Ein Gespräch mit dem Karriereberater Martin Wehrle über Menschen, die in ihrem Berufsalltag allzu bescheiden auftreten
Herr Wehrle, kommt es vor, dass Menschen in Ihrer Beratung sagen: „Ich bin zu nett“?
Ich höre oft: „Zu häufig sage ich ja, obwohl ich nein meine. Ich gebe mich freundlich, obwohl ich innerlich grolle.“ Ein Beispiel: Ein Klient von mir hat sich jedes Jahr darüber geärgert, dass er bei der Urlaubsplanung den Kürzeren zog. Er hat schulpflichtige Kinder, aber seine Kolleginnen und Kollegen waren…
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Urlaubsplanung den Kürzeren zog. Er hat schulpflichtige Kinder, aber seine Kolleginnen und Kollegen waren immer schneller und haben sich die beste Urlaubszeit in den Ferien geschnappt. Und er schaute in die Röhre, gab sich aber verständnisvoll. Seine Frau war enttäuscht, die Kinder auch. Im nächsten Jahr ging er mit mehr Rückgrat in die Diskussion über die Urlaubszeiten und vertrat erfolgreich seine Interessen. In der Beratung erfahren die Menschen, dass ihr Muster, reflexartig ja zu sagen, ihnen nicht guttut.
Ihr Klient musste ja dahin kommen zu sagen: Meine Interessen und Bedürfnisse sind genauso wichtig wie die der anderen. Das dürfte für chronisch nette Menschen gar nicht so leicht sein.
Aber es ist wichtig für's eigene Wohlergehen. Ich weise meine Klienten und Klientinnen immer wieder darauf hin: Es ist zwar wunderbar, nett zu sein – aber die Nettigkeit darf nicht nur nach außen fließen. Ich darf nicht nur nett zu anderen sein, ich muss auch nett zu mir sein und die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen, mir Selbstrespekt entgegenbringen. Nur dann kann ich meine Interessen vertreten. Wer sich selbst nicht ernst genug nimmt, wird auch von anderen nicht ernst genommen.
Sie schreiben: Nette Menschen ziehen es unbewusst vor, sich den Erwartungen der anderen anzupassen, weil sie den Stress von Auseinandersetzungen vermeiden wollen. Dahinter steckt ja die Idee, dann habe ich weniger Stress.
Und das ist eben ein schwerer Trugschluss, denn der Stress, den ich habe, wenn ich nein sage und vielleicht einen Konflikt riskiere, ist ein kurzer Stress. Es ist wie bei einem Gewitter. Es blitzt kurz und wird dunkel, und dann wird der Himmel wieder klar. Wenn ich hingegen meinen Ärger runterschlucke, habe ich dauerhaft ein betrübtes Leben. Das mindert meine Strahlkraft nach außen.
Dann bin ich wie eine trübe Scheibe und kann meine Qualitäten schlecht nach außen sichtbar machen. Menschen, die sehr nett sind, glauben, für ihre Nettigkeit respektiert und geliebt zu werden. Aber in Wirklichkeit führt ausgeprägte Nettigkeit dazu, dass die anderen misstrauisch werden und sich fragen, was dahintersteckt. Und man wird im Job nicht ernst genommen.
Woran liegt das?
In Stellenbeschreibungen ist Durchsetzungsfähigkeit gefragt. Im Top- und mittleren Management werden Sie niemanden finden, der als nett bezeichnet wird. Im privaten Umfeld ist es wunderbar, nett zu sein. In Verhandlungen ist es tödlich. Wenn ich in einer Verhandlung sitze, meine Gehaltsvorstellung nenne und verlegen lächele, sende ich das Signal, dass ich nicht hinter meiner Forderung stehe. Dann werde ich knallhart dafür bestraft und ausgenutzt.
Vor allem Frauen neigen zu diesem Lächelreflex, weil Mädchen immer noch eher dafür gelobt werden, dass sie brav und lieb sind. Das geht schon bei der Sprache los. Nette Menschen verwenden gerne den Konjunktiv: „Es wäre schön, wenn ich ein Einzelbüro bekommen könnte.“ Das kommt in der heutigen Geschäftswelt als unsicher rüber. Eine Forderung ernsthaft und verbindlich zu formulieren ist das Mittel zum Erfolg.
Diejenigen, die hartnäckig bei ihren Forderungen bleiben, setzen sich durch. Sie werden bedient nach dem Feuerwehrprinzip: Hier schreit einer laut und macht Alarm. Die Netten sagen: „Der Chef muss doch sehen, was ich hier alles leiste, und mir eine Beförderung anbieten“, und wundern sich, dass nichts passiert. Ich wünsche mir auch, dass Führungskräfte aktiv auf die zurückhaltenden und sozialen Mitarbeiter zugehen. Aber in dieser idealen Welt leben wir leider nicht.
Wer nett und zurückhaltend ist, hat oft Sorge, zu forsch und fordernd aufzutreten und Ärger zu provozieren. Ist diese Sorge nicht begründet?
Ich habe neulich eine Assistentin der Geschäftsführung in einer Gehaltsverhandlung beraten. Sie sagte: „Ich werde doch dafür bezahlt, dass ich meinem Chef Probleme vom Hals halte, und nicht dafür, dass ich ihm welche mache.“ Sie wollte ihren Chef nicht mit ihrem Gehaltswunsch belästigen. Ich habe ihr eine andere Denkmöglichkeit angeboten und gesagt: Wenn ich Ihr Chef wäre, und Sie sind unzufrieden, weil Sie zu wenig verdienen, und Sie legen mir irgendwann die Kündigung hin, dann wäre ich richtig sauer auf Sie. Ich finde sogar, Sie sind es mir schuldig, ehrlich zu sagen, was Sie wollen, denn nur wenn ich das weiß, kann ich es Ihnen geben.
Viele Führungskräfte sagen jedoch: „Kommen Sie mir nicht mit Problemen, liefern Sie mir Lösungen.“ Entsteht dadurch nicht auch eine Schwierigkeit, selbstbewusst aufzutreten?
Natürlich, und diese Verunsicherung ist gewollt. Kein Großunternehmen ist scharf darauf, dass die Mitarbeitenden etwas fordern. Sie sollen sich zurückhalten und mit dem zufriedengeben, was sie haben. Die Netten lassen sich davon einschüchtern, die weniger Netten stürmen trotzdem nach vorne. In meinem Buch vertrete ich die These: Wenn die Netten den weniger Sozialen immer den Vortritt lassen, setzen sich die Ellbogentypen durch.
Ich sage meinen Klientinnen und Klienten: Indem Sie sich als netter Mensch um den Job bewerben und ihn kriegen, machen Sie die Arbeitswelt sozialer und können auch andere Menschen Ihres Schlages in Positionen bringen. Das heißt, man ist nicht egoistisch, sondern tut auch etwas für die Gemeinschaft, wenn man als sozialer Mensch nach vorne geht.
Leider haben ja die Netten den Eindruck, dass sie keine Chance haben gegen die Durchsetzungsstarken.
Sozialkompetente Menschen haben ein paar Vorteile gegenüber den Ellbogentypen. In der Regel haben sie sehr gute Netzwerke, sie sind empathisch und haben einen guten Draht nach oben. Wenn sie sich mit ganzem Herzen entscheiden, auf ein Ziel zuzugehen, finden sie oft Unterstützung. Und sie können mit der ausgestreckten Hand mehr erreichen als andere, die mit der Faust auf den Tisch hauen. Aber es braucht dazu den klaren Entschluss: Ich will! Nettigkeit braucht als Ergänzung auch Zielstrebigkeit und Durchsetzungskraft.
Was hilft, um sich besser abzugrenzen?
Wenn ich eine Grenze setze, reicht es nicht, sie im Kopf zu haben. Andere müssen sie bemerken und spüren: bis hierher und nicht weiter. Ich verwende im Coaching gern das Bild eines Grundstücks. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Flussgrundstück frisch erworben, aber die Menschen, die dort baden und Fußball spielen, wissen es noch nicht.
Können Sie nun erwarten, dass sie Ihr Grundstück nicht mehr betreten? Natürlich nicht. Sie müssen schon ein Schild „Betreten verboten“ aufstellen und sich auch überlegen, was Sie tun werden, wenn jemand trotzdem Ihr Grundstück betritt. Vielleicht müssen Sie auch noch einen Zaun bauen. Das Bild des Grundstücks kann Ihnen helfen, Schritt für Schritt klare, unmissverständliche Grenzen zu ziehen.
Könnten Sie die Metapher an einem Beispiel erläutern?
Wenn ich eine ungestörte Arbeitsstunde im Büro durchsetzen möchte, muss ich alle informieren: Leute, ich will in der ersten Stunde nicht gestört werden. Die brauche ich für kreative Arbeit. Wenn trotzdem jemand reinkommt mit einer Frage, verweise ich darauf, dass ich in der ersten Stunde Ruhe will. Wenn das noch mal passiert, muss ich mir überlegen, ob ich die Tür abschließe oder in ein anderes Büro gehe. Wenn ich eine Grenze setze, muss ich sie in jedem Fall verteidigen. Anfangs brauche ich mehr Energie und muss mich überwinden, konsequent zu sein. Wenn die anderen die neuen Spielregeln gelernt haben, muss ich fast nichts mehr tun.
Viele sozial ausgerichtete Menschen sagen: Ich habe keine Lust auf diese ganzen Grenzziehungs-, Status- und Konkurrenzspiele, ich will einfach nur gut meine Arbeit machen. Wie hoch ist der Preis für diese Haltung?
Sehr hoch, weil ich irgendwann das Gefühl haben werde, ich werde benachteiligt. Eine Kollegin wird bei Meetings mit Applaus bedacht, während ich, die ich viel mehr kann, als Mauerblümchen vor mich hinwelke. Wer sich immer nur auf die Interessen der anderen konzentriert, übersieht seine eigenen Grenzen und Interessen. Jeder und jede von uns ist wie ein Boot mit einer bestimmten Tragkraft. Wir können Anliegen anderer in einer gewissen Menge auf uns laden, aber wenn wir es übertreiben, gehen wir unter und können auch den anderen nicht mehr helfen.
Der Grundsatz sollte lauten: Ich bin nett zu anderen, aber ich achte auch darauf, wie ich behandelt werde. Wenn mir ein Kollege immer nur Gefallen abverlangt, aber mir nie hilft, dann bin ich nicht mehr so nett. Es geht um ein gesundes Geben und Nehmen. Die Nettigkeit an sich ist eine wunderbare Eigenschaft, wir müssen nur bewusst damit umgehen.
Martin Wehrle ist Coach und leitet die Karriereberater-Akademie. Der gelernte Journalist hat zahlreiche Ratgeber und Sachbücher verfasst, zuletzt: Den Netten beißen die Hunde (Mosaik 2021)