Frau Köber, in Ihrer Langzeitstudie Mainlife mit Tilmann Habermas haben Sie sich von Menschen ganz unterschiedlichen Alters deren bisheriges Leben erzählen lassen. Welche Stellung haben die Eltern in diesen Ich-Erzählungen? Tauchen sie eher unter „ferner liefen“ auf, oder spielen sie als prägende Figuren die Hauptrolle?
Die Hauptrolle in der eigenen Lebenserzählung spielt die erzählende Person selbst. Aber natürlich sind die Eltern sehr wichtige Charaktere in dieser Geschichte. Besonders präsent sind die…
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sind die Eltern sehr wichtige Charaktere in dieser Geschichte. Besonders präsent sind die Eltern natürlich in Erzählungen aus der Kindheit. Etwa: Meine Mutter war viel für mich da, sie hat mit mir gebastelt und gemalt und mich ermutigt, Neues auszuprobieren. Oder: Nach der Scheidung meiner Eltern waren beide sehr beschäftigt, und ich habe viel Zeit mit meinen Großeltern verbracht. In den Erzählungen aus den Erwachsenenjahren sind die Eltern dann natürlich nicht mehr so dominant und präsent. Schon in den Erinnerungen an die Jugendjahre tauchen Freunde häufiger auf als die Eltern. Und nach dem Auszug aus dem Elternhaus rückt dann erst recht die eigene Lebenssituation in den Mittelpunkt, zum Beispiel die Familie, die man nun selbst gegründet hat. Doch nach unseren Befunden bleiben die Eltern auch in diesen Phasen und über die gesamte Lebensspanne hinweg wichtige Figuren im Hintergrund.
Ihre jüngsten Probanden waren acht Jahre alt. Wie erzählen Kinder von ihren Eltern?
Fast ausschließlich positiv und sehr idealisierend – was auch schön ist, finde ich. Es wird bei den Kindern viel von Weihnachten und anderen Festen erzählt, von ihren Geschenken, von den Urlauben. In diesen Kindergeschichten sind die Eltern meist die Helden.
Dann kommt die Pubertät, und die gilt ja als eine Phase der Rebellion gegen die Eltern. Spiegelt sich das auch in den Lebenserzählungen von Pubertierenden? Wie verändert sich das Elternbild in dieser Umbruchzeit?
Es wird ambivalenter. In den Erzählungen nehmen die positiven Beschreibungen der Eltern ab, und die negativen nehmen zu. Bei den Zwölfjährigen sind noch 70 Prozent der Aussagen positiv, bei den Sechzehnjährigen ist es nur noch etwa die Hälfte. Ich sehe darin aber kein Schlechtmachen der Eltern, sondern ein Zeichen von kognitiver Reife: Erst in diesem Alter sind Heranwachsende in der Lage, diese Ambivalenz in der Bewertung ihrer Eltern auszuhalten, also neben ihren positiven auch die negativen Eigenschaften zu sehen. Dass die Eltern in diesem Alter kritischer betrachtet werden, hat natürlich auch damit zu tun, dass man sich von ihnen emanzipieren möchte und nach einer eigenen unabhängigen Identität sucht.
Woran entzündet sich die Kritik an den Eltern?
Manchmal hat sie mit Lebensentscheidungen zu tun, die die Eltern für einen getroffen haben, ohne dass man früher mitentscheiden konnte. Ein Sechzehnjähriger erzählt etwa, wie seine Mutter ihn auf einer Waldorfschule angemeldet hatte, „weil sie dachte, dass das gut für mich sei. Sie mochte diese alternative Pädagogik. Doch es stellte sich als Irrtum heraus. Die Pädagogik war nicht alternativ, sondern nicht existent, die Lehrer waren seltsam und sehr inkompetent.“ In der Pubertät werden aber nicht nur die Eltern selbst kritisch reflektiert, sondern erstmals auch die eigene Beziehung zu den Eltern. Das ist ein wichtiger Entwicklungsschritt. Zum Beispiel erzählte ein junger Teilnehmer, wie er sich nun erstmals mit seinem seit langem von der Mutter geschiedenen Vater auseinandersetzte, wie sie ein Treffen vereinbarten und sie gemeinsam über ihre Beziehung nachdachten.
Ist es nicht so, dass Pubertierende auf Teufel komm raus nach allem Ausschau halten, was sie an den Eltern nerven könnte?
Das mag vielleicht im Alltag so scheinen, aber in den Lebenserzählungen trifft das Klischee, wonach Pubertierende stereotyp gegen alles rebellieren, was von den Eltern kommt, so nicht zu. Das Elternbild wird ambivalent, kippt aber keineswegs ganz ins Negative.
Aber heftig geht es in dieser Zeit bisweilen schon zu. Wenn die Pubertät dann überstanden ist, gehen junge Erwachsene erfahrungsgemäß wieder etwas pfleglicher mit ihren Eltern um. Wird das Verhältnis dann wieder freundlicher und entspannter?
Im Umgang wohl schon. In ihren Lebenserzählungen allerdings kehrt man jenseits der Pubertät nicht etwa zu der positiven Verzerrung des Elternbildes aus der Kindheit zurück. Die Eltern werden vielmehr auch weiterhin mit ihren Schwächen beschrieben, gleichzeitig steigt aber das Verständnis für diese Schwächen. Es scheint einem leichterzufallen, über die Fehler der Eltern zu sprechen, sobald man akzeptiert hat, dass sie eben auch nur Menschen sind, wie man selbst. Ab zwanzig etwa konnten wir diese Haltung in den Erzählungen zunehmend beobachten. Wenn man aus dem Elternhaus ausgezogen ist und an der Uni, im Beruf, in der Partnerschaft, der Familie ein eigenständiges Leben führt, dann realisiert man allmählich, wie begrenzt und limitiert ein Erwachsenenleben doch ist. Man versteht zunehmend, dass auch die Eltern früher nicht so frei, autonom und souverän in ihren Entscheidungen waren, wie einem das damals als Kind und Jugendlicher vorkam. Und dass die Eltern eben ihre eigene Biografie hatten, die sie zu den Menschen machte, die sie waren. Gerade Studienteilnehmer, deren Eltern den Krieg noch erlebt hatten, betrachteten diese oft unter dieser verständnisvollen, aber nicht unkritischen biografischen Lupe.
Werden die Eltern in den späteren Jahren, wenn die „Kinder“ selbst an der Schwelle zum Alter stehen, in einem milderen Licht gesehen und in den Lebenserzählungen wohlwollender beschrieben?
Das ist nicht der Fall. Die positiven Beschreibungen nehmen bis zum mittleren Erwachsenenalter eher ab und halten sich dann mit den negativen die Waage. Im höheren Erwachsenenalter gab es dann keine Unterschiede mehr im Vergleich zu den jüngeren Erwachsenen.
Worauf führen Sie das zurück?
Ich weiß es nicht. Da braucht es mehr Forschung.
Sind Sie in den Erzählungen auch auf Schuldzuweisungen gestoßen? Etwa nach dem Motto: „Hättet ihr mich damals stärker unterstützt, stünde ich jetzt besser da!“
Das gibt es sicher, aber ich kann mich an kein Beispiel für eine solche Schuldzuweisung aus unserer Studie erinnern. Es gab sicher auch grundsätzliche Kritik wie etwa „Meine Mutter war immer sehr kühl zu mir“. Und was wir auch beobachteten: Eltern tauchen häufig in negativen Erzählsequenzen ohne Happy End auf, in denen von Enttäuschungen, Trauer oder Ärger die Rede war. Vielleicht hielten solche ungelösten Konflikte die Betreffenden emotional so gefangen, dass sie in der Erinnerung sehr präsent waren. Und diese emotionale Befangenheit behinderte womöglich, dass man sich in die Position der Eltern hineinversetzte und in der Erzählung deren „Stimme“ zu Wort kommen ließ. Auf der anderen Seite beobachteten wir, dass die Eltern gerade in schwierigen Situationen und an Wendepunkten im eigenen Erwachsenenleben wie etwa einer schmerzhaften Scheidung als emotionale und handfeste Stütze erlebt wurden. In solchen Umbruchphasen bleiben die Eltern wichtige Ansprechpartner und werden als solche auch gesucht.
Welche Unterschiede gibt es zwischen den Elternerzählungen von Frauen und Männern?
Obwohl Töchter, wie man aus anderen Studien weiß, oft engere und wärmere Beziehungen zu ihren Eltern haben als Söhne, fanden sich in ihren Elternerzählungen häufiger negative Urteile. Das könnte auch daran liegen, dass Frauen generell mehr über ihre Gefühle reden als Männer. Allerdings erklärt das nicht, warum Frauen in einer bestimmten Altersgruppe vor allem mit ihren Vätern unzufrieden waren: Töchter im mittleren Alter, in den Vierzigern, hatten weniger Verständnis für ihre Väter und waren ihnen gegenüber weniger zugewandt, als dies bei den Söhnen der Fall war. Die Mütter hingegen wurden von den Töchtern weniger kritisch gesehen. Wir wissen nicht so richtig, woran das liegt.
Hätten Sie ein Beispiel?
Eine 44-jährige Teilnehmerin erinnerte sich daran, wie sie als junge Frau ein Gartenbaustudium aufgenommen hat, einfach weil ihr Vater ihr das gesagt hatte. Sie folgte seinem Wunsch, obwohl das Fach sie eigentlich gar nicht interessierte. Prompt ging es schief, und sie brach das Studium ab. Viele Jahre später bereinigte sich ihr Verhältnis zum Vater, als er schwer erkrankte und sie ihn bis zum Tod pflegte. Überhaupt ist die Pflege der Eltern eine emotional wichtige Episode, die in den Lebenserzählungen von älteren Studienteilnehmern häufig zur Sprache kam.
Wie verändern sich die Erzählungen von der Mutter oder dem Vater mit deren Tod?
Der Tod steigerte ihre Präsenz in den Lebenserzählungen, das heißt, sie tauchten dann häufiger in den geschilderten Erinnerungen auf. Sie wurden aber deshalb nicht positiver oder verständnisvoller beschrieben, und es wurde in den Erzählungen auch nicht mehr Verbundenheit zu ihnen hergestellt. Die Hinterbliebenen verfahren also erstaunlicherweise nicht etwa nach dem Motto: „Über Tote spricht man nicht schlecht.“
Sind uns die Lebenserinnerungen, die mit dem Verstorbenen verbunden sind, dann deshalb so präsent, weil wir seiner gedenken, ihm Ehre erweisen wollen? Oder gibt es auch persönlichere Gründe?
Dass die verstorbenen Eltern mehr Raum in den Lebenserzählungen einnehmen, kann man mit dem Bedürfnis erklären, das „geliebte Objekt“ nach dem Verlust gegenwärtig zu halten. Die Eltern werden also sozusagen über den Tod hinaus in der Lebensgeschichte gehalten, sogar in verstärktem Maße. Man vergewissert sich ihrer Bedeutung für das eigene Leben. Das dient auch dazu, die Trauer zu bewältigen und mit dem Verlust umzugehen. Man versucht, den Tod des Vaters oder der Mutter in die eigene Biografie zu integrieren und ihn im Kontext dieser Lebenserzählung zu verarbeiten.
Warum erzählen wir Menschen so gern und viel aus unserem Leben?
Wir erzählen, um Ereignisse zu verarbeiten. Wir erzählen ferner, was uns widerfahren ist, um zukünftig in ähnlichen Situationen besser gewappnet zu sein. Und wir erzählen von uns und unserem Leben, um eine emotionale Beziehung zum jeweiligen Gesprächspartner herzustellen und zu vertiefen. Die meisten Erzählungen sind eher Alltagsanekdoten: Wir haben das Bedürfnis, anderen mitzuteilen, was uns heute so passiert ist. Aber es gibt auch Erzählungen, die viel weiter zurückreichen. Manche von ihnen handeln von wichtigen Markierungen und Weggabelungen des eigenen Lebens. Menschen erzählen spontan immer wieder von solchen markanten Episoden, die für sie ein besonderes Gewicht haben.
Welche Rolle spielen diese Lebenserzählungen für unsere Identität, unser Ich-Empfinden?
Ich denke, sie prägen ganz maßgeblich unsere Identität. Wir beschreiben, was uns als Person ausmacht, indem wir von uns erzählen. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der sich wie in einem Fragebogen anhand von Eigenschaftswörtern beschreibt, also etwa wie extravertiert oder pünktlich er ist. Wir schildern uns anhand von erinnerten Episoden aus unserem Leben, und diese Ereignisse verknüpfen wir mental zu einer Erzählung von uns selbst: So bin ich zu der Person geworden, die ich heute bin.
Die große Erzählstudie
An der Langzeitstudie Mainlife unter der Leitung von Tilmann Habermas nahmen seit 2003 mehr als 400 Mädchen und Jungen, Frauen und Männer im Anfangsalter zwischen 8 und 65 Jahren teil. Sie hatten die Aufgabe, entlang der sieben wichtigsten Erinnerungen ihr bisheriges Leben zu erzählen. Im Zentrum sollte dabei die Frage stehen: „Wie wurde ich zu der Person, die ich heute bin?“ Diese Prozedur wurde im Abstand von vier Jahren bislang dreimal wiederholt. Die fünfte und letzte Befragungswelle ist jetzt für 2019 geplant. Die ältesten Befragten sind inzwischen um die 80 Jahre alt.
Dr. Christin Köber ist Psychologin. An der Universität Frankfurt arbeitete sie mit Professor Tilmann Habermas an der Langzeitstudie Mainlife. Inzwischen lehrt und forscht sie an der New York University Abu Dhabi