Herr Junghöfer, in einer Studie aus Neuseeland haben Befragte Radfahren als ein zutiefst sinnliches Erlebnis beschrieben. Trifft es das?
Ja, absolut. Beim Radfahren fühlen Sie die Sonne auf der Haut und den Wind im Gesicht, Sie riechen die feuchte Luft und sehen die leuchtenden Farben der Blumen am Wegesrand. Indem Sie sich bewegen, spüren Sie zudem sich selbst und Ihren Körper. Das ist tatsächlich sehr sinnlich. Für mich selbst kann ich sagen: Auf dem Rad merke ich, dass ich lebe. Und zwar so intensiv wie…
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sinnlich. Für mich selbst kann ich sagen: Auf dem Rad merke ich, dass ich lebe. Und zwar so intensiv wie niemals sonst, außer vielleicht beim Orgasmus. Beim Autofahren hatte ich das nie.
Warum nicht?
Zunächst einmal sitzen Sie im Auto wie zu Hause im Wohnzimmersessel: In Ihrer direkten Umgebung ändert sich nicht viel. Und von dem, was jenseits der Windschutzscheibe passiert, bekommen Sie auch kaum etwas mit. Das betrifft nicht nur Geräusche und Gerüche, selbst wirklich viel sehen können Sie hinter dem Steuer nicht. Einerseits weil Sie dazu zu schnell sind, andererseits weil Sie gezwungen sind, auf die Straße zu achten.
Beim Fahrradfahren werden Sie dagegen ständig mit neuen Eindrücken konfrontiert. Und gerade das macht den Reiz aus. Denn intensive sinnliche Wahrnehmung setzt voraus, dass sich etwas um Sie herum verändert.
Das Zufußgehen ist übrigens auch nicht mit dem Radfahren zu vergleichen. Denn beim Stehen und Gehen lastet das komplette Gewicht auf den Gelenken. Auf dem Sattel sind die Gelenke deutlich entlastet, fast wie beim Schwimmen. Hinzu kommt: Wenn Sie beim Gehen die Energiezufuhr unterbrechen, bleiben Sie stehen. Auf dem Fahrrad ist das anders – wenn Sie dort nicht treten, dann rollen Sie dennoch weiter; ein bisschen, als würden Sie fliegen. Sie müssen also nicht immer Input geben.
Viele Radfahrerinnen und Radfahrer begründen ihre Leidenschaft auch damit, etwas für ihre Gesundheit zu tun.
Ja, das hört man immer wieder: Radfahren ist gesund, es hilft der Umwelt, man spart Geld gegenüber dem Auto. Das sind alles Aspekte, die sicher eine gewisse Rolle spielen. Aber ich glaube nicht, dass sie wirklich entscheidend sind. Ich habe lange Jahre in einer Rehaklinik gearbeitet und gemerkt: Gesundheit ist keine Motivation, für nichts.
Das Entscheidende ist, was man beim Radfahren in sich spürt. Sie würden doch auch nicht etwas essen, was Sie eigentlich nicht mögen, nur weil es gut für Sie ist. Wenn das, was Ihnen schmeckt, zusätzlich noch Ihrer Gesundheit zugutekommt: umso besser. Genauso ist es mit dem Fahrradfahren. Ich persönlich fahre jedenfalls nicht deshalb, weil es gut fürs Herz ist und ich die Luft nicht verpeste. Das sind allenfalls schöne Begleiterscheinungen, die ich gerne mitnehme.
Aber Sie sagten ja eben selbst, dass man auf dem Rad spüren kann, wie der Körper arbeitet. Wenn ich mich beim Rennradfahren daran freue, wie gut meine Muskeln mir gehorchen, ist es dann nicht gerade dieses Gefühl, das mich motiviert?
Dann merken Sie vielleicht, wie toll Sie den Berg hochkommen und dass Ihr Körper macht, was Sie von ihm möchten. Der Wunsch, sich fit zu fühlen und Höchstleistungen erbringen zu können, ist aber etwas anderes als das Ziel, gesund zu bleiben, weil man Gesundheit eben nicht wahrnehmen kann!
Sie haben anfangs die Sonne auf der Haut erwähnt und die leuchtenden Blumen – wie wichtig ist dieses Naturerlebnis?
Sehr wichtig. Radfahren in der Natur ist sicher schöner als in der Stadt, auch weil Sie in der urbanen Umgebung mehr gefordert sind, Ihre Aufmerksamkeit auf den Straßenverkehr zu lenken. Wenn Sie zu sehr darauf achten müssen, was die Autofahrer um Sie herum im Schilde führen, macht es auf zwei Rädern nicht mehr ganz so viel Spaß.
Einer Studie aus Großbritannien zufolge nimmt die Zufriedenheit von Fahrradpendlern mit steigender Länge des Arbeitsweges zu, ganz im Gegensatz zu denen, die Auto fahren. Und das obwohl der Weg in der Regel nicht durch die unberührte Natur führt. Woran liegt das?
Ganz einfach: Auf dem Rad fahren Sie am Stau vorbei. Und das ist eine ungemeine Genugtuung. Dazu kommt ein zweiter Punkt: Radfahren ist eine optimale Strategie gegen Stress. In meiner Zeit in der Rehaklinik habe ich regelmäßig Vorträge zur Stressbewältigung gehalten. Und dabei habe ich auch immer das Radfahren propagiert. Ich merke selbst, wie sehr es mich entspannt, wenn ich die zehn Kilometer zu meinen Chorproben fahre. Als die Proben zwischendurch in der Coronapandemie nicht stattfinden konnten, haben mir diese Touren ziemlich gefehlt.
Manche Radlerinnen und Radler scheinen es aber auch irgendwie zu mögen, sich durch den Straßenverkehr zu schlängeln und dabei ganz wach sein zu müssen.
Das kann ich mir durchaus vorstellen. Die Bedürfnisse beim Radfahren sind unterschiedlich; manche lieben halt das Adrenalin. Ganz grob unterscheide ich drei Sorten von Radfahrern: die Alltagsfahrer, denen es primär darum geht, von A nach B zu kommen; die Freizeitfahrer, die normalerweise das Auto nehmen, aber am Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub auf den Sattel steigen, weil es so schön ist; und die Sportfahrer, die sich auspowern wollen und die gewissermaßen die Muckibude ins Freie verlegen. Natürlich lassen sich diese Typologien nicht scharf trennen. Auch wer aus sportlichen Gründen Rad fährt, kann Freude an der Natur verspüren und seine Umgebung genießen.
Wer regelmäßig auf zwei Rädern unterwegs ist, hat seltener depressive Verstimmungen. Was meinen Sie: Hängt das auch mit dem Stressabbau zusammen oder ist das ein allgemeiner Effekt der Bewegung?
Beides spielt sicher eine Rolle. Außerdem ist das Radfahren für viele ganz einfach schön! Das Naturerlebnis, die sinnliche Wahrnehmung der Umgebung, der ganze positive Input: Ich kann mir schon vorstellen, dass das zusammen depressionsmindernd wirkt. Dazu kommt die Erfahrung, aus eigener Kraft von A nach B gelangen zu können, und zwar immer dann, wenn man gerade will. Sie sind nicht auf den Bus angewiesen, der nur zu festen Zeiten fährt und dann vielleicht noch verspätet kommt. Wenn Sie Rad fahren, sind Sie völlig unabhängig von anderen. Und das ist toll.
Warum lassen wir dann nicht alle das Auto öfter mal stehen?
Viele Menschen wissen, dass ihnen das guttun würde. Und dennoch sind sie dazu zu faul. Als Gegenargument kommt dann zum Beispiel das schlechte Wetter. Ich wollte mal überprüfen, wie stichhaltig das ist, und habe zwei Jahre lang eine Strichliste geführt. Ganze viermal hat es so stark geschüttet, dass ich auf dem Weg zur Arbeit die Regenhose anziehen musste. Im Auto haben Sie in dieser Hinsicht übrigens eine andere Wahrnehmung: Wenn Sie durch einen kurzen Schauer fahren, müssen Sie danach noch minutenlang den Scheibenwischer anlassen – wegen des Spritzwassers, das von der Fahrbahn hochwirbelt. Der Regenguss fühlt sich dadurch viel länger an.
Der Kölner Psychologe Michael Degen schreibt in einer Studie, dass viele Menschen, die Rad fahren, ihre Form der Fortbewegung als die bessere sehen und sich selbst als Vorreiter und anderen überlegen. Stimmt das?
Nein. Wir sind nicht überlegen. Aber die anderen sind unterlegen (lacht). Nein, im Ernst: Wer sich darüber beklagt, wie sehr die Umwelt momentan verrücktspielt, und selbst mit dem Auto zum Zigarettenautomaten fährt, der sollte sich schon auch an die eigene Nase fassen. Für die Umwelt hat das Fahrrad gegenüber dem Auto objektive Vorteile.
Im Internet finden sich jede Menge Berichte von Radlerinnen und Radlern, die sich durch Autos gefährdet fühlen. Kennen Sie selbst diesen Eindruck?
Ja, natürlich. Aber Ihre Wortwahl möchte ich gleich einmal korrigieren: Auf dem Fahrrad fühlen Sie sich nicht gefährdet. Sie sind gefährdet. Das Schieben auf den angeblich subjektiven Eindruck ist auf gut Deutsch eine Schweinerei. Denn wenn sich jemand gefährdet fühlt, dann muss man das nicht ernst nehmen. Es ist ja schließlich nur ein Gefühl und damit ein persönliches Problem. Eine objektive Gefährdung zu reduzieren ist dagegen Aufgabe des Staates. Doch weil das Geld kostet und weil das an das Sosein des Autofahrers geht, verschiebt man das Problem ins Psychische.
Fakt ist: Pro gefahrenen Kilometer verunglücken deutlich mehr Menschen mit dem Rad als mit dem Auto. Das konnte erst vor kurzem wieder ein Wissenschaftler zeigen, der sich die Statistiken der Versicherungen angesehen hat. Und bei Unfällen zwischen Pkw und Fahrrädern tragen überwiegend diejenigen die Hauptschuld, die auf vier Rädern unterwegs sind.
In Ihrer Heimatstadt Bonn hat sich kürzlich eine Initiative gegründet, die herunterklappbare Abstandhalter für das Fahrrad herstellt und vertreibt. Andernorts veranstaltet der ADFC schon einmal Aktionen, bei denen sich Radlerinnen und Radler eine Poolnudel hinten auf den Gepäckträger klemmen, damit die Autofahrer nicht so knapp überholen. Schätzt man hinter dem Steuer den Platzbedarf radfahrender Menschen falsch ein?
Ja. Interessanterweise hängt diese Fehleinschätzung auch von Faktoren ab, von denen man das gar nicht vermuten würde. Vor 20 Jahren hat zum Beispiel ein Verkehrspsychologe aus England einen Selbstversuch gemacht, der mir im Kopf geblieben ist: Darin konnte er zeigen, dass er deutlich knapper überholt wurde, sobald er einen Helm trug. So nach dem Motto: Wer geschützt ist, dem darf man ruhig näher auf die Pelle rücken. Wenn er sich einen Zopf an den Helm band, also vortäuschte, eine Frau zu sein, nahm der Abstand dagegen zu.
Ich bin auch oft zu knapp überholt worden. Vor anderthalb Jahren habe ich mich mal darangesetzt, dieses „Gefühl“ zu objektivieren, mit einem Gerät, das ich an meinem Lenker befestigt hatte. Ich bin damit ganz normal herumgefahren und habe ein paar Monate lang alle Überholvorgänge festgehalten. Insgesamt waren es 961 Stück – auf dem Weg zum Chor, zum Einkaufen, zu meiner Freundin, wohin auch immer. Zusätzlich habe ich notiert, wo ich mich beim Überholen befunden hatte und ob es Gegenverkehr gab oder nicht.
Und das Ergebnis?
Ein Punkt, der ins Auge fällt: Auf Straßen ohne Radweg hielten die Autos im Schnitt einen Abstand von 1,37 Meter. Wenn aber ein Teil der Straße durch weiße Fahrbahnmarkierungen für Zweiräder abgetrennt war, waren es nur 1,27 Meter. Deutlich weniger also.
Das klingt paradox. Wie erklären Sie sich das?
Offiziell heißt diese Art von Radwegen übrigens Sicherheits- oder Angebotsstreifen. Unsicherheitsstreifen wäre passender. Denn wer im Auto unterwegs ist, tendiert dazu, seine Spur als seinen Bereich zu empfinden: Wenn ich dich überhole, ist nichts Schlimmes dabei, solange ich nicht auf deinen Streifen komme.
Wirklich gefährlich wurde es übrigens bei Gegenverkehr: Dann reduzierte sich der Abstand bei den eben erwähnten weißen Radwegen auf durchschnittlich 92 Zentimeter, gegenüber 1,15 Metern auf Straßen ohne Radweg. Viel relevanter als der Durchschnitt sind aber die Ausreißer: 41-mal waren es nur 50 Zentimeter oder noch weniger. Der kleinste von mir gemessene Überholabstand betrug ganze zwei Zentimeter! Gesetzlich vorgeschrieben sind inzwischen 1,5 Meter.
Wie wichtig ist es für den Fahrgenuss, sich sicher zu fühlen?
Ausgesprochen wichtig. Und ein ausreichender Überholabstand ist in diesem Zusammenhang ganz zentral. Wer mich zu knapp überholt, bringt mich in Lebensgefahr. Wenn ich Angst um mein Leben haben muss, setze ich mich natürlich nicht mehr gerne aufs Rad.
Wie reagieren Sie, wenn Sie zu knapp überholt werden?
Ich brülle! Einerseits um den Fahrer auf seinen Fehler aufmerksam zu machen, aber auch um die Anspannung loszuwerden. Ich habe eine Gesangsausbildung, ich kann also sehr laut werden. Letztens saß in dem Wagen, der mich überholt hat, ein guter Bekannter – etwas, wovor ich seit Jahren Angst habe. Seitdem herrscht Funkstille, obwohl ich ihm später sogar einen Brief geschrieben habe.
Sie selbst sind 76 und fahren immer noch fast ausschließlich mit dem Rad. Warum?
Die Frage habe ich mir auch mal gestellt. Ich ärgere mich so oft über manche Autofahrer oder die Verkehrsführung, warum gebe ich es nicht einfach dran? Die Antwort ist simpel: Die schönen Erfahrungen überwiegen diesen Ärger bei weitem! Die Gesamtbilanz zählt, und die ist deutlich positiv. Auch wenn ich mich darauf manchmal besinnen muss.
Martin Junghöfer ist Diplompsychologe und Psychotherapeut. Seit den 1990er Jahren legt er jährlich bis zu 8000 Kilometer auf zwei Rädern zurück. In seiner Freizeit sammelt er Kaninchenkochrezepte und singt im Chor. Junghöfer lebt und arbeitet in Bonn.