Die Gegend, die uns prägt

Psychologie nach Zahlen: Vier Landschaftstypen und wie sie die Persönlichkeit der Menschen formen, die dort aufwachsen.

Die Illustration zeigt zwei weibliche Köpfe. Deren Haare einerseits eine grüne Dorfidylle mit Kühen zeigt, und andrerseits eine lebendige Großstadt mit Hochhäusern.
Ob auf dem Dorf oder in der Großstadt, wo wir aufwachsen prägt unsere Persönlichkeit. © Till Hafenbrak für Psychologie Heute

Bereits Aristoteles glaubte, dass der Ort, an dem ein Mensch aufwächst, seinen Charakter prägt. Heute begegnet uns dieser Gedanke meist weniger als philosophische Idee und eher in Form gängiger Stereotype – etwa von vermeintlichen „Landeiern“ und „Großstadtsnobs“. In den letzten zehn Jahren haben Forscherinnen und Forscher solche Stereotype aufgegriffen. Ihr Fachgebiet heißt geografische Psychologie – und die Ergebnisse zeigen, dass einzelne Persönlichkeitsmerkmale in bestimmten Gebieten tatsächlich gehäuft auftreten.

Offenbar beeinflusst jede Heimatregion die Persönlichkeit ein wenig anders: Ländliche und urbane Gegenden prägen den Charakter unterschiedlich, und Menschen, die am Meer aufwachsen, sind etwas anders gestrickt als solche, die in den Bergen heimisch sind.

1. Auf dem Land

Amerikanische Studien legen nahe, dass Menschen auf dem Land generell freundlicher und zuverlässiger als die Städter sind. Erstere sind in der Regel politisch konservativer und ganz grundsätzlich weniger offen für Neues als Großstadtmenschen. Wer auf dem Land aufwächst, scheint ausgeglichener und seltener von psychischen Erkrankungen betroffen zu sein. Für alle Menschen gilt: Das Umfeld, in dem das Individuum aufwächst, gestaltet auch seine späteren kognitiven Fähigkeiten mit.

Hugo Spiers (University College London) und seine Mitforschenden fanden heraus, dass Menschen, die ihre Kindheit auf dem Land verbringen, einen besseren Orientierungssinn haben als diejenigen, die in der Stadt groß werden. Die Untersuchung der räumlichen Navigationsfähigkeit umfasste knapp 400 000 Menschen aus 38 Ländern. Erwachsene, die vom Land stammen, orientieren sich am besten auf gewundenen Strecken. Im Vergleich zu Städtern sind sie wiederum ein wenig schlechter darin, sich neue Gesichter zu merken. Forschende erklären dies damit, dass die kognitiven Fähigkeiten einer Person sich im Laufe der Kindheit an die jeweilige Umgebung anpassen – und Menschen auf dem Land sich nicht immerzu neue Gesichter merken müssen, sondern meist denselben Bekannten begegnen.

2. In der Stadt

Städter sind kultivierter und belesener, so jedenfalls das gängige Stereotyp. Aber hat es einen wahren Kern? Psychologen und Psychologinnen gingen dieser Frage mit einfallsreichen Methoden auf den Grund. So fanden etwa Forschungsteams für die USA heraus, dass die Abonnements von anspruchsvollen Kulturzeitschriften in dem urbanen Nordosten und an der Westküste der USA tatsächlich häufiger waren als im ländlichen Süden. Auch scheinen die amerikanischen Städter im Schnitt etwas einfallsreicher als ihre Mitbürger auf dem Lande zu sein.

„Insgesamt lassen die Karten einige ziemlich klare Muster erkennen“, summiert Peter Rentfrow (University of Cambridge) mit seinen Kollegen. Und ein internationales Team, das sich in einer Untersuchung auf Deutschland konzentriert hat, hält fest: Besonders offen und nach außen gewandt sind die Menschen in Berlin und in den Metropolregionen um Hamburg, Köln, Leipzig sowie Dresden. Menschen, die in der urbanen Umwelt aufwachsen, können sich außerdem besser in gitterartigen Wegenetzen mit geraden Strecken zurechtfinden. Sie sind damit vorteilhaft an den urbanen Straßenverlauf angepasst.

3. An der Küste

Norddeutsche gelten als ein wenig unterkühlt und schroff. An diesem Klischee ist etwas dran, wie die Studie eines internationalen Forscherteams um Martin Obschonka von der Amsterdam Business School ergab. Das Team untersuchte anhand der Daten von 73 000 Freiwilligen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren die geografische Verteilung der Big-Five-Persönlichkeitsfaktoren und erstellte auf diese Weise eine „psychologische Landkarte“ von Deutschland.

Darauf ist etwa erkennbar, dass die Deutschen hoch oben an den Küsten weniger extravertiert und offen für neue Erfahrungen sind als in Süddeutschland lebende Personen. In Schweden beobachteten Forscher und Forscherinnen wiederum, dass es Menschen, die an der Küste aufgewachsen sind, immer wieder dorthin zurückzieht. Die Gründe der Befragten: das Bedürfnis nach dem Gefühl von Freiheit und Grenzenlosigkeit, die das offene Meer ihnen immerzu bietet. Auch die schier unermessliche Kraft des Meeres, die ihre Sinne und Gefühle anspricht, und die tiefe Verbindung, die sie von Geburt an zum Wasser haben, seien wichtige Gründe dafür, dass Küstenmenschen immer wieder nach Hause zurückkehren.

4. In den Bergen

Menschen, die in den Bergen groß werden, tendieren dazu, introvertiert und weniger gewissenhaft zu sein. Dagegen seien sie besonders offen für neue Erfahrungen, dokumentiert das erwähnte Team um Rentfrow. Seine Studie bezog über 3,3 Millionen Menschen in den USA ein. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass in den Bergen lebende Amerikanerinnen und Amerikaner weniger neurotisch, aber auch weniger verträglich, vertrauensvoll, fürsorglich und freundlich sind als eingefleischte Städter und Städterinnen.

Was im ersten Moment unsympathisch klingen mag, erklären die Forschenden mit historischen Entwicklungen und den Anforderungen der Berglandschaft an den Menschen: Früher – als es noch keine Bergtunnel, festen Straßen oder die Bergrettung gab – war das Leben in den luftigen Höhen deutlich gefährlicher. Wer dort lebte, musste sich primär auf sich selbst verlassen können und auf unerwartete Lebensgefahren vorbereitet sein. Das könnte ein Stück weit erklären, so Forschende, wieso die Menschen aus den Bergregionen bei einigen Aspekten der Gewissenhaftigkeit (etwa Bürgerpflichten) schlechter abschnitten, bei anderen Eigenschaften wie Organisationstalent dagegen hohe Werte erzielten.

„Wir stellen fest, dass die vermeintlichen Stereotype in Wirklichkeit etwas Tieferes widerspiegeln – und dass der lokale Kontext uns auf dramatische Weise prägt“, sagt die Psychologin Victoria Plaut. Daher könne der Umzug in eine andere geografische Umgebung durchaus desorientierend und schwierig sein: „Man kommt in einer neuen Kultur an“, so Plaut. Sie rät, sich für das Eingewöhnen Zeit zu lassen.

Zum Weiterlesen

Hao Chen u.a.: Where you are is who you are? The geographical account of psychological phenomena. Frontiers in Psychology, 2020, DOI: 10.3389/fpsyg.2020.00536

Friedrich M. Götz u.a.: Physical topography is associated with human personality. Nature Human Behaviour, 4/11, 2020, 1135–1144

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2022: Angstfreier leben
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