Herr Pohl, mein betagter Lieblingsnachbar, ist früher gern auf weite Reisen gegangen. Vor einiger Zeit bekam er dann eine Angststörung, die ihn ans Haus fesselte, und es dauerte, bis Herr Pohl seinen Mut zurückgewann. Als der Mut sich wieder eingestellt hatte, stellte sich auch die Coronapandemie ein, die ihn wiederum ans Haus fesselte; und nun tigern Herr Pohl, sein schwungvoller Mut und seine gebrechliche Zwergpinscherdame Elise in vier Wänden herum.
Damit alle drei ein bisschen Auslauf bekommen, fahre…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Elise in vier Wänden herum.
Damit alle drei ein bisschen Auslauf bekommen, fahre ich mit Herrn Pohl in eine weitläufige brandenburgische Landschaft. Wir gehen spazieren. Es ist stürmisch, die Wolken jagen. Herr Pohl und sein Mut gehen schnellen Schrittes, Elise und ich dackeln hinterher. „Erzählen Sie mir was“, sagt Herr Pohl, „erzählen Sie mir von Ihrer allerabenteuerlichsten Reise.“ Ich überlege lang und bestürzenderweise ergebnislos. „Wo waren Sie denn zuletzt im Urlaub?“, versucht Herr Pohl, mir auf die Sprünge zu helfen. „Eifel“, sage ich. „Und davor?“ „Nordsee.“ „Ist da was Spannendes passiert?“, fragt Herr Pohl. „Sind Sie vielleicht in eine Seenot geraten?“
„Nein“, sage ich kleinlaut, „in eine familienfreundliche Ferienanlage.“ Herr Pohl seufzt.
„Gilt auch eine ausgedachte Abenteuergeschichte?“, frage ich, und Herr Pohl winkt ab. „Meines Wissens gehen Sie auf die fünfzig zu“, sagt er empört, „und Sie haben noch nie ein Abenteuer erlebt?“ „Doch“, sage ich, „aber keines in Ihrem Sinne“, und da fällt mir glücklicherweise und im letzten Moment meine entlegene Jugend ein. „Als ich 15 war, bin ich mit meinem Vater nach Florida geflogen“, sage ich. „In eine Ferienanlage?“, fragt Herr Pohl alarmiert. Ich schüttle den Kopf, keine zehn Pferde würden meinen Vater in eine Ferienanlage bringen. „Während des Fluges nach Florida verkündete der Pilot plötzlich, dass auf dem Rollfeld unseres Abflughafens Flugzeugreifen gefunden worden waren. Leider ließ sich nicht feststellen, ob das womöglich die Reifen unseres Flugzeugs waren.“
Auf dem Fußboden eines neufundländischen Flughafens
Herr Pohl sieht mich aufmunternd an. Zwergpinscher Elise sieht mich ebenfalls an, aber eher erschöpft. Ihr reicht es bereits mit dem Abenteuer Brandenburg. „Wir mussten in Neufundland notlanden“, sagte ich, „es wurde vorsorglich ein Schaumteppich ausgebreitet. So ein Flugzeug, das ohne Reifen landet, ist ja eine hochentzündliche Angelegenheit.“
„Hatten Sie Angst?“, fragt Herr Pohl, und mir fällt auf, dass ich erstaunlicherweise keine Angst hatte. Ich hatte eigentlich vor nichts Angst, wenn mein Vater in der Nähe war, das wird mir erst jetzt klar, aber um Herrn Pohl nicht zu enttäuschen, sage ich: „Natürlich! Ich hatte ganz entsetzliche Angst.“ „Und dann?“ „Es waren tatsächlich unsere Reifen“, sage ich, „es hat furchtbar gerumpelt und es gab ein großes Geschrei.“ Ich erzähle Herrn Pohl, dass mein Vater und ich die Nacht auf dem Fußboden des neufundländischen Flughafens verbracht haben, mein Vater hatte seinen Kopf auf dem Spiegel gebettet, ich meinen auf der Zeit, und mein Vater hatte prognostiziert: „Wenn wir hier schlafen können, können wir das überall.“
„Und dann, Herr Pohl, stellen Sie sich vor“, komme ich jetzt in Fahrt, „als wir in Florida waren, haben wir einen Nationalpark besucht. Es dämmerte bereits, als wir zu einem See kamen, über den eine schmale Brücke zu einer Insel führte – auf der linken Seite der Brücke wucherte ein Gebüsch. Mein Vater wollte unbedingt zu dieser Insel.“ „Ihr Vater scheint ein Abenteurer zu sein“, sagt Herr Pohl anerkennend. Elise gibt ein empörtes Zwergpinscherbellen von sich, Herr Pohl klemmt sie sich unter den Arm. „Als wir auf der Insel waren und uns umdrehten“, erzähle ich, „da sahen wir, wie ein Alligator quer über die Brücke lief und im Gebüsch an der Brücke verschwand.“
„So ein Alligator, der hat ja Familie.
„Alligatoren greifen keine Menschen an“, bemerkt Herr Pohl etwas enttäuscht. „In der Paarungszeit schon hin und wieder“, sage ich, „und es war März, beste Alligatorenpaarungszeit also.“ Herrn Pohl gefällt das. „Sie mussten über diese Brücke zurück“, sagt er munter. „Wir hatten ja keine Wahl“, sage ich, ein Satz, der in Abenteuergeschichten nicht fehlen darf, „wir mussten zurück über die Brücke, neben der ein Alligator im Gebüsch saß. Es war jetzt sehr dunkel.“
„Und hatten Sie Angst?“, fragt Herr Pohl, und mir wird wieder, erst jetzt, erst geschlagene 33 Jahre später auf einer Wiese im Brandenburgischen klar, dass ich überhaupt keine Angst hatte. „Ich zitterte am ganzen Leib“, sage ich, „es ergriff mich eine immense Panik.“
„Und dann?“, fragt Herr Pohl. „Mein Vater sagte: Ich gehe auf der Seite des Gebüschs, dann frisst der Alligator mich zuerst.“ Herr Pohl nickt. „Allerdings“, sagt er, „hätte ja auch ein anderer Alligator auf Ihrer Seite der Brücke auftauchen können. So ein Alligator, der hat ja Familie.“ „Richtig“, sagte ich, „aber mein Vater fand wohl, dass das kein hilfreicher Gedanke war. Und außerdem: Wir hatten ja keine Wahl“, mit einem Mal finde ich großen Gefallen an diesem Satz. „Der Weg kam Ihnen sicher sehr lang vor?“, fragt Herr Pohl. Ich erzähle ihm nicht, dass ich mich an die Länge des Weges gar nicht erinnern kann, sehr wohl aber daran, dass der Griff meines Vaters um meine Hand sehr fest war, dass ich zu meinem Vater sagte: „Was machen wir, wenn der Alligator dich ins Bein beißt?“, daran, dass mein Vater antwortete: „Dann habe ich ein Bein weniger und eine gute Geschichte mehr“, dass wir beide lachen mussten und ich überhaupt keine Angst hatte, und weil ich das erst jetzt wieder weiß, weiß ich auch erst jetzt wieder, dass ich meinem Vater das nie gesagt habe.
Herr Pohl bleibt stehen und schaut in die Weite, die wir gesucht und gefunden haben, gleichzeitig in Brandenburg und in Florida. Wir legen die Köpfe in die Nacken, wir schauen in die rasanten Wolken. „Schön ist es hier“, sagt Herr Pohl mit Elise unterm Arm und seinem Mut, der zum Glück ein wenig Auslauf hatte, „gehen wir noch ein bisschen weiter?“
„Nein“, sage ich, „ich muss nach Hause. Meinen Vater anrufen.“
n
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker