Frau Kluge, haben Sie seit dem Krieg in der Ukraine mehr zu tun als sonst?
Ja und nein. Nachdem der Krieg begonnen hatte, wurde es kurz hektisch, weil es die Befürchtung gab, dass die Lage wieder so werden würde wie in den Jahren 2015 und 2016, als sehr viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, die vor dem Krieg geflohen waren – vornehmlich aus Syrien. Damals waren wir überfordert, weil wir für solche Fälle noch keine adäquate Struktur hatten. Dem wollten wir diesmal vorbeugen, dazu war unsere Expertise…
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Fälle noch keine adäquate Struktur hatten. Dem wollten wir diesmal vorbeugen, dazu war unsere Expertise gefragt. Aber die Situation ist heute völlig anders.
Warum?
Einerseits gibt es, anders als in den Jahren 2015 und 2016, eine unglaubliche Bereitschaft zu helfen, sowohl unter den Therapeuten und Therapeutinnen als auch aus der Zivilgesellschaft. Andererseits haben wir auch viel dazugelernt. Wir haben in unserem Team zwei junge russischstämmige Kolleginnen, so dass wir unkompliziert niedrigschwellige Onlineversorgungsstrukturen für Geflüchtete aus der Ukraine anbieten konnten. Hier hat uns auch das digitale Wissen aus der Pandemie geholfen.
Wie viele der Geflüchteten aus der Ukraine brauchen denn Psychotherapie?
Dazu gibt es noch keine Zahlen. Aus der täglichen Praxis würde ich sagen: Geflüchtete erleben häufig eine soziale Krise. Diese Krisen können ebenso wie Kriegserfahrung, die Trauer um Angehörige oder belastende Fluchterfahrungen zu psychischen Krisen führen. Zugleich besteht aber eine Tendenz, die sozialen Krisen der Geflüchteten zu psychologisieren. Dabei ist die psychische Belastung, die sie erleben, häufig eine normale Reaktion auf die Not- und Krisensituation, in der sie sich befinden.
Rechnen Sie trotzdem damit, dass Sie künftig mehr Patientinnen und Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung werden behandeln müssen?
Das ist abzusehen, da posttraumatische Belastungsstörungen sich häufig erst zu einem späteren Zeitpunkt zeigen, also erst wenn grundlegende Bedürfnisse erfüllt sind. Zunächst ist erst mal wichtig, dass die Menschen einen Ort finden, an dem sie ankommen können, oder dass die Kinder wieder zur Schule gehen. Was ich aber beobachte, ist diese Erzählung in der ukrainischen Community: Wir kehren bald in die Ukraine zurück.
Das kann sich natürlich ändern. Deswegen ist es wirklich schwierig, schon etwas Belastbares über den Behandlungsbedarf zu sagen. Was man indes sagen kann, ist: Der Bedarf ist leicht angestiegen. Und die Menschen kommen zu uns mit Krisen vielfältiger Natur. Bei manchen ist die psychische Belastung eher die Folge einer aktuellen Notlage und nicht zwingenderweise das Ergebnis der Kriegs- oder Fluchterfahrung.
Zum Beispiel?
Noch aus dem Zug nach Berlin haben bei uns zwei Frauen angerufen, um zu sagen, dass sie eine schizophrene beziehungsweise bipolare Erkrankung haben und dass sie entsprechende Medikamente benötigen, wenn sie ankommen. Das war für die Geflüchteten vor sieben Jahren nicht möglich gewesen, weil die Flucht ganz anders verlief und die Fluchtwege viel prekärer waren.
Inwiefern unterscheidet sich das Angebot an der Charité – eine interkulturelle oder kultursensible Therapie – von anderen psychotherapeutischen Ansätzen?
Ich würde gar nicht unbedingt sagen, dass man für die interkulturelle Psychotherapie besondere Kompetenzen braucht, sondern vielmehr eine offene und interessierte Haltung, die das Gegenüber in seinen Wünschen und Erwartungen ernst nimmt, sowie ein Interesse an den Kontexten, aus denen jemand kommt.
Was meinen Sie damit?
Der kulturelle Kontext ist nichts, was man sich ausgesucht hat. Ich lebe in einem kulturellen Kontext und werde davon geprägt und werde mir dessen oft erst in der Begegnung mit Menschen aus anderen kulturellen Zusammenhängen bewusst. Ich denke da an einen Syrer, mit dem ich in einer Gruppe psychotherapeutisch gearbeitet habe und der mit drei Frauen verheiratet war. Dieser Mann wurde quasi erst hier in Deutschland zu einem muslimischen polygamen Syrer. Vorher gehörte das selbstverständlich zu seinem kulturellen Kontext.
Für mich war die Arbeit mit diesem Mann toll, weil ich miterleben durfte, wie er damit gerungen und versucht hat, in all dem damit verbundenen Konflikthaften für sich einen guten Weg zu finden. Gleichzeitig gab es immer wieder wahnsinnige Rückschläge durch die Behörden. Familiennachzug ist sowieso schon schwierig, aber für drei Ehefrauen geht das einfach nicht. Auch hier ist das Problem nicht die Kultur per se, sondern es geht darum, offen zu sein und zu begreifen, wie sehr Differenzen zu inneren und anderen Konflikten führen, auch zu Wertekonflikten in der Begegnung mit mir als Therapeutin.
Erfordert Ihre Arbeit nicht sehr viel Wissen über die Länder und die Kultur der Menschen?
Nicht unbedingt. Nehmen wir die Situation afghanischer Geflüchteter in Deutschland: Da muss ich nicht alle Details der Landesgeschichte und aller Konfliktlinien im Land kennen. Natürlich ist Wissen oft hilfreich, aber eigentlich muss ich erst einmal wissen, wie die Situation für afghanische Geflüchtete in Deutschland ist. Denn in vielen Fällen würde ich sagen: Geflüchtete würden möglicherweise keine oder geringere psychopathologische Symptome entwickeln, wenn die Situation im Asylverfahren nicht so prekär und ausschließend wäre.
Häufig sind es die Aufnahmebedingungen, die dazu führen, dass jemand Symptome entwickelt oder diese Symptome chronisch werden. Zum Teil ist keine traumatherapeutische Behandlung möglich, solange die Aufenthaltssituation nicht geklärt ist, denn dadurch befinden sich die Leute permanent im Krisenmodus. Es wird interessant sein zu sehen, ob sich das für die ukrainischen Geflüchteten anders entwickeln wird.
Warum sollte es?
Weil Geflüchtete aus der Ukraine seit dem ersten Juni des Jahres im Gegensatz zu anderen Geflüchteten eine Arbeitserlaubnis bekommen und auch Sozialhilfe beantragen dürfen. Damit sind sie automatisch in der gesetzlichen Krankenversicherung und nicht im Asylbewerberleistungsgesetz wie zum Beispiel Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan. Das macht für sie vieles leichter.
Gibt es Unterschiede in der psychotherapeutischen Behandlung von Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen?
Natürlich – und genau das muss ich als Therapeutin mitdenken: die Möglichkeit, dass etwas anders sein könnte. Ich habe mit jungen Chinesinnen gearbeitet, die Opfer von Menschenhandel geworden sind. Das Thema sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung ist zwar für jede Person körperlich und psychisch hochbelastend und schambesetzt, aber wenn es so wie bei uns einen gesellschaftlichen Diskurs zu diesem Thema gibt, der sexualisierte Gewalt verurteilt, dann fällt es Patientinnen unter Umständen leichter, darüber zu sprechen, als jenen Frauen, deren kulturelle oder vielleicht auch soziale Matrix diesen Diskurs in anderer Weise oder nicht führt.
In so einem Fall muss ich keine Expertin zum Thema Scham in Südostasien sein, aber ich muss ein Bewusstsein dafür haben, dass Themen wie Scham und Schuld dort potenziell anders verhandelt werden.
Wie gehen Sie in der Therapiesituation konkret damit um?
Indem ich Fragen stelle oder indem ich sage, wie das Thema in meinem kulturellen Kontext ausgehandelt wird, und dann frage, ob die Patientin damit etwas anfangen kann. So entsteht ein Gespräch, in dem wir im Idealfall eine gemeinsame Erzählung dazu finden. Über Metaphern und Fragen kann ich in den Raum holen, was ich nicht weiß. Gleichzeitig muss ich mein Nichtwissen oder mein Noch-nicht-Wissen aushalten. Denn wir können nicht Ethnologinnen für alle Regionen der Welt werden. Deshalb stehe ich dem Begriff „kultursensible Psychotherapie“ auch eher kritisch gegenüber.
Wieso?
Kultursensibel meint, dass Therapeuten Wissen über verschiedene Kulturen erlangen müssen, um angemessen behandeln zu können. Da gibt es dann entsprechende Fortbildungen, in denen bestimmte Kulturstandards vermittelt werden: der Islam, die Kriege Afghanistans der letzten 30 Jahre oder das Frauenbild in Afghanistan.
Natürlich ist dieses Wissen bis zu einem gewissen Grad hilfreich, aber es bleibt beziehungslos und mündet häufig in einer Kulturalisierung, bei der ich jemanden, der einen bestimmten Namen trägt oder eine bestimmte Nationalität hat, in eine Schublade stecke, obwohl ich gar nicht weiß, ob ich der Person damit gerecht werde. Das wird dann schnell zur rassistischen Betrachtung. Vielleicht lebt die Person mit dem persischen Namen ja schon in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland.
Warum ist das für die Therapiesituation relevant?
Wenn ich eine Person, die in Deutschland aufgewachsen ist, als Erstes frage, ob sie Deutsch sprechen kann, dann ist ein vertrauensvoller Beziehungsaufbau vielleicht damit schon gefährdet. Oder stellen wir uns eine junge Frau vor, mit einer ostdeutschen Mutter und einem syrischen Vater, die in Großbritannien aufgewachsen ist und jetzt mit ihrem marokkanischen Mann in Frankreich lebt. Welcher kulturelle Hintergrund ist für ihre Lebensrealität relevant?
Es muss immer darum gehen, die Person mit allem, mit dem sie zu mir kommt, zu sehen. Dabei geht es um meine Haltung: Ich muss als Therapeutin anerkennen können, dass ich vieles nicht weiß und dass meine Codes und meine Sprache für Verwirrung sorgen können – in welche Richtung auch immer. Das ist für mich die eigentlich wichtige Kompetenz bei transkultureller oder diskriminierungsfreier Psychotherapie.
Was, wenn Rassismus der Grund ist, aus dem der Wunsch nach Psychotherapie entstanden ist? Kann ein weißer Therapeut oder eine weiße Therapeutin in so einem Fall überhaupt die richtige Person sein?
Das ist ein Thema, über das wir in unserer Arbeitsgruppe seit längerem intensiv diskutieren und über das ich als weiße Therapeutin sicherlich anders spreche als zum Beispiel meine junge Doktorandin of color aus Großbritannien. Ich unterstütze die Forderung danach, dass es mehr Therapeuten und Therapeutinnen of color in der Versorgung geben muss. Gleichzeitig werden in jeder therapeutischen Beziehung auch ganz unterschiedliche Übertragungen möglich, die für den therapeutischen Prozess in ganz unterschiedlicher Weise hilfreich sein können.
Um das zu ermöglichen, muss ich als Therapeutin auch signalisieren, dass ich mich als potenzielle Projektionsfläche anbiete. Ich denke da an eine Gruppe arabischer Frauen, mit denen ich gearbeitet habe und in der sehr schnell und dann immer wieder Thema war, dass ich eine weiße privilegierte Frau bin. Es war meine Aufgabe, das in diesem Setting auch auszuhalten.
Welchen Nutzen kann das haben?
Ich würde sagen, das hat mit dazu beigetragen, dass zwei dieser Frauen durch das Verhandeln und auch durch das Sichausprobieren in diesem geschützten Therapierahmen in die Lage versetzt wurden, sich bei der Ausländerbehörde und beim Sozialamt zu behaupten. Weil wir zuvor so viel darüber gesprochen hatten, waren sie in der Lage, die asymmetrische Beziehung, in der sie sich auf den Ämtern befunden haben, ganz klar zu adressieren.
Selbstverständlich kann ich verstehen, dass Patientinnen und Patienten sagen: Ich wünsche mir einen Therapeuten oder eine Therapeutin, die meine Muttersprache spricht und die meinen Herkunftskontext versteht. Zugleich sollten Behandelnde aber auch versuchen zu verstehen, was sich jeweils hinter diesem Wunsch verbirgt und wie dieser adäquat im Behandlungsverlauf adressiert werden kann.
Apropos Sprache: Oft braucht es eine Übersetzung. Schadet es der Therapie, wenn noch eine dritte Person mit im Raum ist?
Die Behandlung ist anders und man muss die eigenen Betrachtungen eher an denen von Kleinstgruppen orientieren. Die Dolmetscherin hat ihre eigene Rolle im Gefüge. Nehmen wir noch mal die junge Frau aus China, die Opfer von Menschenhandel geworden war. Sie war voller Wut und Hass auf die Welt – berechtigterweise vor dem Hintergrund der Verletzungen und der Gewalt, die sie erlebt hatte. Die Dolmetscherin, die in diesem Fall übersetzt hat, stammte ebenfalls aus China, war aber über viele Jahre hinweg ostdeutsch sozialisiert – eine reservierte Frau, die emotional immer sehr hart wirkte.
In den Nachbesprechungen hat die Dolmetscherin auf die Patientin sehr aggressiv und entwertend reagiert. Ich dagegen hatte immer ein positives und warmes Gefühl. Irgendwann wurde klar, dass das Wütende und Aggressive und auch Zurückweisende der Patientin bei mir in der Übersetzung gar nicht angekommen war.
Solche Dynamiken muss man mitdenken. Das heißt nicht, dass ich jede mögliche Verwicklung einer Dolmetscherin in einem bestimmten Kontext vorhersehen muss oder kann. Aber ich muss so was als Möglichkeit in Betracht ziehen und entsprechend erfragen: Was macht die Geschichte und die psychische Belastung der Patientin eigentlich mit Ihnen? Können Sie sich vorstellen, mit dieser Patientin zu arbeiten?
Was bedeutet es für Patientinnen und Patienten, dass Dolmetschende dabei sind?
Das ist sehr unterschiedlich. Aber oft hat der Dolmetscher oder die Dolmetscherin eine Art Symbolfunktion für den Übergang. Das ist eine Person, die einen bestimmten Prozess des Ankommens und Zurechtfindens schon durchlaufen hat. Da kommen dann Themen wie Ablehnung oder Neid auf, oder es kann eine Idealisierung entstehen, die vielleicht nicht verbal artikuliert wird, aber atmosphärisch spürbar wird und oft auch etwas über die Konflikte, Ängste der Patientinnen und Patienten erzählt.
Denn in vielen Fällen ist ein Ziel der Therapie ja, anzukommen und dazuzugehören und einen eigenen Ort zu finden. Dolmetscher sind also oft gar kein Hindernis, sondern eher eine Bereicherung. Sie ermöglichen teilweise auch Räume, die wir ohne sie gar nicht betreten könnten.
Übertragung
Der Begriff stammt aus der Psychoanalyse. Er bezeichnet den Vorgang, dass ein Mensch alte – oftmals verdrängte – Gefühle, Affekte, Rollenerwartungen, Wünsche und Befürchtungen unbewusst auf neue soziale Beziehungen überträgt und reaktiviert
Ulrike Kluge ist Professorin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité und an der Humboldt-Universität. Sie leitet das Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie (ZIPP) der Charité