„Ich hörte schon Schreie“

Macht sie einen Fehler, geraten tausende Menschen in Gefahr. Wie geht eine Eventmanagerin aus Berlin damit um, nie alle Risiken vorhersehen zu können.

Die Collage zeigt Konzerte, Menschen, Mikrofone und Walkie-Talkies
Als Planender eines Events befürchtest du das Schlimmste und musst ruhig bleiben, wenn es tatsächlich eintritt. © Luisa Stömer für Psychologie Heute

„Bist du Türsteherin?“, fragen viele, wenn sie hören, dass ich bei einer Sicherheitsfirma arbeite. Security wird oft belächelt. Ein alter Pförtner sitzt an einer Schranke und drückt ein Knöpfchen, ein bulliger Typ lässt Leute in den Club – so stellen sich das viele Menschen vor. Dabei gehört viel mehr dazu. Wenn du auf ein Konzert gehst, muss jemand deine Karte abreißen, im Bühnengraben stehen, dich im Notfall aus der Menge ziehen, Streit schlichten, die Notausgänge freihalten, die Menge sicher vom Platz leiten. Und all das muss geplant und organisiert werden, im Vorfeld und vor Ort. Das ist meine Aufgabe.

Das Unternehmen, bei dem ich arbeite, sichert alles, von Firmenevents über Fußballspiele und Festivals bis hin zu Staatsbesuchen. Manchmal stellen wir nur einen Teil der Ordnungsdienstleistungen, manchmal alles. Es kommt vor, dass wir bis zu 1200 Mitarbeitende vor Ort haben.

Als Projektmanagerin bin ich für die Planung und Leitung verantwortlich. Sechs bis acht Monate vorher fange ich an und frage mich: Wie sieht der Ort aus und wie viel Personal brauchen wir, wo soll es stehen? Ich überlege, was alles passieren könnte, spiele verschiedene Szenarien durch und bereite das Team darauf vor. Bei Großveranstaltungen trage ich Verantwortung für tausende von Menschen. Das ist eine enorme Belastung.

"Ganz Ruhig. Sammle dich."

Sobald eine Veranstaltung losgeht, erfasst mich eine innere Unruhe. Ich stehe unter Adrenalin, kann nicht sitzen, muss mich bewegen. Meine Verantwortung muss ich ernst nehmen – und gleichzeitig ausblenden, damit ich arbeiten kann. Im Hinterkopf aber bleibt die Sorge: Was, wenn Menschen aufgrund einer Fehlplanung verletzt werden? Oder sterben? Ich kenne Kolleginnen und Kollegen, die Beruhigungsmitteln nehmen, um das auszuhalten.

Meine größte Sorge sind Drucksituationen. Das kennt die Öffentlichkeit seit der Loveparade in Duisburg 2010. Die Menschen können nicht mehr vor und zurück, Panik bricht aus. Wenn so eine Situation erst mal eintritt, gibt es einen Punkt, an dem man nichts mehr tun kann, an dem man absolut machtlos ist. Das macht mir Angst.

Einmal waren wir nah dran. Bei einem Festival mit 60000 Menschen war ein Ausgang vom Veranstalter nicht aufgeschlossen worden. Die Menschen strömten nachts dorthin, wollten raus, aber es ging nicht. Sie stauten sich in einer Sackgasse. Die Securityleute funk­ten mich panisch an, im Hintergrund hörte ich schon Schreie. In so einer Situation denke ich nicht mehr. Schon gar nicht an das, was passieren könnte.

Ich konzentriere mich auf meinen Atem und versuche über meine Wortwahl alle anderen zu beruhigen. Wie die Sicherheitskraft: „Bleib ganz ruhig. Atme durch. Sammle dich.“ Selbst wenn jede Minute zählt: Es ist wichtig, dass der- oder diejenige die Lage richtig erklärt, denn Fehlinformationen machen es schwieriger, richtig zu handeln. Zum Glück konnten wir die Menge noch auflösen und die Situation entspannen.

Grenzenlose Dummheit

Ich muss damit leben, dass trotz der besten Planung viel Unvorhergesehenes geschehen kann. Vielleicht habe ich am Eingang schon Personal abgezogen und dann kommt eine größere Gruppe und macht Ärger. Oder die Menge bei einem Fußballspiel bleibt friedlicher als erwartet, aber bei einem Konzert trinkt sie stark und wird aggressiv. Oder Unwetter: Der Platz ist nicht mehr begehbar und muss evakuiert werden. Außerdem brauche ich Vertrauen in mein Team, die Arbeit ist keine Soloshow.

Häufig trage ich bis zu drei Funkgeräte bei mir und höre auf allen ständig meinen Namen rufen. Ich bin die ganze Zeit erreichbar, selbst nachts. „Auf Ruf“, sagt man bei uns. Bei großen Veranstaltungen schlafe ich drei Tage hintereinander nicht. Hier und da mal ein paar Stunden, aber immer zu wenig. Essen schiebe ich mir im Vorbeigehen in den Mund. Danach bin ich fertig. Nicht nur körperlich, auch geistig. Rich­tig ausgebrannt. Ich kann nicht mehr telefonieren, nicht mehr reden. Wenn möglich nehme ich mir frei und schlafe, gehe schwimmen oder ins Fitnessstudio. Der Computer bleibt aus, das Telefon lege ich weg: Mediendetox.

Es ist paradox. Um diesen Job zu machen, musst du gern mit Menschen arbeiten. Aber wenn du mit so vielen Menschen zu tun hast wie ich, magst du sie oft nicht mehr. Manchmal wünsche ich mir wirklich, wir würden bald aussterben. Diese grenzenlose Dummheit. Dieser Egoismus. Unfassbar. 70000 Leute im Stadion und sie können nicht zehn Minuten auf ihr Bier warten. Oder auf eine Toilette. Oder sie wollen nicht einsehen, dass „Keine Flasche mit reinnehmen“ auch für sie gilt. „Ich werfe die nicht“, sagen sie. „Ach ja, woher soll ich das wissen?“, antworte ich. Sie denken, wir wollten sie mit unseren Vorgaben ärgern. Sie wissen nicht, wie es aussieht, wenn Menschen mit blutigen Köpfen bei den Sanitätern liegen. Ich schon.

Reden hilft

Ich trage Verantwortung für Verantwortungslose. Manchmal regt mich das so auf. Zumal wir als Securitypersonal oft nicht einmal geachtet werden. „Für die Polizei hat es wohl nicht gereicht?“, habe ich schon gehört. Mein Chef sagt: Schluck es runter. Aber ich habe festgestellt, dass mir Reden mehr hilft. Etwa einmal im halben Jahr gehe ich zu einer Psychologin und spreche mit ihr über das, was mich belastet. So befreie ich mich aus Gedankenspiralen wie: Hätte ich etwas anderes tun können? Etwas anderes sagen?

Freunde von früher sagen mir, mein Blick habe sich verändert. Ich schaute immer skeptisch. Immer streng. Ich fühle mich auch privat schnell verantwortlich dafür, dass alles läuft, und bin dominanter geworden. Andererseits gehe ich nicht mehr so schnell an die Decke, weil ich das im Beruf auch nicht kann. Meine Selbsteinschätzung hat sich ebenfalls verändert. Ich gehe so oft an meine Grenzen, dass ich weiß, was ich leisten kann und was nicht. Hin und wieder wünsche ich mir einen leichteren Job. Jeden Tag dasselbe, alles planbar, immer gleich. Aber im Grunde bin ich froh, dass ich nicht von Montag bis Freitag im Büro sitze.

Manche Kolleginnen und Kollegen gehen privat nicht mehr auf Konzerte. Sie können es nicht mehr genießen. Ich kann es noch, aber mein Blick sucht trotzdem als Erstes nach den Notausgängen.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie gerne auch was Psychologin Birgitta Sticher zu den psychischen Folgen bei Verantwortung für Menschenleben zu sagen hat in Verantwortung für Menschenleben.

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