Die Bindungstheorie hat einen Siegeszug hinter sich. Ob Kindererziehung, Sorgerecht oder Partnerschaft – in vielen Bereichen ist von ihr die Rede. Doch welche der Thesen sich wirklich belegen lassen und welche Annahmen im Laufe der Zeit hinzugedichtet oder hineininterpretiert wurden, scheint viel zu wenig im Blick zu sein. Deshalb haben wir zwei Fachleute zum Video-Interview gebeten. Vorab einige Fakten:
Mitte des 20. Jahrhunderts untersuchte der britische Kinderpsychiater John Bowlby die Auswirkungen früher…
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Fakten:
Mitte des 20. Jahrhunderts untersuchte der britische Kinderpsychiater John Bowlby die Auswirkungen früher Mutter-Kind-Trennungen. Seine These: „Bindung“, das sogenannte emotionale Band zwischen Kindern und Eltern, entwickelt sich biologisch gesehen eigenständig, also unabhängig von Bedürfnissen wie Hunger oder Sexualität. Entsprechend heftig wurde Bowlby von Psychoanalytikerinnen und -analytikern kritisiert.
Doch John Bowlby und seine Mitarbeiterin Mary Ainsworth ließen sich nicht beirren und machten zahlreiche Verhaltensbeobachtungen. Unter anderem entwickelte Ainsworth den später vielfach wiederholten „Fremde-Situation-Test“, mit dem sie Bindungsqualität systematisch erfassen wollte. Kleinkinder werden dabei kurz von ihrer Mutter getrennt und ihre Reaktionen beobachtet. Entsprechend werden die Kinder dem sicheren oder einem der unsicheren Bindungsmuster zugeordnet. Laut Ainsworth entscheidend für das Muster: wie feinfühlig, das heißt wie prompt und effektiv eine Mutter auf die Signale ihres Kindes reagiert.
Frau Professorin Keller, in Ihrem Buch Mythos Bindungstheorie üben Sie heftige Kritik: Sie sagen, die Grundannahmen seien falsch, ideologisch einseitig, diffus und unklar. Warum meinen Sie das?
Heidi Keller: …weil die Bindungstheorie nicht den Kriterien einer guten Theorie entspricht. Es ist kein geschlossener Satz von Kernannahmen, und manches ist einseitig aus der Literatur herausgepickt und missverständlich oder widersprüchlich formuliert.
Beziehen Sie sich damit auf Bowlbys und Ainsworths Erkenntnisse oder auch auf neuere Thesen?
Keller: Es wird ja immer verteidigend gesagt, die Bindungstheorie habe sich während der letzten Jahrzehnte unglaublich verändert. Das kann ich aber nicht sehen. Es sind zwar Gebiete dazugekommen – wie die neurokognitive und die neuroaffektive Forschung –, aber in Bezug auf die frühe Kindesentwicklung haben sich die Grundannahmen seit Bowlby und Ainsworth nicht wesentlich geändert. Es ist ein simpler Ansatz, der auch den politischen Vorstellungen ganz gut entspricht.
Wie meinen Sie das?
Keller: Man muss Wissenschaft immer gesamtgesellschaftlich sehen. Die Rolle der Mutter hängt mit der Sicht auf Arbeit zusammen – ob sich Mütter ums Kind kümmern oder Geld verdienen sollen. Es gibt ein bestimmtes Familienbild, das sich an den Vorstellungen der Mittelschichtsideologie in westlichen Ländern orientiert.
Ein patriarchales Bild also, das die Forschung beeinflusst.
Keller: Ja, natürlich. Forscherinnen und Forscher betonen zwar heutzutage, dass nicht nur die Mutter eine Rolle spiele. Der Monotropie-Ansatz sei aufgegeben. [Monotropie-Ansatz: die Annahme, dass Säuglinge nur eine Hauptbindungsperson haben und dies normalerweise die Mutter ist, Anm.d.Red.]
Aber trotz dieser Beteuerungen untersuchen weit über 80 Prozent aller empirischen Studien immer noch die Mütter im Fremde-Situation-Test, ohne das tatsächliche Beziehungsnetzwerk des Kindes zu prüfen. In viele Kulturen spielen andere Kinder eine wichtigere Rolle als Mütter und generell Erwachsene, wenn es um die Sozialisation und Beziehungsentwicklung geht.
Herr Professor Spangler, herzlichen Dank für Ihre Geduld, jetzt lassen wir Sie zu Wort kommen. Wie stehen Sie zu diesen Aussagen?
Gottfried Spangler: Die Bindungstheorie, wie ursprünglich von Bowlby beschrieben, ist tatsächlich keine im Detail ausformulierte Theorie und beinhaltet unterschiedliche Annahmen. Aber im Gegensatz zu Frau Keller denke ich, dass sich in der Forschung inzwischen einiges verändert hat, zum Beispiel bei der besagten Monotropie-Annahme: Natürlich werden die meisten Studien mit Müttern gemacht – aber nicht weil Väter von vornherein als unwichtig betrachtet werden, sondern weil sie seltener bereit sind mitzumachen und weil in den meisten Familien de facto immer noch Mütter die Hauptbezugspersonen sind. Wenn in Studien hauptsächlich mit Müttern gearbeitet wird, bildet das eine gewisse Realität ab.
Keller: Wenn die Untersuchungen in Westeuropa, USA und Australien gemacht werden, sind natürlich Mütter die Hauptbezugspersonen. Aber die Bindungstheorie beansprucht universale Gültigkeit.
Ich hatte verstanden, Sie hielten die Theorie auch in Bezug auf westliche Kulturen und Milieus für limitiert.
Keller: Ja, weil sie von lediglich einer erwachsenen Hauptbezugsperson ausgeht. In der Realität haben doch auch Kinder in der sogenannten westlichen Mittelschicht häufig mehrere Bezugspersonen. Und ich sehe auch die Schattenseiten: Auf Müttern lastet so ein Druck, gute Bindungspartnerinnen für ihr Kind zu sein, dass sie mit einem parental burnout syndrome in der Psychiatrie landen können.
Spangler: Natürlich können Kinder mehrere Bezugspersonen haben. Und natürlich liegt bei dem überwiegend betreuenden Elternteil eine sehr hohe Verantwortung, aber ich glaube nicht, dass Burnout ein Problem der Bindungstheorie ist.
Bevor wir weiter in Details einsteigen, lassen Sie uns einmal klären, was Sie jeweils unter Bindung verstehen.
Keller: Ich spreche lieber von „Beziehungen“, denn beim Begriff „Bindung“ fängt das Problem schon an: Sie ist als emotionales Band definiert, das sich im Lauf des ersten Lebensjahrs aufgrund bestimmter Interaktionen zwischen Mutter und Kind entwickelt. Für diese Entwicklung ist Emotionalität entscheidend.
Das Verhalten und Erleben sind aber kulturell sehr unterschiedlich. Forschende erklären eine kulturspezifische Definition, die für eine sehr kleine Bevölkerungsgruppe zutreffen mag, als universal. Abweichungen von diesem Konzept werden von vornherein als Defizit bewertet, ohne den jeweiligen Kontext und dessen Standards in Betracht zu ziehen.
Spangler: Wie Frau Keller sagte, wird Bindung als emotionales Band definiert, wobei darunter sowohl sichere als auch unsichere Muster zu verstehen sind. Säuglinge suchen Nähe, weil sie Hilfe bei der Emotionsregulation benötigen. Mit zunehmendem Alter ist das ausschließlich die Nähe zu einer oder wenigen bestimmten Personen.
Suchen alle Menschen auf der Welt Nähe?
Spangler: Ich gehe davon aus.
Keller: Aber es ist in vielen Kulturen eben nicht die Nähe zu einer bestimmten Person. Es ist ein austauschbares Netzwerk und Grundlage der erworbenen Sicherheit, dass immer jemand da ist, der sich fürsorglich verhält. Es gibt sehr viele unterschiedliche Muster in unterschiedlichen kulturellen Gruppen, bestimmte Personen können im Netzwerk wichtiger sein, es kann aber auch sein, dass die Personen vollständig austauschbar sind. Hier fehlt noch sehr viel Forschung.
Auch der Umgang mit Fremden ist sehr unterschiedlich. Wir haben Untersuchungen im Nordwesten Kameruns gemacht, wo sich einjährige Kinder ohne Probleme von Fremden auf den Arm nehmen lassen. Das wäre in unserem Lebenskontext nicht möglich.
Spangler: Ich weiß nicht, was Sie unter „Netzwerk“ verstehen, aber ich bin in einer Großfamilie aufgewachsen. Für mich waren diese Verwandten Bindungspersonen, die mir aber unterschiedlich nahestanden. Insofern kann es ein Netzwerk sein und es müssen nicht die leiblichen Eltern sein, aber die Bindungspersonen sind nicht einfach austauschbar. Es werden immer vertraute Personen sein, zu denen das Kind einen mehr oder weniger kontinuierlichen Zugang hat.
Sonst hätten Kinder in Heimen, wo ja auch immer irgendjemand da ist, nicht so viele Probleme mit Bindungen und emotionaler Regulation. Auf der anderen Seite können Kinder durchaus innerhalb eines Jahres mit Pflegeeltern, die wie Eltern in einer „normalen Familie“ kontinuierliche Bezugspersonen darstellen, sichere Bindungen aufbauen.
Stichwort „sichere Bindung“ – die Einteilung von Kindern in „sicher“ oder „unsicher gebunden“ ist ja auch ein Streitpunkt. Vielleicht können Sie kurz erklären, was man darunter versteht.
Spangler: Kinder nutzen unterschiedliche Strategien in bindungsrelevanten Situationen, zum Beispiel wenn sie Angst haben. Manche Kinder suchen die Nähe zur Bezugsperson und lassen sich mit ihrer Hilfe beruhigen. Bei anderen hat man den Eindruck, sie vermeiden den Kontakt oder sind nicht dazu in der Lage, ihn zu suchen. Wieder andere teilen intensiv ihr Nähebedürfnis mit, klammern sich an, aber schaffen es nicht, sich mithilfe der Bezugsperson zu regulieren.
All diese Muster wurden bei Einjährigen und ähnlich in späteren Entwicklungsphasen beschrieben. Erklärt wird das durch ein inneres Arbeitsmodell von Bindung: Es wird angenommen, dass Kinder auf Basis der Erfahrungen mit ihren Bezugspersonen Erwartungen an deren Verhalten und Vorstellungen über eigene Verhaltensmöglichkeiten entwickeln. Diese Erwartungen und Vorstellungen steuern das kindliche Verhalten in beziehungsrelevanten Situationen.
Oft liest man sogar Prozentzahlen – 70 Prozent der Kinder seien sicher gebunden. Lässt sich Bindung wirklich so genau messen?
Spangler: Tatsächlich konnten zahlreiche empirische Studien ungefähr zwei Drittel der Kinder dem sicheren Spektrum zuordnen. Allerdings gab es eine massive Debatte, als in den 1970er Jahren in der von den Grossmanns durchgeführten ersten deutschen Längsschnittstudie mehr als die Hälfte der Kinder das vermeidende Muster zeigte, sie also ihre emotionalen Bedürfnisse wenig zum Ausdruck brachten und keine Nähe suchten.
Beispielsweise merkte der Verhaltensbiologe Robert Hinde an, dieses Muster könne unter bestimmten Bedingungen möglicherweise günstiger sein für die Emotionsregulation. Es blieb aber die einzige deutsche Stichprobe mit diesem Ergebnis. Wir haben danach auch biologische Parameter wie den Kortisolwert und die Herztätigkeit in unsere Studien einbezogen, um die Effizienz des sicheren Musters zur Emotionsregulation zu prüfen. Wie ursprünglich vermutet, war das sichere Muster für die Kinder besser geeignet, eigene emotionale Bedürfnisse oder Emotionen zu regulieren.
Frau Keller, was sagen Sie zu den Prozentzahlen?
Keller: Theoretisch kann ich eine ganze Menge sagen. Diese Zahlen ergeben aber nur Sinn, wenn ich das Konzept und die Vorannahmen akzeptiere. Und speziell zum internen Arbeitsmodell: Viele Bindungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sagen selbst, es sei ein völlig unterdefiniertes Konzept. Die menschliche Psychologie ist kulturell organisiert, das heißt, es gibt auch sehr unterschiedliche Formen der Emotionsregulation. Das innere Arbeitsmodell ist aber auch die Grundlage für die „Kompetenzhypothese“: Wie die weitere Entwicklung eines Kindes verläuft, ist abhängig von der repräsentierten Bindungsqualität.
Anscheinend hängt also alles von der Bindungsqualität ab, bis hin zum Lebensglück.
Keller: Ja, und das wird in der Öffentlichkeit fälschlicherweise deterministisch interpretiert – wenn du als Kind nicht sicher gebunden bist, wirst du als Erwachsener unglücklich sein. Und was psychophysiologische Untersuchungen anbelangt: Es gibt in so gut wie allen vitalen Funktionen grundlegende Unterschiede zwischen Kulturen, zum Beispiel in Bezug auf Stress und Kortisolwerte. Die Kinder in Kamerun, die sich auf die Fremden furchtlos zubewegt haben, hatten abfallende Werte. Insofern müsste man erst einmal genau darlegen, wie Stichproben zusammengesetzt sind, und auch unterschiedlichere Kinder untersuchen.
Spangler: Befunde auf sämtliche Kulturen zu übertragen, wenn sie dort nicht untersucht wurden, ist natürlich nicht in Ordnung. Ich sehe Probleme aber eher in öffentlichkeitswirksamen Interpretationen von Laien, etwa bei Influencerinnen oder Influencern, die die Bindungstheorie völlig missverstanden haben und Absurditäten verbreiten, etwa man müsse Kinder immer am Körper tragen.
Wenn man aber nur den Wissenschaftsbereich nimmt, habe ich einen gegenteiligen Eindruck als Sie, Frau Keller: Die Aussagekraft der Bindungstheorie wurde mit der Zeit auf den sozial-emotionalen Bereich beschränkt: Es zeigte sich unter anderem, dass sich sicher gebundene Kinder bei Kummer eher Unterstützung holen und ihre Emotionen besser regulieren können. Aber es wurde auch klar: Bindung hat nichts mit Intelligenz und Berufserfolg zu tun.
Wie sieht es mit psychischer Gesundheit aus?
Spangler: Auch da gibt es keine Eins-zu-eins-Beziehung. Nach dem Risikoschutzmodell tragen zu einer psychischen Erkrankung verschiedene Risiken bei, andererseits können Schutzfaktoren mildernd wirken. Manche Studien sagen bei Bindungsunsicherheit Verhaltensprobleme vorher, aber meist nur in Kombination mit anderen Risiken. Grob gefasst kann eine sichere Bindung ein Schutzfaktor sein, aber natürlich nicht psychische Gesundheit garantieren. Wichtig ist auch: Unsichere Muster sind nicht pathologisch, sondern mehr oder weniger günstige Muster im Normbereich.
Keller: So differenziert kommt das leider nicht in der Praxis an. Teilweise lesen ja selbst Fachleute kaum die Originalliteratur, sondern nur aufbereitete, vereinfachende Bücher für die unterschiedlichen Anwendungsgebiete, zum Beispiel Frühpädagogik oder Familienberatung.
Ein besonders gravierendes Bild ergibt sich bei Sorgerechtsentscheidungen, insbesondere bei Familien mit Migrations- oder Fluchtgeschichte. Deren Vorstellungen über kindliche Entwicklung und gutes elterliches Verhalten werden häufig nicht nur nicht zur Kenntnis genommen, sondern massiv abgewertet und als Kindeswohlgefährdung interpretiert. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie schnell Kinder aus den Familien herausgenommen werden. Ich habe viele solcher Gutachten mit fatalen Folgen gesehen.
Spangler: Ich wurde schon wiederholt als Sachverständiger bei Gericht gefragt. Wir Sachverständige beziehen verschiedenste Aspekte ein, zum Beispiel Erziehungseinstellungen der Eltern, den kindlichen Entwicklungsstand und vorliegende Risiko- oder Schutzfaktoren. Wenn hier jemand Bindungen als ausschließliches Kriterium verwendet, handelt es sich nicht um sorgfältig erstellte Gutachten.
Inwiefern ist Bindung auch genetisch beeinflusst?
Spangler: Bei sicherer Bindung wurde bei Zwillingsstudien kein Zusammenhang gefunden. Aber bei Kindern, die später als „desorganisiert“ eingestuft wurden, scheinen genetische Merkmale eine Rolle zu spielen. Es scheint verschiedene Entwicklungspfade zur Desorganisation zu geben: Sie kann einerseits bei beängstigendem oder ängstlichem Verhalten der Eltern entstehen, bei anderen Kindern liegen schon im Neugeborenenalter grundsätzliche Einschränkungen in der Verhaltensorganisation zugrunde. Selbst wenn wir genetische Hinweise finden, heißt das aber nicht „vorherbestimmt“ oder „nicht mehr veränderbar“.
Keller: Genau, und das wird auch oft falsch verstanden. Der Evolutionsbiologe Eckart Voland hat einmal gesagt, alles sei zu 100 Prozent angeboren und zu 100 Prozent erworben. Wenn eine Veranlagung besteht, kann sie sich also auswirken oder auch nicht. International haben sich übrigens mehr als 70 Bindungsforschende von der gängigen Praxis an Familiengerichten und den Diagnosen von Bindungsqualitäten distanziert.
Spangler: Ich war einer von den 70. Wir haben uns nicht distanziert, wir haben auf Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung von Wissen und Methoden der Bindungsforschung hingewiesen.
Bleiben wir mal bei der Genetik: Wenn mit Voland alles angeboren und alles erworben ist – inwiefern wirkt sich frühe Bindungserfahrung auf das Erwachsenenleben aus?
Keller: Da sind wir wieder bei der „Kompetenzhypothese“ von vorhin. Es gibt aber inzwischen auch etliche Bindungsforschende, die diese Kontinuitätsannahmen für überschätzt halten. Selbst bei Tests im Alter von einem und dann mit zwei Jahren hat man gesehen, dass sich unterschiedliche Muster zeigen. Entwicklung ist kein lineares Geschehen, sondern ein sehr komplexes Zusammenspiel.
Spangler: In den 1980er Jahren ging man davon aus, dass eine sichere Bindung in frühen Jahren lebenslang bestehen bleibt. Die ersten Längsschnittstudien zeigten aber anderes: Wir finden Stabilität über mehrere Jahre hinweg, wenn wir auf der gleichen Ebene forschen, also wenn wir zum Beispiel Verhalten bei kleinen Kindern beobachten und dann die gleichen Kinder einige Jahre später noch mal beobachten. Wir finden auch Stabilität, wenn wir die Bindungsrepräsentationen bei Zehnjährigen im Interview erfassen und sie sechs, sieben Jahre später wieder befragen. Ein methodisches Problem ist aber, dass wir Bindungen im Kleinkindalter auf der Verhaltensebene erfassen, später aber bei Erwachsenen über Bindungsrepräsentationen sprechen.
…weil man ältere Testpersonen nach Erinnerungen fragt, während man kleine Kinder beobachtet?
Spangler: Nein, das ist nicht das Problem. Bindungsrepräsentationen umfassen nicht nur Erinnerungen, sondern auch deren Verarbeitung und Bewertung. Wer zum Beispiel eher ungünstige Erfahrungen gemacht hat, sie aber mittlerweile verarbeiten konnte, kann später trotzdem ein sicheres Modell entwickeln.
Das Problem ist: Wir wissen nicht sicher, ob wir mit den Methoden im Kleinkindalter tatsächlich dasselbe erfassen wie im Erwachsenenalter. Und natürlich kann sich auch bei Bezugspersonen etwas verändern. Vielleicht waren die Eltern mit Karriere oder Hausbau beschäftigt, als die Kinder klein waren, später waren sie eher verfügbar. Oder umgekehrt. Oder es gab Todesfälle oder Trennungen, die das innere Arbeitsmodell von Bindung veränderten. Zusammenfassend könnte man sagen: Frühkindliche Bindungsqualität neigt zu altersübergreifender Stabilität, aber nicht als feststehendes Merkmal im Sinne einer Prägung.
Wird der Mythos von unveränderbaren Bindungserfahrungen trotzdem erzählt, weil man damit andere verantwortlich machen kann? Nach dem Motto: Ich halte es nie länger als drei Monate in einer Beziehung aus, weil meine Eltern mir als Kind keine sichere Bindung ermöglicht haben?
Keller: Aber was hat man denn von dieser Auffassung?
Man versucht sich zu entlasten.
Keller: Wenn Beziehungen immer wieder zerbrechen, macht das diese Erklärung auch nicht besser. Besser wäre, Vertrauen in sich selbst zu entwickeln, statt zurückzuschauen.
Frau Professorin Keller, Herr Professor Spangler, vielen Dank für dieses Gespräch.
Heidi Keller ist Entwicklungs- und Kulturpsychologin und war Professorin an der Universität Osnabrück. Sie ist Direktorin von Nevet an der Hebrew University in Jerusalem. Sie forscht über Sozialisation im Kulturvergleich und den Wandel von Erziehungsideologien.
Gottfried Spangler ist Professor für Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er forscht schwerpunktmäßig zu Bindungsentwicklung, Psychobiologie von Bindung sowie Elternverhalten. Zudem ist er als Sachverständiger vor Gericht bei familienrechtlichen Fragestellungen tätig.
Quellen
Heidi Keller: Mythos Bindungstheorie. Konzept, Methode, Bilanz. Verlag das Netz 2021 (2., aktualisierte Auflage)
Gottfried Spangler, Peter Zimmermann (Hg.): Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung. Klett-Cotta 2019 (8. Auflage)