Schweres Erbe

Therapiestunde: Ein junger Mann leidet unter starken hypochondrischen Ängsten und Panikattacken. Fünf Jahre zuvor war sein Vater verstorben.

Die Illustration zeigt einen Mann, der skeptisch schaut, und an seinen Füßen viel zu große Schuhe trägt.
Nach dem Tod seines Vaters gerät ein Mann beim Versuch in dessen Fußstapfen zu treten immer mehr ins Stolpern. © Michel Streich für Psychologie Heute

Als ich Herrn U. kennenlernte, war er 21 Jahre alt. Im Erstgespräch traf ich auf einen gutaussehenden jungen Mann. Mir fiel auf, dass er für sein Alter besonders gepflegt und adrett gekleidet war. Auf den ersten Blick wirkte er dadurch deutlich älter, als er eigentlich war. Nach wenigen Minuten wurde die starke Anspannung von Herrn U. spürbar. Er schilderte ausgeprägte hypochondrische Ängste und Panikattacken.

Im Vordergrund stand die Sorge, er könne sich mit einer tödlichen Krankheit angesteckt haben. Dies…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Im Vordergrund stand die Sorge, er könne sich mit einer tödlichen Krankheit angesteckt haben. Dies führte dazu, dass Herr U. sich mehrfach im Monat Blut abnehmen ließ. Die Blutabnahme selbst führte wiederum dazu, dass er Sorge hatte, sich beim Arzt mit HIV angesteckt zu haben. Ein unerträglicher Teufelskreis für den jungen Mann.

Die Herausforderung in den ersten Sitzungen lag nicht darin, die aktuelle Symptomatik zu erfragen. Bereitwillig berichtete Herr U. über seine Ängste, Befürchtungen und Sorgen. Im Gespräch mit mir suchte er immer wieder die Versicherung, dass seine Ängste unbegründet seien. Jede Rückversicherung führte kurzfristig dazu, dass die Anspannung im Rahmen seiner Ängste nachließ.

Sie wollen mehr Geschichten aus der Therapiestunde als Buch lesen?

Das Buch „Wenn Sie wüssten, wie ich wirklich bin“ versammelt die 50 besten „Therapiestunde“-Kolumnen, die in den letzten Jahren erschienen sind.

Dieses Phänomen ist ein zentraler Bestandteil der Aufrechterhaltung von Angststörungen. Wer unter diesen leidet, sucht häufig nach einer Entlastung durch die Versicherung anderer, was leider dazu führt, dass man sich im Laufe der Zeit immer weniger auf die eigene Einschätzung verlassen kann und die Ängste zunehmen. Um diesen Kreislauf zu unterbrechen, vereinbarten wir zu Beginn der Behandlung, dass seine Arztbesuche nur zu festgelegten Terminen erfolgen sollten und nicht mehr in Abhängigkeit erlebter Symptome.

Großer Erwartungsdruck für junge Menschen mit Migrationshintergrund

Auch wenn es mir nicht im ersten Moment bewusst war, so gab es rückblickend zwischen uns ein verbindendes Element. Herr U. stammt, ähnlich wie ich, aus einer Familie mit Migrationshintergrund. Die persönlichen Erfahrungen des Therapeuten oder der Therapeutin bleiben in der Regel im Verborgenen – es sei denn, er oder sie entschließt sich, diese bewusst in die Therapie einfließen zu lassen. Meine Hautfarbe gibt einen winzigen Teil meiner familiären Geschichte automatisch preis, ob ich es möchte oder nicht. Dies führte in diesem Fall zu einer Verbindung, die Vertrauen auf seiner Seite und ein implizites Verständnis auf meiner Seite erzeugte, auch wenn unsere Familiengeschichten an sich nicht unterschiedlicher hätten sein können.

Weshalb war dem so? In Deutschland gibt es leider noch immer ein hartnäckiges Vorurteil: Menschen, die nicht aus dem westeuropäischen oder nordamerikanischen Ausland stammen, suchten hier soziale und finanzielle Sicherheit auf Kosten der deutschen Bevölkerung. Seit meiner Approbation habe ich viel mit Heranwachsenden gearbeitet, die entweder selbst eingewandert waren oder deren Eltern in erster Generation nach Deutschland gekommen waren. Die Geschichten dieser jungen Menschen unterscheiden sich auf vielen Ebenen, und dennoch verbindet viele von ihnen der elterliche Auftrag, hier in Deutschland beruflich und somit finanziell erfolgreich zu sein. Der Druck, den junge Menschen mit Migrationshintergrund verspüren, ergibt sich auch aus dem oben genannten Vorurteil.

Daraus entwickelt sich das starke Bedürfnis, der negativen gesellschaftlichen Erwartung um jeden Preis zu widersprechen. Hat die Elterngeneration darüber hinaus durch die Migration Entbehrungen erlitten, so bekommt der Auftrag an die folgende Generation noch einmal mehr Gewicht. Dieser Zusammenhang ist mir persönlich sehr vertraut.

Tod des Vaters: Plötzlich war alles anders

Zurück zu der Geschichte des jungen Mannes: Als Herr U. 16 Jahre alt war, verlor er unerwartet seinen Vater durch einen Schlaganfall. Sein Leben sei bis dahin behütet und unkompliziert verlaufen. Mit dem plötzlichen Tod des Vaters änderte sich das von einem Tag auf den anderen. Nur eine Woche nach der Beerdigung seines Vaters hatte er dessen berufliche und finanzielle Verpflichtungen übernommen. Er hat die vier Mietparteien im Haus betreut, das der Vater selbst gebaut hatte, für die Fertigstellung sämtlicher Baumaßnahmen gesorgt und versucht, das Geschäft des Vaters weiterzuführen. Unter dem Druck und der Menge der Aufgaben hat er schließlich seine schulische Laufbahn abgebrochen.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Herr U. dieses Erbe angetreten hatte, war besonders eindrücklich. Während der zwei Jahre, die ich ihn begleiten durfte, haderte Herr U. nicht mit seiner Situation. Er stellte sich nicht ein einziges Mal die Frage, ob er diese Aufgabe hätte übernehmen sollen, sondern lediglich, wie er sie bewältigen könnte.

Dieses Gefühl der Verpflichtung ist im familiären Kontext des jungen Mannes zu betrachten: Aus der Sicht des Patienten gab es die klare Erwartung, als männlicher Nachkomme den Platz des Vaters einzunehmen. So entstand für den Jugendlichen kaum Spielraum, in dem er über Alternativen hätte nachdenken können. Mit dem Anspruch, die Aufgaben des Vaters ohne Einschränkungen zu erfüllen, stolperte Herr U. von einer Überforderungssituation in die nächste.

Ein wesentlicher Teil in der Therapie war daher die innere Auseinandersetzung mit dem Anspruch, alles „perfekt“ machen zu müssen. Über die Zeit gelang es Herrn U., im Zwiegespräch mit seinem jüngeren Ich nachsichtig und wohlwollend mit Fehlern umzugehen und die vielen Erfolge, die er bereits als Jugendlicher erzielt hatte, wertzuschätzen. Dabei blieb immer die Frage: „Was würde mein Vater sagen?“

Losgelöst vom elterlichen Erbe

In einer Übung stellte Herr U. sich vor, dem Vater zu begegnen. Es war mir in dem Zusammenhang wichtig, dass er sich vor dieser Übung selbst wohlwollend begegnen konnte. In der Übung konnte Herr U. nicht sicher sagen, ob sein Vater mit ihm zufrieden oder gar stolz auf ihn wäre. Dabei wurde die Distanz zwischen den beiden spürbar. Herrn U. gelang es aber, auf die vorherigen Gespräche zurückzugreifen und sich selbst und seine Leistungen anzuerkennen. Im Rahmen dieser Sitzungen zeigte sich, dass ein Prozess der Abnabelung und Individuation für Herrn U. eingesetzt hatte.

Das plötzliche Erbe des Vaters war bei Herrn U. in eine wichtige Entwicklungsphase gefallen: mitten in die Adoleszenz, also eine Zeit, in der Jugendliche ein Bewusstsein für ihre Identität entwickeln und sich langsam von der Herkunftsfamilie lösen. Herr U. hatte sich von einem Tag auf den anderen das Leben des Vaters wie einen Mantel umgelegt und versucht, diesen zu tragen wie sein Vorgänger. Es war eine Freude zu beobachten, wie Herr U. im Laufe der Behandlung einen Weg fand, diesen Mantel zwar weiter zu tragen, dabei aber sich selbst nicht vollständig aufzugeben.

Je weniger er sich von der imaginierten Bewertung des Vaters abhängig machte und je stärker er auf die eigene Beurteilung seines Handels vertraute, umso leichter wurde es für ihn in den Sitzungen, eigene Pläne zu entwickeln. So wollte Herr U. das Abendgymnasium abschließen, um anschließend ein Studium der Ingenieurswissenschaften anzustreben. Als wir an diesem Punkt waren, berichtete ich erstmalig bewusst und konkret von meiner Familie, da mein Vater genau diesen Bildungsweg gewählt hatte. Ich wählte diese Selbstoffenbarung, da Herrn U. erwachsene Personen fehlten, an denen er sich orientieren konnte. Die Geschichte meines Vaters half ihm, mit der Befürchtung umzugehen, mit seinem Bildungsweg „zu spät dran zu sein“ oder „alle Chancen verpasst zu haben“.

Am Ende der Behandlung verabschiedete ich einen jungen Mann mit deutlich reduzierter Symptombelastung und neuem Lebensmut.

Fanja Riedel-Wendt ist Psychologische Psychotherapeutin mit erweiterter Fachkunde für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in privater Praxis in Heidelberg. Der Text ist eine bearbeitete und gekürzte Fassung des Originalbeitrags, der in der Familiendynamik 1/2022 erschienen ist

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2022: Lieber unperfekt