Klein, aber mein

Ein grünes Fleckchen am Stadtrand – davon träumen viele. Selbstversorgung ist allerdings nur selten das Ziel. Über die Psychologie des Kleingartens.

Ein Schrebergartenhäuschen, umrankt von Efeu, in einer Schrebergartensiedlung mit zwei Liegestühlen davor
Ein bescheidenes Häuschen mitten im Grün © plainpicture/mia takahara

Wer erstmals in das reiche Industrieland Deutschland reist, mag sich beim Blick aus dem Zugfenster über die zahlreichen Slums wundern – und staunen, dass sie so ordentlich sind. Typisch deutsch?

Der Kleingarten ist zwar keine deutsche Erfindung, aber hierzulande ausgesprochen populär. Etwa eine Million Kleingärten gibt es in Deutschland, und die Nachfrage ist groß. Wer eine der Parzellen ergattert, muss oft hohe Ablösesummen bezahlen und dann umfangreiche Regeln beachten: Es gilt das Bundeskleingartengesetz,…

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oft hohe Ablösesummen bezahlen und dann umfangreiche Regeln beachten: Es gilt das Bundeskleingartengesetz, jeder Verein hat eine Satzung, und zahlreiche Gerichtsurteile machen klar, was erlaubt ist und was nicht. So verpflichtet man sich, dort auch tatsächlich Obst und Gemüse anzubauen – und zwar auf wesentlichen Teilen der Fläche, für den Eigenverbrauch. Wohnen im Garten ist verboten.

Tatsächlich gibt es solche Gärten in vielen Ländern. Sie sind ein Kind der Industrialisierung: In rasant wachsenden Städten lebten damals immer mehr Menschen, dicht gedrängt, ohne Grün, in prekären Verhältnissen. Beginnend in England, wurden Ende des 18. Jahrhunderts in vielen europäischen Städten „Armengärten“ ausgewiesen, damit Armut und Hunger nicht völlig außer Kontrolle gerieten. Für kleine Pacht boten sie ärmeren Familien einen gewissen Grad der Selbstversorgung.

Anbauschlachten

Mitte des 19. Jahrhunderts wollte der nach einem Arzt benannte Schreber-Verein in Leipzig die Bewegung an frischer Luft fördern. Dabei entstanden auch kleine Flächen, auf denen Familien gärtnerten. Dieses Modell wurde schnell auch andernorts populär. Besonders in Kriegszeiten wurde privates Gärtnern im großen Stil vorangetrieben: Die Schweiz kämpfte im Zweiten Weltkrieg eine „Anbauschlacht“, in Großbritannien galt die Losung Dig for Victory, und in vielen Ländern Europas gab es ähnliche Anstrengungen.

Heute sind die Supermarktregale gefüllt, und Selbstversorgung ist kaum ein Thema. Ein Kleingarten macht Mühe. Warum sind die Parzellen trotzdem so populär?

Kleingärten dienen heute vor allem der Erholung: Das Handy bleibt unbeachtet in der Tasche, man freut sich über die Blüten an der Kapuzinerkresse, und die Kinder toben zwischen Apfelbaum und Kompost umher. Für viele Menschen ist so ein Garten das eigene kleine Paradies am Rande der Stadt. Aber die Motive verändern sich weiter: Immer mehr von uns streben nach einem gesünderen, bewussteren Lebensstil und nach umweltfreundlicherem Lebensmittelkonsum. Der eigene Garten passt perfekt zu diesen Vorstellungen.

Man ist ganz bei sich, und scheinbar nebenbei entstehen eigene Lebensmittel, in Bioqualität und unverpackt – so zumindest die Idee. Während die Arbeit etwa im Büro uns viel Belohnungsaufschub abfordert, weil sie selten zeitnah konkrete Resultate ergibt, liefert das Gärtnern schnell handfeste Ergebnisse. Wer alles richtig macht, wird beizeiten mit köstlichen Tomaten und frischem Salat belohnt.

Hecken- und soziale Kontrolle

Die Umweltpsychologie versucht zu erklären, warum der Kontakt zur Natur unser Wohlbefinden so effizient verbessert. Vier Wirkfaktoren scheinen dafür vielversprechend: Natürliche Umgebungen haben ein besseres Mikroklima – die Luft ist besser, und im Sommer ist es kühler. Sie laden zu körperlicher Aktivität ein. Sie vermögen, unsere Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Und sie sind Orte für soziale Interaktion. Gärtnern im Verein verbindet das alles wunderbar.

Faszinierend zu beobachten sind dabei vor allem die sozialen Interaktionen. Ein Kleingarten ist gewissermaßen halb privat. Er gehört den einzelnen Pächtern zwar, zugleich reden andere aber gehörig mit. Der Vereinsvorstand kontrolliert periodisch die Flächennutzung sowie die Höhe der Hecken, und die Ruhebedürfnisse der anliegenden Parteien müssen strikt beachtet werden. Die soziale Kontrolle, die so ein Verein mit sich bringt, hat aber auch positive Aspekte: Wenn man sich mit den Gartennachbarinnen und -nachbarn gut versteht, verbessert sich die soziale Vernetzung – ein Schutzfaktor für die psychische Gesundheit, gerade in Anbetracht der ansonsten zu­nehmenden Vereinzelung der modernen Stadtmenschen.

Gärtnern kann allerdings auch zum Stressfaktor werden, denn das Gießen, Pflegen und Ernten der Pflanzen benötigt Zeit und konkurriert mit anderen Einträgen auf der To-do-Liste. Interessant ist, dass ein Kleingarten Studien zufolge offenbar weniger Stress verursacht als der Privatgarten direkt am Haus. Auch wenn noch nicht ganz geklärt ist, woran das liegt, gibt es zumindest erste Erklärungsansätze: Ein Privatgarten ist immer präsent. Von den Anforderungen des Kleingartens kann man besser abschalten, solange man nicht dort ist. Zudem bedeutet ein Privatgarten in größerem Maße eine Verbindlichkeit: Er will ständig gepflegt sein, damit er repräsentabel genug daherkommt. In einen Kleingarten hingegen muss man niemanden einladen – und notfalls kann man ihn wieder abgeben, falls er doch zur Überforderung wird.

Es ist zu vermuten, dass der Kleingarten uns noch länger erhalten bleibt, denn er passt gut zum städtischen Lebensstil. Auch sein etwas spießiges, verstaubtes Image wandelt sich. Zunehmend wird ermöglicht, dass auch Gruppen Flächen pachten dürfen, wodurch neue Gemeinschaftsgärten entstehen können. So geht Urban Gardening auch im Kleingartenverein.

Literatur

Ilka Appel u.a.: Aktuelle Garteninitiativen. Kleingärten und neue Gärten in deutschen Großstädten. Kassel University Press, Kassel 2011

Jakob Augstein: Die Tage des Gärtners. Vom Glück, im Freien zu sein. Hanser, München 2012

Dörte Martens, Vivian Frick: Gemeinschaftsgärten: Motive zur Initiierung und Einfluss auf Erholungserleben. Umweltpsychologie, 18/2, 2014, 103–123

Christopher Young u.a.: Psychological restoration in urban gardens related to garden type, biodiversity and garden-related stress. Landscape and Urban Planning, 198, 2020. DOI: 10/ggn9w7

Dr. Mathias Hofmann arbeitet seit 2017 am Center for Open Digital Innovation and Participation (CODIP) der TU Dresden. Der Psychologe hat ­unter anderem zur Wirkung von Stadtnatur auf die psychische Gesundheit geforscht – auch in Kleingärten – und ist Mitherausgeber der Zeitschrift Umweltpsychologie

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2022: Sehnsucht