Ich sitze mit meiner Nachbarin Frau Wiese im Auto, wir fahren in den Wald. Frau Wiese will mir jemanden vorstellen, und wenn ich nicht wüsste, dass sie sehr glücklich liiert ist, könnte ich meinen, sie wolle mir eine neue große Liebe zeigen. „Kennen Sie das“, fragt sie mich, während sie ziemlich schnell die Landstraße herunterbrettert, „man sieht jemanden und weiß sofort, dass er einem immer gefehlt hat? Obwohl einem das gar nicht aufgefallen ist?“
Ich kenne das, glücklicherweise. Solche Begegnungen lassen…
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aufgefallen ist?“
Ich kenne das, glücklicherweise. Solche Begegnungen lassen mich immer wenigstens kurzfristig an Seelenwanderung glauben. Man begegnet jemandem und ahnt, dass man schon mal gemeinsam einem Unglück entgangen oder schon mal in einer Familie aufgewachsen ist. „Da bist du ja wieder“, denkt man, „endlich“, obwohl man gar nicht wusste, dass man das ganze aktuelle Leben lang nach dieser Person gesucht hat – man merkt es erst in dem Moment, in dem man sie findet.
Frau Wiese geht das mit Kriel so. Kriel heißt wirklich Kriel mit Vornamen, ich habe mehrfach nachgefragt und Frau Wiese auch, Kriel heißt Kriel wie ein Kölner Stadtteil. Es ist ein paar Wochen her, da spazierte Frau Wiese durch den Wald, um wieder mal über irgendetwas nachzudenken, ein Für und Wider abzuwägen. Frau Wiese meint irrigerweise, es helfe, immer wieder Fürs und Widers gegeneinander antreten zu lassen, sie hofft, dass dann irgendwann das Für oder das Wider erschöpft aus der Arena getragen wird und man mit einer ganz zweifellosen Entscheidung dastehen kann. Plötzlich kam Frau Wiese auf dem Waldweg jemand entgegen, eine Frau mit einem Jagdhund an der Leine, einer Sprühdose in der Hand – und knapp über der Schulter der Frau, so sah es Frau Wiese vor ihrem geistigen Auge, schwebte ein zweifelloses Für.
Das Schweigen war wie ein Anlauf
Frau Wiese, die nur selten etwas sofort weiß, wusste sofort, dass sie Kriel gefunden hatte, ohne sie zu suchen. „Da bist du ja endlich“, dachte Frau Wiese, als Kriel auf sie zukam, und deshalb war es unmöglich, wie herkömmliche Spaziergänger knapp grüßend aneinander vorbeizugehen, weil man sich, auch das wusste Frau Wiese sofort, ein Vorbeigehen das ganze verbleibende aktuelle Leben lang vorwerfen würde. Deshalb deutete Frau Wiese auf Kriels Sprühdose und sagte: „Guten Tag, sind Sie Graffitikünstlerin?“
„Nein“, sagte Kriel, „ich zeichne Bäume aus.“ „Toll“, sagte Frau Wiese, die noch nicht wusste, dass Försterinnen Bäume nicht für besondere Leistungen auszeichnen, sondern um sie fällen zu lassen. „Darf ich mich Ihnen anschließen?“, fragte sie, was eine heikle Frage an jemanden ist, dem man in einem mutmaßlichen früheren Leben oft, im aktuellen Leben allerdings zum ersten Mal begegnet. Kriel schaute überrascht, weil sie noch nicht wusste, dass sie auf Frau Wiese gewartet hatte, aber zum Glück merkte sie das recht schnell und sagte: „Aber natürlich.“
Frau Wiese ging Kriel also hinterdrein durch den Wald. Zunächst wurde geschwiegen. Es wurde angenehm geschwiegen, denn es gab nichts, was zu früh oder zu spät gesagt werden konnte; es wurde aufgeregt geschwiegen, denn das Schweigen war wie ein Anlauf. Und dann ging es los. Es ging los mit dem Erzählen, Kriel und Frau Wiese fingen mit allem möglichen Durcheinander an. Sie erzählten sich die Highlights und Wendepunkte ihres ganzen aktuellen Lebens, alles, was bisher geschehen war, was die andere verpasst hatte, und alles war gleich wichtig und gleichzeitig überhaupt nicht wichtig. Und immer wieder, während Frau Wiese erzählte und zuhörte, dachte sie in Richtung Kriel, dass sie die Lücke gewesen war zwischen all den Menschen, die Frau Wiese gefunden hatte – eine Lücke, die Frau Wiese erst in dem Moment bemerkte, als sie sich schloss.
In Siebenmeilengummistiefeln
Seither fährt Frau Wiese immer wieder in den Wald zu Kriel, heute mit mir. Frau Wiese ist wie immer aus dem Ei gepellt, ich kenne niemanden, der auch für Waldspaziergänge so perfekt geschminkt ist wie Frau Wiese. Kriel erwartet uns vor dem Forsthaus. Optisch ist sie das Gegenteil von Frau Wiese, sie ist spindeldürr, immens groß, sie hat einen strohblonden, ganz offensichtlich selbstgemachten Bürstenschnitt, sie hat gewitterblaue Augen und einen Jagdhund, der Heidrun heißt (alle haben hier seltsame Namen).
Frau Wiese stellt Kriel und mich einander vor, sie präsentiert Kriel wie eine Weltsensation. Bei genauerer Betrachtung hat Kriel die Hautfarbe von Donald Trump mit Fieber. Später stellt sich heraus, dass Kriel sich zur Feier des Tages geschminkt hat, leider aber zum ersten Mal im Leben. Wir gehen los in den Wald, Frau Wiese hat die ganz falschen Schuhe an, das macht nichts. Kriel erzählt mir von den Bäumen, mit denen sie seit über zwanzig Jahren zusammenlebt, sie hat eine Stimme, die farblich wunderbar zu den Fichten passt.
Sie macht große Schritte in Siebenmeilengummistiefeln, Frau Wiese trippelt glücklich nebenher, Kriel erzählt vom Auszeichnen der Bäume und deutet immer wieder in die Baumkronen. Frau Wiese legt dann den Kopf in den Nacken und schaut so lang in den Himmel, bis Kriel sie an der Hand nimmt und weiterzieht. Es ist schön, Frau Wiese so ohne jedes Wider zu sehen, so glücklich in vollkommen durchweichten Strümpfen.
Eine Weltsensation
„Letztens war ich mit Katja schießen“, erzählt Kriel, und ich muss kurz überlegen, wer Katja ist, weil ich Frau Wieses Vornamen nicht gleich parat habe. „Mit Frau Wiese?“, frage ich, weil ich mir das kaum vorstellen kann, weil ich Frau Wiese in durchweichten Pumps in einem Hochsitz sehe, wie sie mit bebenden Händen verheerend durch die Gegend ballert.
„Auf Dosen“, sagt Frau Wiese erklärend. Kriel zieht eine Klette aus dem Fell ihres Hundes und wischt sich dann mit ihrer riesigen Hand über die Augen, sie hat längst vergessen, dass sich da verschmierbare Wimperntusche befindet. „Katja schießt gut“, sagt sie, „Sie hat eine sehr ruhige Hand. Sie zielt entschlossen und präzise.“
Ich starre Frau Wiese an, meine ewig zaudernde Frau Wiese, die Kriel gefunden hat, damit sie die entschlossene und präzise Katja findet, die wie Kriel immer da und bislang nur nicht gefunden worden war. Eine Weltsensation.
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker