Das große Kritzeln

Im Hörsaal, bei Meetings oder Telefonaten fangen viele von uns an, Figuren, Gesichter, Muster zu kritzeln. Warum tun wir das bloß?

Auf einem Schulschreibtisch sind Kritzeleien von Schülern aus mehreren Jahrgängen, dabei ganz groß eine freche Comicfigur
Wer kritzelt, könne mehr oder weniger sein optimales kognitives Erregungsniveau erreichen. © Timo Schäferkordt

Die Pokémon-Figur hält niedlich die Hände vor ihrem Kinn – doch auf ihrer Stirn prangt ein rosafarbener Totenkopf. Bart Simpson hingegen scheint mit ausgestreckten Armen, offenem Mund und weit aufgerissenen Augen gerade in die Tiefe zu stürzen. Ein gewisser Uwe gibt kund: „Ich bin auch dabei“, während Harald aus Kassel seine Grüße „an die gesamte Reihe“ mit der Empfehlung garniert, es sich gutgehen zu lassen.

Nicht immer sind die Kritzeleien auf den ausgemusterten Tischen des Studiengangs Medienproduktion…

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des Studiengangs Medienproduktion an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe wirklich originell oder witzig. In jedem Falle aber sind sie, wie Guido Falkemeier, der Dekan des Studiengangs, betont, „ein Stück Zeitgeschichte“. Denn hunderte Studentinnen und Studenten haben sich darin verewigt, und damit sind die verkritzelten Tische zu schade, um achtlos entsorgt zu werden.

Sie wurden fotografiert und zum Teil eingelagert, und seitdem sind sie Forschungsobjekt von Michael Minge, dessen Hauptthemengebiet an der TH eigentlich die Innovationspsychologie ist. „Wie die meisten Wissenschaftler, die zu den Kritzeleien forschen, stieß ich zufällig auf das Thema“, erklärt er. „Aber als ich dann tiefer eingetaucht bin, hat es mich immer mehr fasziniert.“

Denn das wesentliche Merkmal der – wie sie im angloamerikanischen Sprachgebrauch genannt werden – scribbles oder doodles besteht darin, dass sie nebenbei entstehen, während wir unsere Hauptaufmerksamkeit auf etwas anderes lenken, wie etwa ein Telefongespräch, eine Sitzung, ein Videomeeting oder eben eine Vorlesung an der Universität. Klosprüche, Graffitis und die eingeritzte Liebeserklärung im Baum gehören also nicht dazu. „Die Kritzeleien, von denen wir sprechen, passieren auf einer Art Zwischenebene mit vielen unbewussten, unbeachteten Anteilen“, erläutert Minge.

Tagträumen wird unterdrücken

Deshalb muss auch keine Referentin und kein Gesprächspartner befürchten, dass die Kritzelnden abwesend sind oder sich langweilen. Im Gegenteil: Ihr versunkenes Treiben kann sogar ein Hinweis darauf sein, dass sie gerade besonders bei der Sache sind und sich deren Details einprägen.

Eine wegweisende Studie dazu erschien 2010 von Jackie Andrade, einer Psychologin der University of Plymouth. Sie spielte 40 Freiwilligen eine monotone, zweieinhalb Minuten dauernde Tonaufnahme vor, in deren Verlauf elf Personennamen, ein Katzenname und acht Ortsbezeichnungen auftauchten.

Die eine Hälfte der Teilnehmenden musste diese Tortur völlig betätigungslos durchstehen, die andere durfte währenddessen geometrische Figuren aufs Papier kritzeln, aber keine Notizen machen. Später wurden die Versuchspersonen beider Gruppen aufgefordert, die Namen aufzuschreiben, die sie sich gemerkt hatten. Die Kritzelgruppe kam dabei auf rund 30 Prozent mehr korrekte Nennungen als die Kontrollgruppe.

Andrade erklärt diesen Effekt damit, dass Doodeln unsere Neigung zum Tagträumen nicht etwa bestärkt, sondern unterdrückt. „Wir neigen gerade in Anbetracht eintöniger Aufgaben dazu, mit unseren Gedanken abzuschweifen“, so die Psychologin. Im Gehirn werde dann das sogenannte default network aktiviert, also jenes Leerlaufprogramm, das für eine Art kognitives Rauschen, aber eben gerade nicht für ein zielgerichtetes geistiges Arbeiten steht.

Optimales kognitives Erregungsniveau

In diesem Zustand schauen wir beispielsweise versonnen aus dem Fenster oder schwelgen in Erinnerungen. „Wer aber kritzelt“, so Andrade, „verhindert diese Tagträumereien und bringt seinem Gehirn die Aufmerksamkeit zurück, die es braucht, um fokussiert bei der Sache zu bleiben.“ Man erreiche mithilfe dieser Nebentätigkeit mehr oder weniger sein optimales kognitives Erregungsniveau.

Die Erkenntnisse der englischen Psychologin wurden mittlerweile in vielerlei Hinsicht bestätigt, aber auch etwas modifiziert. So bringt es laut einer US-Studie nur wenig, wenn man beim Zuhören lediglich unstrukturiert vor sich hinkritzelt.

Das Forschungsteam um Jason Boggs an der University of Nevada hatte seine Versuchspersonen aufgefordert, sich beim Anhören einer Tonaufnahme entweder Notizen zu machen, ohne Vorgabe irgendetwas aufs Papier zu kritzeln – zum Beispiel auch irgendwelche Sprüche – oder aber bei den Kritzeleien darauf zu achten, nur Vierecke, Kreise, Sterne und andere geometrische Formen zu zeichnen. Die freischaffenden Kritzlerinnen und Kritzler zeigten daraufhin ähnlich schlechte Erinnerungsergebnisse wie eine Kontrollgruppe, die ohne jegliche Hilfsmaßnahme auskommen musste. Die geometrisch strukturierten Doodler hingegen schnitten genauso gut ab wie diejenigen, die sich Notizen machen durften.

Kleinkunst, die das Gehirn aktiviert

Vermutlich haben diese Ergebnisse jedoch weniger mit den Strukturen als mit den Wahrnehmungs- und Einspeicherungskanälen zu tun, die beim Kritzeln belegt werden. Denn wer Sprüche niederkritzelt, bewegt sich in der Sprachverarbeitung und damit im gleichen kognitiven Bereich wie beim Telefongespräch oder dem Anhören eines Vortrags: Sprüche schreiben und gleichzeitig zuhören konkurriert also im Kopf miteinander um dieselben Verarbeitungsressourcen.

Es kommt, wie Minge erläutert, „zu Interferenzen, die am Ende dazu führen können, dass man noch unaufmerksamer ist als vorher“. Auf diese Weise droht dann doch das Horrorszenario einer jeden Referentin: Sie redet, und die Zuhörerschaft kritzelt derweil selbstversunken an ihren eigenen sprachlichen Kleinkunstwerken (statt etwa an konzentrationsfördernden Rauten oder Schlangenlinien). Das Ergebnis: Das Publikum ist in Gedanken bei den einzugravierenden Sprüchen statt bei der Ansprache.

Wer hingegen beim Doodeln räumlich-visuell, also beispielsweise beim Zeichnen von Gesichtern, Symbolen oder geometrischen Formen bleibt, hält das Risiko für Interferenzen gering. Sie oder er sorgt vielmehr im Gehirn für eine Aktivierung, die sich auch auf den auditiven Bereich überträgt: Die Konzentration nimmt insgesamt zu. Außerdem werden die auditiven und visuellen Informationen miteinander verknüpft, was sich positiv auf das Einprägen von Lerninhalten auswirken kann. Aus der gerontologischen Forschung ist bekannt, dass Demenzkranke sich Texte besser einprägen können, wenn sie diese singen, anstatt sie nur durchzulesen.

Das Gesagte wird untermalt

Beim Kritzeln einer Pokémon-Figur während eines Telefonats verhält es sich ähnlich: Der Informationsfluss aus dem Telefonhörer wird – im wahrsten Sinne – untermalt und auf diese Weise verstärkt, so dass sich seine Inhalte tiefer und stabiler im Gedächtnis eingraben. Vorausgesetzt die Zeichnung wird nicht zu anspruchsvoll. „Man muss aufpassen, dass man beim Kritzeln nicht in einen inneren Monolog gerät, dass ich beispielsweise meine Skizze fortwährend kommentiere und bewerte“, warnt Minge. „Das würde dann wieder zulasten meines verbalen Gedächtnisses gehen.“

Unter bestimmten Bedingungen kann also das Kritzeln dafür sorgen, dass wir mehr Informationen aus unserer Umwelt verarbeiten. Denkbar wäre darüber hinaus, dass wir beim Kritzeln insgesamt offener und transparenter für unsere Umwelt werden. Denn die gedankenlosen Kritzeleien entstehen ja auf einer Ebene, auf der es keine Selbstzensur gibt, wo wir also nicht darauf achten, was nach außen durchsickern darf oder nicht. Verraten also die Kritzeleien möglicherweise etwas über ihren Urheber, ihre Urheberin? Und welche Menschen drängt es besonders stark zum Herumkrakeln?

Als Hauptmerkmal einer Kritzlerin könnte man vermuten, dass sie zeichnerisch begabt ist. Schließlich waren es ja an der TH Ostwestfalen-Lippe die Tische aus dem Fach Medienproduktion, die so reichlich mit diesen Kleinkunstwerken verziert waren. Doch Minge stellt klar: „Man braucht keine künstlerischen Fertigkeiten, um im Vorlesungssaal einen Tisch vollzukritzeln.“ Was man schon eher braucht: eine gewisse Überwindung. Denn die soziale Akzeptanz sei – etwa bei einem geschäftlichen Meeting – nicht unbedingt vorauszusetzen. „Es gibt viele, die sich nicht trauen und – wenn überhaupt – nur heimlich, beispielsweise am Telefon zu Hause kritzeln“, so Minge.

Sich aktivieren und als handlungsfähig erleben

Ob aber kritzelaffine Menschen ein besonderes Naturell haben – also etwa bei bestimmten Persönlichkeitszügen eine auffällig starke Ausprägung –, könne man nach derzeitigem Kenntnisstand nicht sagen. Die Kritzeleien geben weniger Hinweise auf die Persönlichkeit als vielmehr auf die aktuelle Situation, in der sich ihre Urheberin gerade befunden hat (siehe auch den Kasten unten).

Oft geht es den Kritzelnden einfach darum, sich selbst zu aktivieren und als handlungsfähig zu erleben. Dies gilt vor allem für die klassische Vorlesungssituation, in der man gezwungen ist, 90 Minuten passiv irgendwelche Inhalte zu konsumieren. Das Kritzeln kann dort ein Ventil sein, das eigene Aktivitäten zulässt. Hinzu kommt ein weiteres attraktives Motiv, sofern bereits andere Doodles den Tisch zieren: Man antwortet dem Vorkritzler und gründet dadurch eine Interessengruppe mit ihm oder ihr. „Das kann man mit dem Sperrmüll vergleichen, den man auf den Bürgersteig gestellt hat“, so Minge. „Der wird ja auch meistens von anderen ergänzt.“

Bestimmte Kritzeleien wie etwa Blumen, strahlende Sonnen oder lachende Gesichter stehen zudem in einem engen Zusammenhang mit unserem emotionalen Zustand. Wobei nicht unbedingt klar ist, was dabei Henne und Ei ist. „Wenn ich eine Blume hinkritzle“, so Minge, „kann dies der Ausdruck meiner aktuellen, offenbar positiven Stimmung sein; es kann aber auch das Bemühen darum sein, mich in diese Stimmung zu versetzen.“

Frühwerke in der Grundschule

Jeremy Yocum, seinerzeit an der University of Northern Colorado, hat über 1000 Doodler befragt, um mehr über ihre Eigenschaften und Motive zu erfahren. Was den Kunstpädagogen am meisten überraschte: Von seinen Interview­partnern waren drei Viertel Frauen.

Fast jede zweite befragte Person gab an, schon seit ihrer Grundschulzeit zu kritzeln, und wenn sie es heute tue, dann vor allem beim Arbeiten und Telefonieren. Als Hauptmotiv wurde neben der Entspannung auch die Zerstreuung genannt. 40 Prozent der Befragten gaben zu, künstlerisch unbegabt zu sein. Dazu passt, dass sich 86 Prozent der IT-Fachleute als leidenschaftliche Kritzlerinnen und Kritzler outeten – immerhin sechs Prozent mehr als bei den Designern und Künstlerinnen.

Insgesamt kommt die Umfrage zu dem Schluss: Den typischen Doodler, die repräsentative Kritzlerin gibt es nicht. „Das Kritzeln ist nicht spezifisch für irgendeinen Job, irgendein Geschlecht oder irgendeinen Charakter“, konstatiert Yocum. Der gemeinsame Nenner sei schlicht: Kritzelfans fühlen sich unwohl, wenn sie nicht kritzeln können. Yocums Rat lautet daher: „Wer kritzelt, sollte es weiter tun und sich nicht davon abbringen lassen.“

Vier Kritzelklassen

Michael Minge hat bei den analysierten Tischkritzeleien an der TH Ostwestfalen-Lippe vier Typen ausgemacht:

Geometrische Muster (Würfel, Kreise, Gitter, Pyramiden) zeigen, dass die zeichnende Person sich um Strukturen bemüht. Schwarz-weiß schattierte Rauten, Vierecke oder Kreise, die an das Yin-und-Yang-Symbol erinnern, werden „oft so gedeutet, dass die oder der Betreffende gerade vor einem Entscheidungsproblem steht“, so Minge.

Florale Muster (Blumen, Bäume, Wälder, Landschaften) bringen die aktuelle oder auch gewünschte Stimmung der zeichnenden Person zum Ausdruck. Dabei dürften Blumen eher für positive Stimmungen stehen, während stark verzweigte Bäume auch bedeuten können, dass man gerade nicht so recht weiß, wo es emotional hingeht.

Den eigenen Namen findet man als Kritzelei vor allem in öffentlichen Räumen. Es liegt auf der Hand, dass da jemand seine Spur hinterlassen, sich verewigen will. Damit steht – jedenfalls bei ständiger Wiederholung – der Verdacht einer narzisstischen Selbstüberhöhung im Raum.

Gesichter oder Anteile von Gesichtern (vor allem Augen und Ohren), die nicht nur von Menschen, sondern auch von Comicfiguren stammen können, signalisieren wohl auch aktuelle und gewünschte Stimmungen. Das Problem dabei: Die Zeichnungen können – etwa bei der ausführlichen Darstellung einer Mimik oder dem Einbetten der Figur in eine Geschichte – so viel Aufmerksamkeit beanspruchen, dass nicht mehr genug Konzentration für das Telefonat oder den Vortrag übrig ist.

Literatur:

Jackie Andrade: What does Doodling do? Applied Cognitive Psychology, 24/1, 2010.

Jason Bruce Boggs u.a.: The Effects of Doodling on Recall Ability. Psychological Thought, 10/1, 2017

GD Schott: The art of medicine. Doodling and the default network of the brain. The Lancet, 378, 2011.

Jeremy Yokum: Who doodles and Why? Master of Art Thesis, University of Northern Colorado, 2017.

Elaine Chan: The negative effect of doodling on visual recall task performance. University of British Columbia, UBC 2012: 1.

Deekshita Sundararaman: Doodle Away: Exploring the Effects of Doodling on Recall Ability of High School Students. International Journal of Psycological Studies, 12/2, 2020.

Katherine Casario: Investigating the Effects of Doodling on Learning Performance. Stockton University, 2019.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2022: Was treibt mich an?