Die globale Dummheit

Die Psychiaterin Heidi Kastner hat einen Essay über Dummheit geschrieben – ein Phänomen, das aus ihrer Sicht aktuell Hochkonjunktur hat.

Ist der Corona-Impfgegner dumm? Das fragt die Schweizer SonntagsZeitung Heidi Kastner Anfang November in einem Interview. „Zu diesem Schluss muss man kommen“, antwortet diese lakonisch. Heidi Kastner ist Chefärztin der forensischen Abteilung des Kepler-Universitätsklinikums im österrei­chischen Linz – und hat ihren Essay genau zur rechten Zeit veröffentlicht: „Dummheit hat Hochkonjunktur“, lautet die Schlagzeile des Interviews, das hierzulande auch in der Süddeutschen Zeitung erschien.

In den gut 100 Seiten ihres Essays steckt viel Fassungslosigkeit über das Verhalten der Menschen angesichts der Coronapandemie. Dennoch wirkt Kastners Ton nicht aggressiv, hier analysiert eine Wissenschaftlerin, wenn auch eine aufgebrachte.

Wut gilt es auszuleben

Mit Wut kennt Heidi Kastner sich aus. Im Jahr 2014 veröffentlichte sie Wut. Plädoyer für ein verpöntes Gefühl und rehabilitierte diesen Affekt als etwas, das es auszuleben und nicht zu unterdrücken gelte. Denn innerlich nie­dergerungen, wird Wut zur Aggression. Wohin diese führen kann, das weiß die Gerichtspsychiaterin nur zu gut.

Sie hat bereits zahlreiche Straftäterinnen und Verbrecher begutachtet. Größere Bekanntheit erlangte sie 2009 durch den Fall von Josef Fritzl: Der verurteilte Österreicher hielt seine Tochter 24 Jahre lang in einem Keller gefangen und zeugte sieben Kinder mit ihr. In Interviews antwortet Heidi Kastner stets routiniert, mit nüchterner Sparsamkeit. Wird sie gefragt, wie sie Fritzl erlebt habe, sagt sie: „Ich kann mich nicht über ihn beklagen.“

Dass sie über Dummheit schreiben würde, wusste Heidi Kastner bereits, bevor Corona ausbrach. Sie fragte sich, weshalb selbst mehr oder minder intelligente Menschen dumm handeln. Im Essay ergründet sie zunächst kursorisch die Befunde der Intelligenzforschung, die sich an einer allgemeingültigen Definition die Zähne ausbeißt.

Die Säulen der Dummheit

Sie weist auf offene Forschungsfragen hin und führt eigene Gedanken auf den Spuren berühmter Denkerinnen und Autoren wie Robert Musil, Saul Bellow, Doris Lessing, Hannah Arendt oder Carlo Cipolla aus, was diesen Essay zu einer intertextuellen Fundgrube macht.

Heidi Kastner nimmt die Verschwörungsnarrative, die Klimakrise und den Rechtspopulismus in den Blick und konstatiert: Die globale Dummheit neh­me durch die Informationsignoranz vieler Menschen zu. Diese hätten ein Recht auf eine eigene Meinung, aber keines auf eigene Fakten. Sie kategorisiert diese Gruppen in „Denkfaule“, „Lernverweigerer“, „Verschwörungstheoretiker“, „Faktenverweigerer“ und „Ignoranten“. Sie bildeten die Säulen der Dummheit.

Zum Schluss widmet sie sich der „Gefühlsdummheit“ und dem umstrittenen Konzept der emotionalen Intelligenz, die wir besser „emotionale Kom­petenz“ nennen sollten. Was es dazu braucht? Selbsterkenntnis, Selbstkontrolle und am wichtigsten: emotionale Empathie. Und wir müssen endlich Worte finden für unsere Gefühle! Wenn Heidi Kastner einen straffällig gewordenen Menschen fragt: „Wie haben Sie sich unmittelbar vor der Tat gefühlt?“, dann lautet die Antwort häufig schlicht: „Nicht gut.“

Literatur

Heidi Kastner: Dummheit. Kremayr & Scheriau, Wien 2021, 112 S., € 18,–.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2022: Burn on
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