Der mit dem Höllenblick

Der neue Nachbar hat einen Rottweiler-Aufkleber, ein Problem mit Lautstärke – und mit ihr, schreibt unsere Kolumnistin Mariana Leky.

Die Illustration zeigt einen Mann in einem Haus, der finster blickt, auf dem Dach des Hauses tanzt fröhlich ein Paar
Unsere Kolumnistin hat das Bedürfnis, auf die Wut des Nachbarn mit Mitgefühl zu reagieren. © Elke Ehninger

Seit kurzem lebt in der Wohnung unter uns ein neuer Nachbar. Es handelt sich um Herrn Günter, und ich glaube, ich habe in Herrn Günter meinen Meister gefunden. Kurz nach seinem Einzug traf ich ihn vor seiner Wohnungstür. Er hatte einen Aufkleber daran geklebt, der einen gewaltbereiten Rottweilerkopf zeigte, unter dem in blutroten Lettern stand: Hier wache ich.

Herr Günter schloss gerade seine Tür auf. „Guten Tag“, sagte ich, und als Herr Günter seinen Kopf hob, wich ich zurück – denn in seinem Blick, man…

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und als Herr Günter seinen Kopf hob, wich ich zurück – denn in seinem Blick, man kann es nicht anders sagen, loderte ein Höllenfeuer. Zurückgewichen stellte ich mich vor und sagte, dass das Haus sehr hellhörig sei und Herr Günter sich unbedingt melden solle, wenn wir oben zu laut wären. Herr Günter starrte mich an. Ich gab die Hoffnung nicht auf, dass er doch noch etwas sagen würde. „Sie haben also einen Rottweiler?“, fragte ich. „Nein“, sagte Herr Günter und verschwand hinter seiner Tür.

Einen Tag später stand Herr Günter vor meiner Tür, samt Höllenfeuer. „Sie sind zu laut“, sagte er, „hören Sie gefälligst auf, auf mir herumzutrampeln.“ Dann drehte er sich um und verschwand. Ich blieb im Türrahmen stehen. Meine Nachbarin Frau Wiese kam die Treppe herunter. „Haben Sie ein Gespenst gesehen?“, fragte sie. „Nein, aber Herrn Günter“, sagte ich, und Frau Wiese sagte: „Das ist ungefähr dasselbe.“

Zur Zwischenmiete

Niemand im Haus weiß etwas über Herrn Günter, wir wissen nur, dass er zur Zwischenmiete hier wohnt, wir wissen nicht, woher er gekommen ist oder wohin er geht. Wir wissen nicht, wie alt er ungefähr ist oder wie groß, weil man sich außer seinen Augen nichts an Herrn Günters Körper merken kann, weil man alle Hände voll damit zu tun hat, den schweren Geschützen in seinem Blick auszuweichen.

Ich legte Teppiche auf die Stellen in unserer Wohnung, auf denen bislang keine gelegen hatten, und besorgte für alle neue Hausschuhe ohne Sohle. Leider gab es sohlenlose Hausschuhe nur mit Häschenapplikation, was insbesondere meinem pubertierenden Sohn ästhetische Sorgen bereitete. Fortan schli­chen wir auf behasten Füßen durch unsere Wohnung.

Als ich Herrn Günter einige Tage später im Flur traf, fragte ich ihn, ob es jetzt besser sei. „Was?“, fragte Herr Günter. „Die Lautstärke“, sagte ich. „Nein“, sagte Herr Günter und loderte mich an. „Ich glaube, Herr Günter ist ein unglücklicher Mensch“, sinnierte meine Nachbarin Frau Wiese, „und ich glaube, er hat Sie ausgewählt.“ „Wofür?“, fragte ich. „Um an allem schuld zu sein“, glaubte Frau Wiese, „an seinem ganzen unglücklichen Leben.“ „Kann man als Auserwählte das Auserwähltsein verweigern?“, fragte ich. Frau Wiese schüttelte bedauernd den Kopf, und dann deutete sie noch bedauernder auf meine Hausschuhe. „Finden Sie die schön?“, fragte sie. „Nein“, sagte ich, „die sind für Herrn Günter.“

Seiner Wut mit Mitgefühl begegnen

An einem Samstagabend kam die Patentante meines Sohnes zu Besuch, wir saßen bis spät in den Abend auf dem Sofa und redeten. Was ich an der Patentante besonders liebe, ist, wie ausgiebig sie sich kaputtlachen kann. Dieses Mal aber dachte ich die ganze Zeit: „Lach bitte leiser“, weil ich vor mir sah, wie der unglückliche Herr Günter von unten hasserfüllte Höllenblicke an die Decke schleuderte. Als ich ihr von Herrn Günter erzählte, lachte die Patentante so ausschweifend, dass sie ihr Glas vom Couchtisch stieß. Es fiel auf den Boden und zersprang, mutmaßlich direkt auf Herrn Günters Schädel.

Zwanzig Minuten später stand die Polizei vor der Tür. „Man hat uns wegen Ruhestörung angerufen“, sagten die Beamten, „haben Sie irgendetwas von einer Party mitbekommen?“ „Nein“, sagte ich, und erst als die Beamten gegangen waren, wurde mir klar, dass wir die Ruhestörung gewesen waren. „Dein Herr Günter hat ja wohl einen Ratsch im Kappes“, sagte die aus dem Rheinland stammende Patentante meines Sohnes entrüstet. „Er hat mich ausgewählt, an allem schuld zu sein“, sagte ich, und die Patentante lachte sich kaputt und sagte: „Herzlichen Glückwunsch.“

Ich grübelte die Nacht lang über Herrn Günter nach. Einerseits fand ich, dass ich seiner Wut mit Mitgefühl begegnen müsse, weil seine Wut ja nichts anderes war als ein zerknülltes Unglück, eine zerknüllte Einsamkeit, die Herrn Günter noch mehr zu schaffen machen musste, je lauter uneinsamere Leute über ihm herumhüpften, je vernehmlicher eine frohgemute Patentante über ihm lachte. Ich überschüttete Herrn Günter innerlich mit einem Bottich Mitgefühl, und andererseits dachte ich, dass Herr Günter ja wohl eindeutig einen Ratsch im Kappes habe, dass er seinen nicht vorhandenen Rottweiler und seinen Höllenfeuerblick drin­gend zurückpfeifen müsse, und als der Morgen dämmerte, spürte ich eine deutliche Schlagseite zu Herrn Günters lädiertem Kappes, und in dem Bottich, den ich innerlich ausgoss, befand sich immer weniger Mitgefühl und immer mehr von irgendeinem heißen Zeug. Ich vermute, es war Lava.

Die unmöglichen Hausschuhe

Um sechs Uhr morgens klingelte ich bei Herrn Günter. Während ich wartete, betrachtete ich meine häschenumpuschelten Füße und dann den Rottweileraufkleber mit den blutroten Lettern. Herr Günter öffnete. „Hier wache ich“, sagte ich. Herr Günter schwieg und loderte. „Haben Sie gestern die Polizei gerufen?“, fragte ich. Herr Günter schwieg. „Haben Sie sie eigentlich noch alle?“, fragte ich. Herr Günter schwieg weiter. „Ich habe überall Teppich ausgelegt, ich habe mir diese unmöglichen Hausschuhe angezogen und meinem Sohn das Schweben beigebracht“, sagte ich, „was soll ich denn Ihrer Meinung nach noch tun?“ Herr Günter schwieg. „Jetzt sagen Sie doch mal was“, sagte ich. Herr Günter schwieg. „Egal was ich tue – ich kann es nur falsch machen, oder?“, fragte ich, und dann sagte Herr Günter endlich etwas, nämlich: „Ja.“

Dann schloss er die Tür. Oben standen mein Sohn und seine Patentante in Schlafanzügen und schauten mich fragend an. Ich holte Wanderstiefel aus dem Schrank. „Anziehen“, sagte ich. Ich rollte alle Teppiche ein und drehte das Radio bis zum Anschlag auf. Schwer besohlt polterten wir alle drei ausgiebig durch die Wohnung; dann ließen wir uns auf den Boden fallen, mit glühenden Gesichtern, und warteten auf die Polizei.

Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich ­Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2021: Sich von Schuldgefühlen befreien