Stigmatisieren wir psychisch Erkrankte?

In seinem Buch „Das Stigma psychischer Erkrankung" zeigt Nicolas Rüsch Strategien gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Der Autor im Gespräch.

Die Illustration zeigt den Autor des Buches "Das Stigma psychischer Erkrankungen", Nicolas Rüsch
Nicolas Rüsch ist Professor für Public Mental Health und Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg. © Jan Rieckhoff

Welche Vorurteile und Diskriminierung erleben psychisch Erkrankte im Alltag?

Betroffene können ihren sozialen Status einbüßen und nicht mehr für voll genommen werden. Sie werden abgestempelt als „psychisch krank“ oder mit abwertenden Begriffen belegt und dadurch oftmals als anders und verschieden von „den Normalen“ wahrgenommen und behandelt. Am Arbeitsplatz vermuten Kolleginnen und Kollegen, sie seien inkompetent, im privaten Umfeld herrscht betretenes Schweigen, Freunde und Freundinnen gehen auf Abstand. Menschen mit Suchterkrankungen gelten als verantwortlich für ihre Erkrankung, nach einem Suizidversuch werden Personen für egoistisch und manipulativ gehalten, Menschen mit Schizophrenie als gefährlich gefürchtet.

Sie bezeichnen die Stigmatisierung ­psychisch Erkrankter sogar als zweite Krankheit.

Ja, denn die Betroffenen haben nicht nur mit den Symptomen ihrer Erkrankung zu kämpfen, sondern genauso mit Vorurteilen und Diskriminierung. Das ist ein Unterschied zu körperlichen Erkrankungen wie etwa Diabetes. Psychische Erkrankungen haben soziale Folgen. Doch aufgrund des Stigmas fehlt oft, was bitter nötig wäre: soziale Unterstützung. Stigma ist daher soziales Unrecht.

Wurde schon immer schlecht über Menschen mit seelischem Leid gedacht?

Früher wie heute gab es nicht nur Vorurteile. Bei den alten Griechen gab es etwa die Vorstellung, menschliche Größe sei mit Melancholie verbunden. Evolutionäre Modelle sprechen dafür, dass die Angst vor Krankheit und Ansteckung zum anhaltenden Stigma psychischer Erkrankungen beiträgt – auch wenn diese gar nicht ansteckend sind. Menschen handeln demnach im Sinne einer übervorsichtigen Warnreaktion, noch heute. Es ist übrigens ein Irrtum, dass die Stigmatisierung in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen habe. Gegenüber Menschen mit Depression blieben die Vorurteile hoch, für Schizophrenie nahmen sie zu.

Welche Folgen hat das für die Betroffenen?

Die Erfahrung und schon die Erwartung von Diskriminierung kann dauerhaften Stress verursachen, der die körperliche und psychische Gesundheit schädigt sowie eine Genesung untergräbt. Da psychische Erkrankungen außerhalb akuter Phasen meist von außen nicht erkennbar sind, stehen viele Betroffene vor dem Dilemma, ob sie anderen von ihrer Erkrankung berichten sollen. Geheimhaltung kann vor Diskriminierung schützen. Aber wenn ich nicht von meinem Problem berichte, können mich andere nicht unterstützen. Das von Betroffenen geleitete Gruppenprogramm „In Würde zu sich stehen“ bietet Hilfe bei der Entscheidung für oder gegen die Offenlegung der eigenen Erkrankung.  

Was kann jeder Einzelne dagegen tun?

Wir sollten uns gegen Diskriminierung einsetzen und Betroffene unterstützen. Jeder kann sich des Problems von Stigma und Scham bewusst sein und Kontakt suchen mit Betroffenen, anstatt sie aus Angst oder Verlegenheit zu meiden. Wenn Menschen in Krisen geraten, sollten wir sie nicht abstempeln, sondern für sie da sein und zur Hilfesuche ermutigen.

Nicolas Rüsch ist Professor für Public Mental Health und Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg.

Nicolas Rüschs Buch Das Stigma psychischer Erkrankung. Strategien gegen Ausgrenzung und Diskriminierung ist bei Urban & Fischer erschienen (332 S., € 29,–)

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