verdienen wie andere und dass die eigene Stärke darin liege, von niemandem Hilfe zu benötigen.
Sarita sagte zum Beispiel mal zu mir: „Ich kann niemandem aufbürden, für mich da zu sein. Nur schon der Gedanke, dass sich jemand um mich kümmert, ist furchteinflößend.“ Es lässt sich erahnen, wie sich diese Denkweise auf jegliche Beziehung im späteren Leben auswirkt.
Hang zu fürsorglichen Berufen
Mit Anfang 30 wurde Sarita einmal krank. In dieser Zeit lebte ihre Mutter bei ihr. Anfangs versuchte Sarita noch, vor ihrer Mutter geheim zu halten, dass sie Fieber hatte, und ging ihren täglichen Routinen nach, während sie mit besonders viel Anstrengung die Fassade der gesunden Tochter aufrechterhielt. Schlussendlich wurde sie aber zu schwach und musste ihrer Mutter von dem Fieber erzählen.
In Saritas Familie gibt es einen bestimmten Trunk, den man zubereitet, wenn jemand Fieber hat. Der enthält Rosenwasser. Ihre Mutter bat Sarita also, zum Markt zu gehen und diese Zutat zu besorgen. Sarita wollte diesen Trunk unbedingt haben und doch antwortete sie mit einem entschlossenen Nein. In unserer Therapiesitzung fragte sie später: „Warum hat meine Mutter mich darum gebeten? Ich hätte das nie von ihr verlangt. Warum ist sie nicht selbst gegangen? Hätte sie nicht einfach losgehen können und das Rosenwasser kaufen?“ Mit dieser Frage brach sie weinend zusammen.
Für Außenstehende wirkt das wie eine bedeutungslose Interaktion: Warum fragt Sarita nicht einfach ihre Mutter, ob diese das Rosenwasser selbst besorgen könne? Aber eine solche logische Fragestellung würde die gesamte Innenwelt einer Person, die als Kind zur Erwachsenen gemacht wurde, verneinen. Die Mutter zu bitten, diese eine Zutat zu besorgen, war einfach unmöglich – und der Wunsch, dass die Mutter es aus eigenem Antrieb tun würde, das tiefste Begehren von Sarita. Dass sich jemand vollends um sie kümmert, ohne dass dafür Worte ausgetauscht werden müssen, ohne sich wie eine Belastung zu fühlen, das war ihr Wunsch. So wie sie es gemacht hätte und immer schon für ihre Mutter getan hatte.
Als Erwachsene kanalisieren Menschen wie Sarita ihre Fürsorge und ihr Können oft in Berufe, die diese Fertigkeiten verstärken. Sie werden Psychotherapeutinnen, Sozialarbeiter, setzen sich als Ökonominnen und Ökonomen oder Anwältinnen für das Wohlergehen und die Rechte anderer ein. Selten sind das ruhmreiche Positionen. Vielmehr verlangen die Berufe viel unsichtbare harte Arbeit, um das Wohlbefinden anderer zu sichern. Sie werden angetrieben von dem nagenden Empfinden, für die Welt verantwortlich zu sein. Gleichzeitig lässt eine gewisse Härte gegen sich selbst sie nicht zur Ruhe kommen. Sie fordern von sich, mehr zu tun, ohne die eigenen Grenzen zu beachten.
Sarita zum Beispiel fühlt mit jeder Person mit, die Hilfe benötigt, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Eine entfernte Freundin rief sie einmal an, weil sie sich – in einem neuen Land angekommen – hilflos und verängstigt fühlte. Das Telefon klingelte bei Sarita um 4 Uhr morgens. Sie nahm den Hörer ab. Ihre Freundin entschuldigte sich dafür, sie aufgeweckt zu haben. Sie habe nicht mitgedacht in dem Moment, aber sie bräuchte dringend eine Therapeutin. Und dann habe sie gedacht, warum zu jemandem gehen, wenn sie Sarita hat. Und tatsächlich: Sarita blieb so lange am Telefon, wie ihre Freundin sie brauchte.
Wenn Trauer und Zorn herausströmen
Auch Ehen oder romantische Partnerschaften bieten einen fruchtbaren Boden, um die Kindheitsmuster zu wiederholen. Wer als Kind in einer Elternrolle aufwuchs, kann in Partnerschaften komplett unsichtbar sein und sich selbst als eine Art geschmeidige Substanz anbieten, die der Partner oder die Partnerin formen und nutzen kann, wie sie oder er es wünscht. Die Betroffenen sind folglich empfänglich für missbräuchliche Beziehungen und Ehen mit Menschen, die narzisstische Tendenzen haben.
Sie sind unfähig, selbstschützenden Instinkten zu folgen, die sie warnen, wenn sich etwas nicht richtig anfühlt. Selbst wenn sie unglücklich sind, investieren sie noch mehr, um die Beziehung zu retten. Denn sie haben als Kind gelernt, dass Beziehungen geflickt werden müssen, egal was es kostet und wie viel Traurigkeit oder Gewalt ausgehalten werden muss. Ungesunde Partnerschaften können so ungesehen über Jahre hinweg fortbestehen.
Ein anderer bedeutsamer Moment, der die Elternrolle aus Kindertagen offenbart, ereignet sich, wenn die parentifizierten Kinder selbst Eltern werden. Es kann sein, dass sie, ohne es zu realisieren, das tiefe Bedürfnis danach, umsorgt zu werden, auf ihre Kinder richten. Sie verlassen sich auf deren Hilfe bei persönlichem, Beziehungs- oder organisatorischem Stress – so wie ihre Eltern sich auch einst auf sie verlassen haben. Ohne Aufarbeitung laufen sie Gefahr, das Erbe aus ihrer Kindheit an ihren eigenen Nachwuchs weiterzugeben, und fördern damit einen Kreislauf von emotionaler Vernachlässigung.
Für andere funktionieren zu wollen hat Grenzen, ob man sie wahrnimmt oder nicht. Es kommt immer der Moment, an dem der Damm bricht und Trauer, Zorn oder Erschöpfung herausströmen. Die Betroffenen neigen dann zu Wutausbrüchen, sei es unter Freundinnen und Freunden, am Arbeitsplatz, daheim mit den Kindern, Lebensgefährten oder den eigenen Eltern. Das Selbst, das bislang immer gegeben hat, hilfsbereit war, es schafft sich nun Raum. Körper und Geist fühlen sich müde an und zornig zugleich, scheinbar ohne Grund.
Ich sehe diese Ausraster als Akte der Rebellion von den Teilen des Selbst, die zu lange ignoriert wurden. Das kann sich dann so anhören: Wie konnte mir das passieren? Warum hat mich keiner vor der Gewalt, vor der Traurigkeit beschützt? Das war nicht richtig, ich war noch ein Kind!
Auf dem Weg zur Heilung von der Rollenumkehr
Diese Art der inneren Abrechnung kann der Moment sein, an dem es kippt – und die Betroffenen sich Hilfe suchen. Dabei gilt es, ein paar Dinge zu beachten. Nicht alles im Leben der Betroffenen dreht sich um diese Erfahrungen aus der Kindheit. Auch meint Parentifizierung nicht, dass alle betroffenen Kinder eine schlechte, missbrauchsbelastete oder traumatische Kindheit hatten. Sie können ihre Eltern durchaus als liebevoll erachten und als Menschen, die ihr Bestes für sie gegeben haben. Die gute Nachricht: Trotz all der möglichen Langzeitfolgen und der Übertragbarkeit über Generationen hinweg ist die frühere Rollenumkehr zwischen Eltern und Kindern reparabel.
Der erste Schritt zu einer Heilung ist, den Ärger, die Erschöpfung und Trauer auszudrücken. Das ist ein langwieriger Prozess. Irgendwann wird es möglich sein, dass die Betroffenen um ihre verlorene Kindheit trauern können und vielleicht Teile ihres Selbst besänftigen oder nachträglich nähren können. Tagebuch zu schreiben und andere auf sich selbst orientierte Aktivitäten sind hilfreich.
Aber ich finde es vor allem immens stützend, jemanden zu haben, der die eigenen Geschichten mit einem und für einen erträgt. Immerhin haben die Kinder diese für viele Jahre allein ausgehalten. Vor allem Lebensgefährtinnen und -gefährten sind oft eine wichtige Hilfe, aber auch Expertinnen und Experten für psychische Gesundheit können durch ihr urteilsfreies Zuhören den Betroffenen helfen.
Endlich Raum für sich einnehmen
Mit Freundinnen und Psychotherapeuten lassen sich zudem gesunde Grenzen festlegen. Es kann befreiend sein zu lernen, wie man nein sagt, wie es ist, Raum einzunehmen, auch wenn man denkt, das gehe auf Kosten anderer (um dann zu erfahren, dass das selten so ist). Sich mal einen Arbeitstag freinehmen, den Partner bitten, sich um einen zu kümmern, oder den Eltern sagen, dass man etwas Freiraum braucht: Häufig erfahren parentifizierte Menschen dabei, dass die anderen sich nicht abwenden, sie nicht klein machen. In Interaktion mit der eigenen Mutter oder dem eigenen Vater kann aber auch Frust entstehen, etwa wenn diese trotzdem weiter um Hilfe bitten oder wenn Schuldgefühle hochkommen, weil die Eltern einen unbewusst oder aus Gewohnheit in alte Verhaltensmuster zurückziehen wollen.
Diese Empfindungen müssen die Betroffenen aushalten, wenn sie nach Veränderung streben. Das Umfeld muss zugleich lernen, Verantwortung für die eigenen Probleme zu übernehmen – und die parentifizierten Männer und Frauen müssen dies zulassen.
Viele Monate saß auch Sarita mit mir zusammen. Gemeinsam trauerten wir um den Vater, den sie nie hatte, und den Vater, den sie hatte. Wir haben an einer ausgeglichenen Beziehung zu ihrer Mutter gearbeitet, so dass sie den Menschen hinter der Mutter sehen konnte. Der Mensch, der scheiterte und sie dennoch unterstützte. Zusammen haben wir daran gearbeitet, dass sie ihren eigenen Wert anerkennt und ihre barschen Worte gegenüber sich selbst durch mitfühlende ersetzt.
Sie konnte zunehmend ihre Zukunft aufbauen, die nicht durch ihre Kindheit bestimmt wurde. Sie hat die Fähigkeit entwickelt, darüber zu lachen, wenn sie ein Ziel nicht gleich erreicht. Sie schimpft dann nicht mehr mit sich. Manchmal lachen wir gemeinsam und setzen unsere therapeutische Arbeit fort, hin zu mehr Gelassenheit und mehr Mitgefühl – für sich selbst.
Nivida Chandra ist Psychologin in Indien und forscht seit zehn Jahren zum Thema Parentifizierung. Sie ist Gründerin von The Shrinking Couch und veröffentlicht auf der Website kostenfrei Informationen zu psychischen Gesundheitsproblemen: theshrinkingcouch.com
Parentifizierung im deutschen Strafrecht
Vor Gericht: Da die Folgen, die durch eine Parentifizierung eintreten können (Depressionen, massive Überforderung, Minderwertigkeitsgefühle und vieles mehr), als emotionaler Missbrauch gewertet werden, spielen derartige Familiendynamiken in Deutschland auch vor Gericht eine Rolle. Beispielsweise stehen sie in Sorgerechtsstreits oder Gerichtsverfahren mit Hinblick auf das Kindeswohl oftmals im Fokus.
Urteil 1: Stellt das Gericht eine Parentifizierung fest oder hat einen dringenden Verdacht, kann das die Entscheidung der Richter massiv beeinflussen. Der Bundesgerichtshof hat 2011 beispielsweise einer Mutter wegen Parentifizierung das Sorgerecht abgesprochen und an den Vater übertragen.
Urteil 2: Kinder können auch aus Familien herausgenommen werden und in Pflegeeinrichtungen oder bei Pflegeeltern untergebracht werden, wenn im Elternhaus eine Parentifizierung deutlich wird. So geschehen in einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe im Jahr 2017. Dieses sieht in Parentifizierung eine „regelmäßige Kindeswohlgefährdung“: Es seien „erhebliche Schäden des geistigen und leiblichen Wohls des Kindes“ „mit ziemlicher Sicherheit“ vorauszusagen, wenn die Familiendynamik unverändert bleibe.
Jana Hauschild
Quelle
Sarah Middendorf: Parentifizierung als emotionaler Missbrauch des Kindes. Beitrag vom 9. Februar 2019 auf der Website der Praxis für Psychotherapie Ritter und Gerstner.