Als sich Victoria van Violence ihren Fans offenbart, wählt sie starke Worte: „Time to break the silence“ – Zeit, das Schweigen zu brechen. So beginnt die damals 28-Jährige den Facebook-Post, mit dem sie 2016 öffentlich macht, was sie als Privatperson schon lange begleitet. Zwei Jahre lang war die Moderatorin, Influencerin und Gründerin eines Modelabels, die eigentlich Victoria Müller heißt, zu diesem Zeitpunkt schon wegen einer depressiven Episode in Behandlung.
„Ich wusste nicht weiter, mir ging es so…
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dass ich keinen Morgen mehr sah“, schreibt sie auf ihrer Seite. Zwischenzeitlich ließ sie sich in eine Klinik einweisen. Die Anhänger der öffentlichen Kunstfigur Victoria van Violence bekamen davon lange Zeit nichts mit. In den sozialen Medien lief das öffentliche Leben dieser jungen Frau weiter: Hochglanzselfies, ein perfekt geschminktes Gesicht, ein trainierter Körper – Szenen eines scheinbar glücklichen, beneidenswerten Lebens.
Einblicke in psychische Krisen
Auf Instagram, Facebook und Co offenbaren Prominente heute mehr Persönliches denn je. Meist bemühen sie sich, ein möglichst positives Bild von sich zu zeichnen – schließlich sind es die sozialen Netzwerke, über die sie direkt mit ihren Fans kommunizieren können. Doch bei manchen ist die Offenheit so groß, dass sie zunehmend auch Einblicke in die weniger glanzvollen Seiten ihres (Seelen-)Lebens gewähren, egal ob es um Klinikaufenthalte wegen Drogenproblemen wie bei Sängerin Demi Lovato geht, depressive Phasen wie bei Schauspielerin Lena Dunham oder den Kampf gegen die Alkoholsucht wie bei Hollywoodstar Ben Affleck.
Bekannte Persönlichkeiten wie sie können damit den gesellschaftlichen Diskurs über psychische Probleme und persönliche Krisen befördern. Ihr Beispiel kann helfen, Tabus zu entkräften und ein Problembewusstsein zu schaffen – wenn die Offenlegung verantwortungsvoll geschieht. Doch wann helfen solche Bekenntnisse tatsächlich weiter? Unter welchen Umständen schaden sie? Und welche Rolle spielt bei alldem das Showbusiness, in dem gut erzählte Leidensgeschichten schon häufig für positive Aufmerksamkeit gesorgt haben?
Vorbehalte gegen Psychotherapie
Der Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie Robert Willi bietet den prominenten Klienten in seiner Münchner Privatpraxis mehr als die übliche Diskretion. Sie kämen aus Wirtschaft, Film, Fernsehen, Musik oder Politik, sagt er, und gelangten unerkannt in seine Behandlungsräume oder wählten sich gleich per Videotelefonie in die Therapiesitzung ein. Nicht ohne Grund sei für die meisten die Wahrung der Privatsphäre entscheidend, sagt Willi. „Für bekannte Persönlichkeiten ist das ein Dauerthema: Was kommuniziere ich nach außen? Was halte ich besser geheim?“
Er sei mit Ratschlägen in Richtung Offenheit immer vorsichtiger geworden. „Die Erfahrung zeigt, dass es zwar vordergründig Verständnis gibt und gelobt wird, dass der Betroffene zu seinen Problemen steht“, erklärt er. „Aber später ist man für alle doch nur ‚der mit der Erkrankung‘.“ Vor allem hierzulande gebe es viele Ressentiments. In den USA etwa erlebten Willis Klienten deutlich weniger Vorbehalte gegenüber Psychotherapie.
Trotzdem berichten auch in Deutschland Prominente bewusst und gezielt von ihren psychischen Störungen, etwa in Büchern, in denen sie die Erkrankung erwähnen oder sogar zum Hauptthema machen. Andere äußern sich in Interviews dazu. Je nach Medium, Zeitpunkt und Auftreten wirkt das mal mehr, mal weniger geplant.
Entscheidung für Offenheit
Bis zu einem gewissen Grad geht es öffentlichen Personen wie allen anderen Menschen in der gleichen Situation: Sie müssen einen für sich passenden Umgang mit dieser intimen Information finden. Erzähle ich Bekannten, Freunden davon? Wie offen gehe ich damit am Arbeitsplatz um? Wie geht es mir damit, wenn andere von meinen Problemen wissen und mich möglicherweise darauf ansprechen? Den Unterschied macht bei Prominenten offenkundig das Publikum – und die Dokumentation ihres Lebens durch die Medien.
Hierzulande gibt es zwar immer mehr und doch weiterhin noch wenige öffentliche Figuren, die offen von einer psychotherapeutischen Behandlung erzählen. Der Komiker Alexander Bojcan alias Kurt Krömer etwa hat kürzlich davon berichtet, genau wie die Schauspielerin Nora Tschirner oder der Kabarettist Torsten Sträter. Zu ihnen zählt auch die Schriftstellerin und Journalistin Ildikó von Kürthy. Sie beantwortete Psychologie Heute einige schriftlich formulierte Fragen per E-Mail.
Frei gewählte Selbsterkundung
Sie wolle sich mithilfe einer Expertin klarer werden über ihre Vergangenheit, erklärt sie darin: über das Kind, das sie war, über die Mutter, die sie ist, über ihre Ängste und Nöte, woher sie rühren und wozu sie gut sind. „Ich leiste mir den Luxus, einmal in der Woche für einen Entwicklungsschub zu bezahlen und klüger zu werden über mich selbst“, schreibt von Kürthy. Und sie leiste sich die Freiheit, davon ohne Tabu im Kopf in Interviews und Kolumnen zu erzählen. „Mir kann es egal sein, wenn man mich für überspannt, therapiebedürftig, neurotisch oder seltsam hält. Ich bin Schriftstellerin, ich darf alles sein außer allzu normal.“
Nun offenbart Ildikó von Kürthy keine schwerwiegenden psychischen Probleme. Sie beschreibt ihre Besuche bei der Therapeutin als einen Weg der frei gewählten Selbsterkundung. Prominente, denen es diesbezüglich schlechter geht, müssen sich nicht nur gut überlegen, wie viel sie öffentlich preisgeben und auf welche Weise. Sie müssen auch den richtigen Zeitpunkt dafür finden. Nicht umsonst gehen viele erst den Schritt in die Öffentlichkeit, wenn sie sich wieder stabil und gesund fühlen.
Zwar kann eine frühe Offenbarung ein wichtiger Schritt im therapeutischen Prozess sein, doch für bekannte Personen findet er unter besonderen Vorzeichen statt. Einerseits haben sie in der Regel größere finanzielle Möglichkeiten und damit auch mehr Therapieoptionen. Andererseits dienen sie als Projektionsfläche und hängen in ihrer Karriere von dem Bild ab, das sich die Öffentlichkeit von ihnen macht. Im Fall von psychischen Krisen und Erkrankungen ist das oft kein gutes.
Kontext von Kriminalität und Gewalt
Studien zeigen, dass die breite Bevölkerung noch immer Vorbehalte hat, wenn es um psychische Erkrankungen geht. Ihre Wahrnehmung wird vor allem von den Medien geprägt, der Hauptquelle für Informationen aus diesem Bereich. Eva Baumann, Professorin für Kommunikationswissenschaft und Direktorin des Instituts für Journalistik und Kommunikationsforschung an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover, hat zusammen mit Kolleginnen und Kollegen die Berichterstattung von ausgewählten Tageszeitungen im Jahr 2018 systematisch untersucht und dabei bestätigt, was auch frühere Forschungsarbeiten ergeben hatten: Viele der Artikel berichten über seelische Leiden im Kontext von Kriminalität und Gewalt.
„Werden Menschen mit psychischen Erkrankungen wiederholt als aggressiv, hilflos oder schwach beschrieben oder wird im Zusammenhang mit Gewaltverbrechen regelmäßig auf eine Erkrankung des Täters verwiesen, legt dies irgendwann die Interpretation nahe, dass solche Taten für Betroffene typisch sind“, sagt Baumann. „Das kann Vorurteile bestärken und soziale Ängste schüren.“
Bei Prominenten komme noch ein zweiter Faktor hinzu: „Wenn Details aus dem Privatleben bekannt werden, haben wir es häufig mit reißerischen, sensationsheischenden Berichten zu tun, die eine Erkrankung mit dem Aufstieg oder Fall, mit Erfolg oder Scheitern in Verbindung bringen“, so Baumann. Dabei habe die Rolle der Medien bisweilen etwas Paradoxes: Sie berichteten darüber, dass der Druck der Öffentlichkeit mitverantwortlich für die psychische Belastung sei, trügen durch ihre Berichterstattung aber ebenfalls dazu bei.
Die Kommunikationswissenschaftlerin beobachtet dieses Muster beispielsweise im Kontext von Essstörungen. Der massive Verlust von Körpergewicht werde bei der einen Schauspielerin öffentlich bewundert, das Bekenntnis zur Anorexie gleichzeitig aber auch als schockierende Nebenwirkung des Rampenlichts beschrieben.
Kein Interesse am Menschen dahinter
Wie gnadenlos die mediale Ausschlachtung psychischer Krisen ausfallen kann, zeigen Beispiele wie Marilyn Monroe, Whitney Houston oder Amy Winehouse, deren (Selbst-)Zerstörung mehr oder weniger in der Öffentlichkeit stattfand. „Die peinlichen Bilder von Amy“, „So treibt ihre große Liebe sie ins Unglück“, „Sie war mal so schön, jetzt ist sie zerstört“ – Überschriften wie diese waren in den Boulevardmedien zu lesen, während die britische Sängerin unter Bulimie, selbstverletzendem Verhalten sowie einer Drogen- und Alkoholsucht litt. Halb entsetzt, halb fasziniert verfolgte das Publikum die Abwärtsspirale bis zu Winehouse’ Tod im Jahr 2011 und noch darüber hinaus.
„Die Menschen mögen tragische Geschichten“, meint Psychotherapeut Robert Willi. „Es wird wenig wahrgenommen, wie verzweifelt und einsam prominente Menschen zum Teil sind.“ Viele seiner Klienten ernteten auf der Bühne, dem Fußballplatz oder im Unternehmen große Bewunderung, doch abseits des Rampenlichts säßen sie einsam auf ihrem Hotelzimmerbett. Dabei machten viele die Erfahrung: Meine Rolle wird geschätzt, an dem Menschen dahinter aber besteht kein Interesse.
Vanessa Petruo-Zink kennt dieses Gefühl aus eigener Erfahrung, wie sie Psychologie Heute auf Anfrage per E-Mail schildert. Schon als Kind litt die heute 41-Jährige unter depressiven Episoden, schreibt sie, das Leben als Popstar bei der im Jahr 2000 in einem TV-Format gecasteten Band No Angels machte ihre Beschwerden nicht besser. „Wir sind damals über drei Jahre lang fast durchgehend gereist, manchmal dreimal am Tag geflogen, haben uns nicht gut ernährt und haben viel zu wenig geschlafen“, erinnert sie sich.
„Wir sind ständig extrem positiven und extrem negativen Gefühlen ausgesetzt gewesen und hatten niemanden, dem wir unsere Sorgen erzählen konnten.“ Sie habe selten erlebt, dass unter Prominenten offen und unverkrampft über psychische Erkrankungen gesprochen wurde. Und auch Journalistinnen und Redaktionen tun sich ihrer Erfahrung nach schwer mit einem angemessenen Umgang. Leider, denn: „Niemand möchte wie ein Verrückter behandelt werden.“
Gefahren einer "gesunden Fassade"
Robert Willi rät den Klienten in seiner Münchner Praxis auch deshalb zu einer „Teilauthentizität“: Sie sollten „den Teil kommunizieren, der kommunizierbar ist“, der Rest sei für den privaten Kreis bestimmt. „Sonst ist die Gefahr von seelischen Verletzungen zu groß.“ Eine Offenbarung sei aus therapeutischer Sicht notwendig und sinnvoll, sagt Willi, wenn die Aufrechterhaltung einer „gesunden Fassade“ zu einem Teil der Krankheit werde und die Betroffenen, die nach außen gut zu funktionieren scheinen, in ihrem Leid nicht gesehen würden und keine Hilfe bekämen.
Was ist dann von Prominenten zu halten, die in der Öffentlichkeit scheinbar freimütig von ihren psychischen Problemen berichten? Geht es um eine Entlastung, wie Robert Willi sie beschreibt? Oder um geschäftlichen Erfolg durch gezielt platzierte Geständnisse?
Alles nur Show?
So manchem Star wird vorgeworfen, sein „Coming-out“ PR-tauglich zu inszenieren. Hollywoodstar Brad Pitt etwa, der nach der mit Vorwürfen verbundenen Trennung von Schauspielkollegin Angelina Jolie 2017 erklärte, eine Therapie begonnen zu haben. Dies tat er im Rahmen eines langen Interviews mit der US-amerikanischen Ausgabe der Männerzeitschrift GQ, für die er zugleich auch als Model für eine Modestrecke posierte.
Oder US-Golfspieler Tiger Woods, der 2010 nach zahlreichen außerehelichen Affären schließlich vor TV-Kameras von einer Therapie gegen Sexsucht berichtete. In Fällen wie diesen kann die Offenbarung einer psychischen Erkrankung ein angekratztes Image aufpolieren. Sie kann aber auch ein neues Bild entstehen lassen, das dem allgegenwärtigen Ideal von Perfektion und Makellosigkeit widerspricht – und gerade dadurch für Sympathie und Verständnis beim Publikum sorgt.
Momente der Verletzlichkeit
Der an der University of Winchester tätige Psychologe David Giles beschreibt in seinem Buch Twenty-First Century Celebrity, wie wichtig die – tatsächliche oder vermeintliche – Authentizität für Prominente heutzutage vor allem in sozialen Medien ist. Im Zeitalter von YouTube und Co sei eine ganze Generation „überauthentischer Prominenter“ entstanden. Diese seien nicht etwa authentischer als andere, so Giles, ihnen gelinge es aber besser, Authentizität „wiederzugeben“: durch ihre Sprache, Gesten, den Kontext oder das Format, die eine stärkere „Normalität“ und „Realität“ nahelegten.
Aber eben auch durch eine größere Offenheit der Akteure den Zuschauerinnen gegenüber. Die parasoziale Beziehung der YouTuber zu den Fans etwa werde durch „Momente der Verletzlichkeit aufseiten des Prominenten“ verstärkt, schreibt Giles, „insbesondere in der Form einer Beichte“. Auf Instagram berichten Stars wie Sänger Justin Bieber oder Model Chrissy Teigen bildgewaltig von ihrer schwierigen Kindheit oder einer traumatischen Fehlgeburt. Tabuthemen auf diese Weise öffentlich zu transportieren hat die Züricher Forscherin Angel Schmocker als Trend ausgemacht, dem nicht nur Prominente folgen.
Ein persönliches Anliegen
Sick style nennt sie diese Strömung, die mit einer Inszenierung und Ästhetisierung seelischer Krisen und Krankheiten einhergeht. Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat Schmocker beobachtet, dass dadurch „Hardcore soft wird, Depressionen zum Selfiematerial und psychische Störungen zu unserer Identitätsjagd gehören“, wie sie auf der Seite der Zürcher Hochschule der Künste schreibt, an der sie den sick style untersucht hat. Ehemalige Tabus werden dabei in den sozialen Medien offen diskutiert. Das Stigmatisierte und Prekäre positioniert sich dort in Abgrenzung zum sonst vorherrschenden Perfekten und scheinbar Gesunden.
Worum geht es prominenten Urhebern dabei: um Publicity für das digitale Alter Ego oder PR für die gute Sache? Für Kommunikationswissenschaftlerin Eva Baumann ist das nicht die entscheidende Frage. Es werde verharmlosende Beispiele ebenso geben wie dramatisierende Fälle, meint sie. „Doch Prominente, die ihre eigenen Schicksale öffentlich machen, werden dies in der Regel nicht primär tun, um damit ihre Bekanntheit zu steigern oder sich besser zu vermarkten, sondern weil es ihnen ein persönliches Anliegen ist.“ Dass dabei gezielt und strategisch Aufmerksamkeit generiert wird, betrachtet Baumann nicht pauschal als etwas Negatives; schließlich werde die Aufmerksamkeit so auf ein relevantes gesellschaftliches Problem gelenkt.
Eine Art Vorbild
Influencerin Victoria Müller beschreibt ihre Erfahrungen so: „Viele Follower haben mir geschrieben, dass sie eine Depression bei mir nicht vermutet hätten, aber froh sind, dass ich mich geoutet habe. Für sie bin ich eine Art Vorbild.“ Die Gründe dafür seien aus ihrer Sicht „ganz banal“: Die Hemmschwelle, zu seiner Erkrankung zu stehen, sinke, wenn mehr Menschen dies täten. Tatsächlich zeigen wissenschaftliche Studien, dass durch das Beispiel einer Prominenten das Interesse am Thema steigt, sich Einstellungen gegenüber psychisch kranken Menschen verändern, das Wissen zunimmt und andere Menschen mit derselben Krankheit inspiriert werden, sich Hilfe zu suchen. Jedoch muss die prominente Person als glaubhaft und authentisch wahrgenommen werden – und darf nicht kurze Zeit später durch irgendwelche Negativschlagzeilen auffallen.
Peter Schneider vom Psychologischen Institut der Universität Zürich ist trotzdem pessimistisch, was die gesellschaftliche Wirkung prominenter Beispiele betrifft. „Die teilweise Entstigmatisierung, die damit einhergeht, wenn sich auch bewunderte Personen als fragil und verletzlich outen, ist nicht so groß, wie man hofft“, sagt der Psychoanalytiker und Buchautor. „Denn auf einen gewöhnlichen Süchtigen wartet nicht die Spezialistin der Betty-Ford-Klinik, sondern die Kündigung am Arbeitsplatz. Es nützt ihm nichts zur Erklärung seines Zustands, auf die Prominenten zu zeigen und zu rufen: Die auch!“
Schneider sieht auch die Gefahr, dass psychische Probleme durch prominente Bekenntnisse „verernstet“ werden. „Natürlich stehe ich nicht dafür, das Leid zu verharmlosen, und ich bin auch nicht dagegen, es sehr ernst zu nehmen“, sagt er. „Ich wehre mich nur gegen den Trend, die Verbindung zwischen ‚harmlosen‘ neurotischen Marotten und schweren Formen einer psychischen Erkrankung zu kappen. Er verhindert, dass sich die Gesellschaft an eine gewisse psychische Diversität gewöhnt.“
Manche Berichte von Prominenten läsen sich wie Heldenerzählungen, in denen sie ihre Erkrankung „besiegen“. Sie suggerierten, dass man eine psychische Erkrankung ganz „überwinden“ und für den Rest seines Lebens ablegen könne – was nicht immer der Fall ist und zusätzlichen Druck erzeugen kann.
Gewissenhafte Berichterstattung
Doch wie berichtet man dann am besten über psychische Störungen bei Prominenten? Die Kampagne „Fair Media“ des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit, dessen Träger die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde ist, bietet Journalistinnen und Journalisten Hilfestellung in dieser Frage. Die Empfehlungen: rücksichtsvolle und sensible Formulierungen, Wahrung der Privatsphäre, wertfreie, korrekte Inhalte, Informationen über Anlaufstellen für Betroffene, eine angemessene Bildsprache.
„Auch in der Berichterstattung über Prominente mit psychischen Erkrankungen sollten sich Medienschaffende ihrer Verantwortung bewusst sein, die sie hinsichtlich der Entstehung von Stereotypen haben“, ergänzt Kommunikationswissenschaftlerin Eva Baumann. „Dabei ist eine Tabuisierung ebenso kontraproduktiv wie ein dramatisierender, angstschürender Tenor.“
Verantwortungsvolles Posten
Die Wissenschaftlerin nimmt allerdings nicht nur die Medien in die Pflicht, sondern auch die Prominenten selbst. Diese hätten über die sozialen Netzwerke einen direkten Draht zu ihren Fans und Followern. „Deshalb sollten sie bei Tweets und Posts sowie beim Liken und Teilen mögliche unerwünschte Folgen bedenken und ebenso verantwortungsvoll handeln, wie man das von Journalistinnen und Journalisten erwartet“, sagt Baumann. Nicht immer gelingt das – wie man etwa am Beispiel des US-Rappers Kanye West sieht, der öffentlich gemacht hatte, an einer bipolaren Störung zu leiden, und damit auch aufsehenerregende Nachrichten erklärte, die er immer wieder in sozialen Medien absetzte.
Victoria Müller alias Victoria van Violence hat ihre Offenheit nicht geschadet. Sie will ihre Reichweite nutzen, um Vorurteile abzubauen und Betroffene darin zu bestärken, sich Hilfe zu holen. In dem Post, in dem sie bei Facebook von ihren psychischen Problemen berichtete, gab die mittlerweile 32-Jährige auch ihr ehrenamtliches Engagement für die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bekannt. Daneben setzt sie sich für den gemeinnützigen Verein Freunde fürs Leben ein, der über Suizid und Depressionen informieren will. 2018 veröffentlichte sie das Buch Meine Freundin, die Depression. Bei Instagram folgen ihr momentan rund 190000 Fans. Ihren Künstlernamen hat sie inzwischen abgelegt.
Quellen
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