​ Vom Zählen der Knöpfe ​

Zwölf Mal muss Tim nachschauen, ob der Herd aus ist, bevor er das Haus verlässt. Warum macht er das, fragt unsere Kolumnistin Mariana Leky.

Die Illustration zeigt eine Frau, um herum Blumen wachsen, auf deren Köpfe Zahlen sind
Unsere Marotten und Zwänge pendeln zwischen niedlich und nervtötend. © Elke Ehninger

Mein Freund Tim hat eine neue Küche, eine Einbauküche, ich bin vorbeigekom­men, um sie zu bewundern, und das tue ich ausgiebig. Auf dem Küchenboden liegen Karnevalskostüme. Vorhin haben wir uns mit Tims Kindern verkleidet, jetzt sind sie im Bett. Ich fahre mit der Hand über die nagelneuen Herdknöpfe. „Wusstest du eigentlich“, frage ich Tim, „dass ich einen Kränchenfimmel habe?“

Tim hat keine Ahnung, was ein Krän­chenfimmel ist. Kränchen kommt von Kran, damit ist der Wasserhahn ge­meint, und wenn man einen…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Kränchen kommt von Kran, damit ist der Wasserhahn ge­meint, und wenn man einen denbezüglichen Fimmel hat, muss man, bevor man das Haus verlässt, immer noch mal nachschauen, ob der Wasserhahn auch wirklich abgedreht ist. Ein Kränchenfimmel ist eine Art Kreuzung aus Aberglauben und mildem Zwang. Mein Kränchenfimmel bezieht sich nicht auf den Wasserhahn, sondern auf meinen Herd: Oft, wenn ich es eilig habe, muss ich immer lieber noch mal nachschauen gehen, ob der Herd auch wirklich aus ist. „Bekloppt, oder?“, frage ich und rechne damit, dass Tim sagt: „Das kenne ich auch, so was in der Art hat doch jeder.“ Stattdessen starrt Tim mich an. Ich glaube, er starrt entsetzt – als hätte ich etwas Schockierendes gesagt, etwas wie: „Du, ich würde wirklich gerne mal Menschenfleisch probieren.“ Schließlich hört Tim auf zu starren und fängt wortlos an, die Kostüme zurück in ihre Kisten zu packen.

„So ein Kränchenfimmel ist nichts Besonderes“, sage ich unsicher, „ich könnte das mit der Herdkontrolle auch jederzeit sein lassen, überhaupt kein Problem“, ich beteuere das wie ein star­ker Raucher, der behauptet, das Rauchen jederzeit sein lassen zu ­können, „das Ganze ist eigentlich nichts weiter als eine putzige Marotte.“

Vor lauter Kontrolle außer Kontrolle

Tim schweigt, und ich schäme mich, weil ich das überhaupt erzählt habe. Tim und ich kennen uns gut, wir können, dachte ich, über alles sprechen, wir erzählen uns mit großer Unverblümtheit beispielsweise vom Liebesleben oder von Brechdurchfallerkrankungen, aber solche Psychomarotten sollte man wohl doch lieber für sich behalten.

„Die neue Küche ist wirklich super“, sage ich. Tim schweigt weiter und setzt sich neben die Kisten. „Was ist denn los?“, frage ich. Er nimmt eine Federboa vom Boden auf und, das ist ihm deutlich anzusehen, seinen ganzen Mut zusammen. Schließlich sagt er: „Was du als putzigen Fimmel hast, habe ich als ausgewachsenen Zwang.“ Dann erzählt er, dass er jedes Mal, aber wirklich jedes Mal, bevor er das Haus verlässt, den Herd kontrollieren muss, und zwar nicht einmal, sondern genau zwölfmal. Zwölfmal muss er nachzählen, ob alle Knöpfe am Herd auf Grün stehen; wenn er sich verzählt, muss er wieder von vorne anfangen, Tim plant dafür jedes Mal eine halbe Stunde ein, und nichts, gar nichts daran ist amüsant oder fimmelig. „Bekloppt, oder?“, fragt er.

Ich setze mich neben ihn. „Ich habe Angst, dass das schlimmer wird“, sagt er, „ich habe Angst, dass ich irgendwann überhaupt nicht mehr vor die Tür komme vor lauter Kontrolle, die außer Kontrolle gerät.“ „Warum musst du das denn machen?“, frage ich, und diese Frage finde ich blöder, als Tim sie findet. Er schaut in die Karnevalskiste. Dann setzt er sich eine Darth-Vader-Maske auf, zieht sich eine Kittelschürze aus den 1970er Jahren an und nimmt einen Feenzauberstab mit abgeblättertem Glitter in die Hand.

Vermeintlich niedliche Marotten

„Zähl“, sagt er und wedelt mit dem Stab in meine Richtung. „Zwölfmal. Los, mach schon.“ Tims Kostümierung sieht sehr lustig aus, und ich nehme mir vor, mich nächstes Jahr zu Karneval als Zwangserkrankung zu verkleiden. „Aber warum soll ich das tun?“, frage ich. „Weil sonst etwas Furchtbares passiert“, sagt Tim hinter der Maske. „Aber was denn?“, frage ich. Tim hebt kurz seine Maske an. „Denk an irgendeine tagesaktuelle Gefahr“, sagt er. „Wenn du nicht zwölfmal zählst, wird bei dem Arzttermin deiner Mutter etwas ganz Schreckliches herauskommen. Zum Beispiel. Wenn es keine tagesaktuelle Gefahr gibt, kann es auch etwas sein, das immer passieren kann.“ „Zum Beispiel?“, frage ich.

Tim zieht die Maske wieder auf. „Dein Kind wird einen entsetzlichen Fahrradunfall haben“, sagt er. „Mein Kind wird einen entsetzlichen Fahrradunfall haben, wenn ich nicht zwölfmal die Herdknöpfe abzähle?“, frage ich. „Genau“, sagt Tim. „Aber das ist doch ausgemachter Blödsinn“, sage ich, obwohl ich weiß, dass Blödsinnigkeit hier überhaupt nichts zur Sache tut; als würde man nicht auch das Blödsinnigste tun, um einen Fahrradunfall abzuwenden, zur Not auch Herdknöpfe kontrollieren, wenn jemand das überzeugend als Präventionsmaßnahme nahelegt.

Trotzdem sage ich noch mal, dass das Blödsinn ist. „Dann beweise mir doch das Gegenteil“, antwortet Tim unter der Maske, und mir fällt auf, dass das die Standardantwort von Verschwörungstheoretikern ist, wenn man sie auf ihren Blödsinn hinweist. „Der Zwang benimmt sich wie ein Verschwörungstheoretiker“, sage ich und denke, Kränchenfimmelnde wie ich müssen ihre vermeintlich niedlichen Marotten im Blick behalten, denn wenn man nicht immer wieder überprüft, ob man es wirklich sein lassen kann, hat einen ruck, zuck ein innerer Verschwörungstheoretiker mit exorbitantem Aggressionspotenzial im Schwitzkasten.

Clownsschminke

„Los, zählen, zwölfmal“, sagt Tim, „sonst passiert was Schlimmes, ich sage nur: Fahrradunfall.“ „Ich denke nicht im Traum daran“, sage ich, „was sind das überhaupt für mafiöse Methoden?“ Tim nimmt die Maske hoch: „Ich mache mich zum Affen, oder?“ „Ja“, sage ich, weil jeder despotische Zwang sich zum Affen macht, wenn jemand von außen ihm zuschaut. „Du musst zählen“, sagt Tim, „du darfst nicht aufhören. Du darfst es nicht unterlassen.“ Ich nehme eine Plastiktrompete für Vorschulkinder zur Hand und haue Tim damit auf den Darth-Vader-Kopf.

„Doch“, sage ich. Tim nimmt die Maske ab, und wir schauen ihm nach, dem Wörtchen „doch“, diesem klanglich schwer gehandicapten Einsilber, der uns, umstellt von einem herrischen Zwang, außerordentlich wohlklingend erscheint. „Doch“, schreiben wir mit Clownsschminke aus der Kiste auf den nagelneuen Herd. „Doch“ wird sich schnell verwischen, aber im Moment ist es noch da.

n

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2021: Frauen und ihre Väter