Mit mehr als 35000 Studien ist Selbstwert eines der am meisten beforschten Themen der Psychologie. Schon in den 1980er Jahren gab es einen regelrechten Boom, in den USA sprach man vom self-esteem movement, der Selbstwertbewegung. 1986 rief die Regierung von Kalifornien sogar die California Task Force to Promote Self-Esteem ins Leben, die – jährlich mit einer Viertelmillion Dollar ausgestattet – den Selbstwert von Schülerinnen und Schülern steigern sollte.
Denn Selbstwert galt als ein Allheilmittel: bessere…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
von Schülerinnen und Schülern steigern sollte.
Denn Selbstwert galt als ein Allheilmittel: bessere Noten, mehr Leistung im Job, Schutz vor Erkrankungen, Gewalt und Verbrechen – das und mehr versprach man sich davon, jungen Menschen ein besseres Verhältnis zu sich selbst zu vermitteln. Aber was ist Selbstwert überhaupt? Wo kommt er her? Lässt er sich beeinflussen?
Wer bin ich in meinen Augen?
Selbstwert wird definiert als die Bewertung des Bildes von sich selbst und damit als eine grundlegende Einstellung gegenüber der eigenen Person. Das heißt: Selbstwert ist, wie man sich selbst bewertet. Das sagt zunächst einmal nichts darüber aus, ob diese Bewertung auch angemessen ist. Eine Studentin kann miserable Noten haben und unbeliebt sein, aber trotzdem viel von sich halten. Ihr Studienkollege schreibt vielleicht nur Einsen und ist auf jedem Geburtstag eingeladen – und trotzdem nagen Selbstzweifel an ihm. Selbstwert hängt nicht damit zusammen, was man tut, sondern wer man in den eigenen Augen ist. So können schlechte Noten durchaus zum eigenen Selbstbild gehören, sie müssen aber nicht den Selbstwert mindern.
Hin und wieder ist auch vom Selbstwertgefühl die Rede. Dabei handelt es sich nicht um ein Gefühl im eigentlichen Sinne. Die Psychologin Kali H. Trzesniewski weist darauf hin, dass Selbstwert eher mit einer Charaktereigenschaft vergleichbar ist, wie zum Beispiel Schüchternheit: Die ist zwar von Situation zu Situation unterschiedlich, aber man bringt eine gewisse Veranlagung mit. Der Begriff Selbstbewusstsein wird umgangssprachlich oft synonym mit dem Begriff Selbstwert verwendet, bedeutet aber eigentlich etwas anderes: nämlich das Wahrnehmen des eigenen Ichs – im Gegensatz zur Wahrnehmung der Außenwelt – und die Kenntnis über die eigene Person und ihre Stärken und Schwächen.
Zwillingsstudien zeigen, dass der Selbstwert zu 40 Prozent von den Genen abhängt. Für die anderen 60 Prozent ist zum großen Teil die Erziehung verantwortlich. Wertschätzende Eltern tragen zu einem gesunden Selbstverhältnis bei. Wer zu Hause dagegen hohen Anforderungen ausgesetzt ist und abgewertet wird, hat es damit schwerer. Auch Erfahrungen mit Gleichaltrigen haben Einfluss: Mobbing und Ausgrenzung in der Schule führen oft dazu, dass die Opfer psychische Narben davontragen.
Veränderungen über den Lebenslauf
Im Jahr 2018 hat Ulrich Orth von der Universität Bern mit zwei Kolleginnen in einer Metaanalyse mit Daten von über 160 000 Personen untersucht, wie sich der Selbstwert im Lauf des Lebens verändert: Von der Kindheit bis zum Übergang ins Rentenalter steigt er demnach an und fängt ab etwa 70 Jahren langsam an zu sinken – aber erst mit 90 Jahren mehren sich die Selbstzweifel. Entgegen früheren Annahmen bleibt der Selbstwert in der Pubertät stabil, auch wenn der Anstieg im Alter zwischen 11 und 15 Jahren vorübergehend stagniert.
Was dagegen Einfluss haben kann, ist die Erfahrung von Diskriminierung. Einer Minderheit anzugehören kann den Selbstwert schwächen. Erstaunlicherweise ist aber auch der gegenteilige Effekt zu beobachten: Die Psychologin Bernadette Gray-Little und ihr Kollege Adam Hafdahl stellten in einer Metaanalyse fest, dass schwarze US-Amerikaner und -Amerikanerinnen im Schnitt sogar einen höheren Selbstwert hatten als ihre weißen Mitmenschen. Sie führten das darauf zurück, dass sich Erstere als Reaktion auf Diskriminierung stärker mit der eigenen Gruppe identifizierten.
Grundsätzlich handelt es sich beim Selbstwert um eine Bewertung – oder eher: einen Bewertungsstil. Und der ist in Maßen veränderbar. Ein erster Schritt kann sein, Achtsamkeit zu praktizieren, denn die hilft, sich innerer Monologe bewusstzuwerden. Ein Dankbarkeitstagebuch vermag dazu beizutragen, abwertende Selbstgespräche durch wertschätzende zu ersetzen. Selbstwertratgeber empfehlen zudem etwa, sich öfter etwas Gutes zu tun und Erfolge ausgiebig zu feiern.
Die Herausforderungen des Lebens meistern
Ein sehr niedriger Selbstwert steht in Verbindung mit vielen psychischen Problemen, so etwa Depressionen, Ess- oder Angststörungen. Und wer sich selbst wertschätzt, schreibt oft tatsächlich bessere Noten, ist erfolgreicher im Beruf und attraktiver für potenzielle Partner. Aber was kommt zuerst? Führt ein hoher Selbstwert zu Erfolg? Oder ist es umgekehrt? Beides stimmt, sagt Psychologieprofessorin Astrid Schütz im Gespräch mit Psychologie-Heute-Chefredakteurin Dorothea Siegle (siehe Seite 20). Erfolg fühle sich kurzfristig gut an, sei aber langfristig keine stabile Basis für den Selbstwert – denn niemand könne damit rechnen, immer Erfolg zu haben. Umgekehrt falle es Menschen mit niedrigem Selbstwert schwer, Erfolge zu erzielen, weil sie stark von Angst vor Misserfolg getrieben seien. So landeten sie in einem Teufelskreis, aus dem sie nur schwer wieder herausfänden.
Der Sozialpsychologe Michael Kernis sprach nicht von einem hohen, sondern vom optimalen Selbstwert. Dieser entsteht, wenn man erfolgreich die Herausforderungen des Lebens meistert und wertschätzende Beziehungen mit anderen Menschen führt. Dabei spielt die Authentizität eine sehr große Rolle: Nur wer sich nicht verbiegt, trifft sinnvolle Entscheidungen und wird für das geschätzt, was er oder sie ist.
Für Kernis hieß das aber auch, sich nicht erschüttern zu lassen, wenn einem mal etwas nicht gelingt. Ihm zufolge muss man also beides im Blick behalten: eine gelungene Lebensführung und die Grundüberzeugung, dass man wertvoll ist, egal was passiert.
Felix Kunz