Frau Retz, Sie haben ein Buch über bindungsorientierte Erziehung geschrieben. Sie, Herr Holmes, haben es in unserem Magazin scharf kritisiert. Deshalb möchten wir nun mit Ihnen beiden über bindungsorientierte Erziehung sprechen. Was verstehen Sie darunter, Frau Retz?
Eliane Retz: Jedes Kind trägt einen Wunsch nach Bindung in sich. Entsprechend sind Eltern mit Kompetenzen ausgestattet, darauf zu reagieren, zum Beispiel indem sie ein schreiendes Baby automatisch auf den Arm nehmen. Ziel der…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
darauf zu reagieren, zum Beispiel indem sie ein schreiendes Baby automatisch auf den Arm nehmen. Ziel der bindungsorientierten Erziehung ist, den Alltag bindungsstärkend zu gestalten: Man droht nicht Strafen an oder setzt Erwartungen mit Macht durch, sondern bleibt immer in Verbindung mit dem Kind.
Das erhöht die Chancen, dass Kinder später zum Beispiel lösungsorientierter und kreativer sind. Letztlich kann man bindungsorientierte Erziehung auch bedürfnisorientierte oder autoritative Erziehung nennen, aber „autoritative Erziehung“ wird oft mit „autoritärer Erziehung“ verwechselt.
Michael Holmes: Die Forschung zeigt zweifellos, dass Bindung wichtig ist. Aber wenn man versucht, daraus eine bestimmte Erziehung abzuleiten, wie Sie in Ihrem Buch, dann überinterpretiert man die Bindungsforschung. In Bezug auf Erziehungsziele wie Lösungsorientierung zeigt der autoritative Stil tatsächlich die besten Ergebnisse. Aber Erziehung und Bindung sind zweierlei. In Deutschland haben die meisten Eltern zum Glück eine sichere Bindung zu ihren Kindern, auch wenn sie ganz unterschiedlich erziehen. Wir haben keine Erziehungskatastrophe.
Retz: Die sehe ich auch nicht, aber in Deutschland haben nur etwa 60 bis 65 Prozent der Kinder eine sichere Bindung zu den Eltern aufgebaut – wobei man das bisher eigentlich nur für Ein- bis Zweijährige genauer erforscht hat. Das ist ein absolut verbesserungswürdiger Wert und kann viel Leid bedeuten.
Woran denken Sie?
Retz: Zum Beispiel an erhöhte Stressanfälligkeit oder verstärkte Ängstlichkeit – bis ins Erwachsenenalter.
Holmes: Natürlich ist das verbesserungswürdig und es ist die Frage, wie man die 35, 40 Prozent unsicher Gebundenen erreicht. Aber noch einmal: Internationale Studien zeigen, dass in Südafrika, Mali und Indonesien die Mehrheit der Kinder sicher gebunden sind. In diesen Ländern ist die Erziehung recht autoritär, aber trotzdem vereinbar mit einer sicheren Bindung. Wichtig ist doch, dass Beziehungen warmherzig und authentisch sind.
Retz: Ich glaube nicht, dass man sagen kann, dass eine Vielzahl von Erziehungsstilen zu einer sicheren Bindung führt. Feinfühligkeit ist der Schlüssel. Eltern, die selbst eine sichere Bindung erlebt haben, zeigen höhere Oxytocinwerte und können Weinen und Toben deshalb besser koregulieren. Aber auch durch Aufarbeitung der eigenen Bindungserfahrungen kann man viel erreichen. Ob man ein weinendes Baby hochnimmt oder harsch reagiert, ist für mich kein Erziehungsstil, denn man kann ein Baby nicht erziehen.
Ein kleines Kind ist kognitiv nicht dazu in der Lage, meine Perspektive einzunehmen. Das heißt nicht, dass ich einem Kleinkind alles erlaube, aber es geht doch um die innere Haltung. Aufgrund der Feinfühligkeit entwickeln sich dann verschiedene Erziehungsstile.
Holmes: Die Frage ist doch, wie man autoritative Erziehung definiert. Sie schreiben, dass in einer autoritativen Erziehung kindliche Bedürfnisse eine große Rolle spielen, aber auch Regeln besprochen und immer wieder klar benannt werden. In meinen Augen ist aber der wichtigste Unterschied zwischen einer autoritativen Erziehung und einer permissiven, also nachgiebigen Erziehung mit wenig Kontrolle, dass nur in der autoritativen Erziehung Regeln konsequent durchgesetzt werden und man hohe Ansprüche an das kindliche Verhalten hat.
Was bedeutet das in der Praxis, Herr Holmes?
Holmes: Ich erlebe in unserer Kita immer wieder Eltern, die sagen: „Ich will mein Kind nicht autoritär erziehen, aber es dreht total durch, wendet Gewalt an, wir machen uns Sorgen.“ Wenn ich dann frage, wie sie reagieren, wissen viele nicht weiter. Sie möchten ihr Kind nicht bestrafen, weil sie gelesen haben, dass man das nicht tun soll. Ich erkläre dann, dass wir gegen autoritäre Erziehung sind, aber selbstverständlich routinemäßig Konsequenzen einsetzen.
Welche beispielsweise?
Retz: Das würde mich auch interessieren.
Holmes: Mit Abstand das wichtigste Instrument ist die „Auszeit“. Wenn ein Kind wiederholt gegen die Kitaregeln verstößt, zum Beispiel anderen etwas wegnimmt oder mit Essen wirft, setzen wir es kurz an die Seite, vielleicht zwei Minuten, damit es über sein Verhalten nachdenkt. Es gibt – wenige – Kinder, denen ich fünf-, sechs-, siebenmal am Tag eine Auszeit geben muss oder andere Konsequenzen, aber wir haben eine super Beziehung. Deshalb sage ich Eltern immer: „Lassen Sie sich keine Angst machen von Büchern oder Artikeln, die suggerieren, Sie seien autoritär, wenn sie konsequent sind.“
Wenn ich Ihr Buch richtig verstanden habe, Frau Retz, denken Sie ziemlich anders.
Retz: Es ist erst mal wichtig, zwischen Kita und Zuhause zu differenzieren: In der Kita müssen sich Kinder in hohem Maße anpassen – deshalb sind sie ja beim Abholen oft so k.o. und rasten schon an der Garderobe aus. Anpassung ist notwendig. Ich finde es aber wichtig, dass der Anpassungsdruck zu Hause nicht automatisch weitergeht. Im Übrigen hoffe ich, dass Sie bei Krippenkindern keine Auszeiten machen.
Holmes: Ja, das ist natürlich altersabhängig.
Retz: Eben. Kindergarten und Zuhause – das sind getrennte Welten. Wir lassen unsere stärksten Gefühle schließlich auch nicht bei Vorgesetzten raus. Und wenn Sie sagen, dass Eltern unsicher sind, ist es doch klar, dass sich das Kind schwierig verhält: Es spürt die Unsicherheit. Die Aufgabe der Bindungsperson ist, in eine Führung zu gehen und zu sagen: „Ich sehe, du bist müde. Deshalb ist es Zeit zu gehen.“ Das ist der Erziehungsauftrag!
Deshalb ist auch der permissive Erziehungsstil, also ein Erziehungsstil ohne Regeln, keine Lösung. Ein Kleinkind bestimmt nicht, wohin die Urlaubsreise geht, aber es wird ernst genommen in seinem Bedürfnis nach Teilhabe im Alltag – was nicht heißt, dass Eltern die Lakaien ihrer Kinder sind. Da bin ich bei Ihnen.
Wir waren noch beim Punkt „Auszeiten“…
Retz: Also das sehe ich schon kritisch. Wir müssten eher nach den Ursachen der Konflikte fragen. So arbeiten wir in der familiensystemischen Beratung. Man kann dem Kind eine Auszeit verordnen. Oder die Eltern verhalten sich mal anders, zum Beispiel bestimmender, führender, einlenkender. Dann brauchen wir die Auszeit nicht mehr. Eines ist allerdings wichtig: Bevor es zu Gewalt kommt, muss man sich räumlich voneinander trennen.
Das heißt: Wenn Kinder Eltern schlagen oder Eltern kurz davor sind, wäre eine Auszeit gerechtfertigt?
Retz: Das ist keine Auszeit, sondern man geht auf Distanz, damit alle mal durchatmen. Nun ist es aber so: Ein aufgebrachtes Zweijähriges toleriert das nicht. Es rennt in der Regel der Bindungsperson weinend nach, weil es Angst bekommt, wenn die Bindungsperson geht. Es verinnerlicht: Wenn ich sehr wütend bin, geht meine Bindungsperson. Das begünstigt unsichere Bindungsmuster. Es ist dann wichtig, dass die Eltern koregulieren und das Kind nicht allein lassen mit seinem starken Gefühl.
… und das hauende Kind sogar in den Arm nehmen? Sie, Herr Holmes, hatten das in Ihrem Artikel kritisiert und stattdessen erzieherische Konsequenz gefordert.
Retz: Wissen Sie, was ich mir da gedacht habe? Das ist doch eine erzieherische Konsequenz, wenn ich das Kind in den Arm nehme. Das heißt nicht, dass ich sein Verhalten gut finde. Viele Kinder möchten bei einem akuten Wutausbruch keinen Körperkontakt. Aber wenn sie sich beruhigt haben, suchen sie die Nähe, und dann kann man ihnen sagen: „Was du vorhin gemacht hast, fand ich gefährlich!“
Aber das Kind fühlt sich weiterhin angenommen und geliebt, und das ist letztlich auch der autoritative Stil, der hohe Anforderungen an das Kind stellt: Ich möchte nicht, dass es noch mal passiert. Wie können wir das schaffen? Aber das ist von Wärme gekennzeichnet: Ich hab dich trotzdem lieb!
Holmes: Unsere Differenz besteht überhaupt nicht darin, dass die Erziehung warmherzig sein sollte und wir nach Ursachen suchen müssen. Aber ich würde behaupten, unser Erziehungsstil ist autoritativ, auch wenn wir eine Auszeit geben.
Bei Gefahr im Verzug ist die Lage ja unstrittig. Aber wie ist das bei anderen Fällen? Was sind bloße Befindlichkeiten des Kindes? Und was ist im Sinne einer bindungsorientierten Erziehung ein echtes Bedürfnis, das Eltern befriedigen sollten?
Retz: Wenn Eltern feinfühlig sind, werden sie das leicht unterscheiden können. Wenn eine Dreijährige wütend wird, weil sie ein Eis haben will, müssen die Eltern dem nicht nachkommen. Dann ist es aber wichtig, authentisch zu sein und nicht zu sagen: „Wenn du schreist, kriegst du erst recht kein Eis – selber Schuld“, sondern zum Beispiel: „Die Schlange an der Eisdiele ist mir heute zu lang.“ Kein Kind geht zugrunde, weil es kein Eis bekommt. Wenn es sich aber wehtut oder abends nicht zur Ruhe kommt, sollte man da sein und sich sagen: Das Kind ist drei Jahre alt, es kann sich noch nicht gut selbst regulieren. Deshalb übernehme ich das als die Bindungsperson.
Wenn Sie sagen: „Ich habe keine Lust, mich in die lange Schlange zu stellen“ – geht es dann eigentlich um das Ausloten eigener Grenzen, statt dem Kind Grenzen zu setzen?
Retz: Nein, es geht schon darum, dem Kind individuelle, also alters- und temperamentsgemäße Grenzen zu setzen. Gleichwohl hat Erziehung immer mit der Kraft und Zeit zu tun, mit der Sie an dem Tag ausgestattet sind. Dass meine Kinder gerade mehrere Folgen Die Sendung mit der Maus schauen, weil wir Corona haben, ist eine Ausnahmesituation. Deshalb habe ich keine Angst, dass sie das immer einfordern werden. Das macht doch Kinder auch flexibel.
Ein Zitat von Jesper Juul, das mir sehr am Herzen liegt, lautet: „Die Qualität von Eltern bemisst sich nicht nach den Regeln, die sie ihren Kindern vorgeben, sondern nach der Art ihrer Reaktion, wenn diese Regeln gebrochen werden.“ Bestimmte Grenzen gelten immer, aber vieles ist situationsabhängig. Wenn ein Kind immer nur für ein erwünschtes Verhalten belohnt wird und für unerwünschtes bestraft, wird es sich nicht aus Einsicht prosozial verhalten, sondern weil es gelobt werden will oder Angst vor der Strafe hat.
Holmes: Natürlich müssen wir flexibel reagieren, aber aus Kitas mit Mittel- und Oberschichtsfamilien höre ich zunehmend von gravierenden Problemen wegen zu nachgiebiger Erziehung. Viele denken, das Maß an Respektlosigkeit, Gewalt und Lautstärke, wie man es bei uns erlebt, sei normal. Aber das ist es nicht. Kinder sind glücklicher, wenn sie Raum für Stille und Freundlichkeit haben. Besonders Kinder, die von Armut bedroht sind, werden durch inkonsequente Erziehung im Stich gelassen. Um den langen Weg aus der Armut zu gehen, benötigt man viel Ausdauer, Disziplin, Fleiß und Mut. Das lernt man nur mit Konsequenz.
Liegt das auch am Selbstentfaltungstrend – nach dem Motto: Alle dürfen machen, was sie wollen?
Holmes: Ja und das ist nicht total falsch, aber die Gemeinschaft ist verlorengegangen. Wir haben viel Einsamkeit aufgrund von krassem Individualismus.
Retz: Die Angst vor einer Erziehungskatastrophe und Kritik an Eltern gab es schon immer. Deshalb kann ich mich damit nicht identifizieren. In Bezug auf Einsamkeit und Isolation gebe ich Ihnen allerdings recht. Auch wir sehen die Effekte der Pandemie in unserer Familienbildungsstätte: Kinder tun sich schwerer, Teil einer Gruppe zu werden, oder weichen der Bindungsperson nicht von der Seite, weil sie gar nicht die Möglichkeit hatten, soziale Kontakte aufzubauen.
Ich glaube, dass wir aktuell auf einem guten Weg sind und Eltern sich viele Gedanken machen. Das Problem ist eher, dass Eltern es zu gut machen wollen – das hat etwas Überschießendes. Konsequenzen sind nicht so das Thema, sondern eher, dass Eltern sich nicht trauen, auch mal klar zu benennen, was sie möchten. Manche haben schon bei einmal schimpfen Angst um die Beziehung.
Ich würde gern noch auf einen anderen Punkt kommen: Eine Kritik an der bindungsorientierten Erziehung lautet, dass das Kind auf eine bestimmte Person fixiert ist und dann Hierarchien entstehen, weil immer nur die Mama oder immer nur der Papa alles machen soll. Wie kann man damit umgehen?
Retz: Die elterliche Zusammenarbeit ist einer der wichtigsten Punkte. Die Eltern müssen verstehen, was in der Familie los ist, und eine Haltung entwickeln, zum Beispiel: Es ist nicht gut, dass ein Elternteil immer mehr ins Abseits gerät. Kinder spüren es, wenn Eltern die innere Haltung haben, dass etwas wichtig ist. Dann sind sie auch bereit zu kooperieren. Aber natürlich auch nicht immer zum Positiven: Wenn man autoritär ist, passen sich Kinder genauso an.
Und natürlich spielen sie im Anschluss an die Strafe mit den Eltern, weil sie ein Abhängigkeitsverhältnis haben. Das sehen wir ja sogar bei Kindern, die Gewalt erfahren. Die haben ihre Eltern trotzdem lieb. Der andere Punkt ist: Oft ist es gar nicht so wichtig, die erzieherische Konsequenz klar zu benennen. Denn wenn Eltern wissen, auf welchem Entwicklungsstand sich ihr Kind gerade befindet und was sie entsprechend erwarten können, ändert allein das etwas an der Situation.
Was bedeutet das konkret? Wenn das Kind sagt: „Nur Papa darf mich ins Bett bringen!“, ist das Bedürfnis des Kindes ganz klar. Aber was ist mit den Bedürfnissen der Eltern?
Retz: Das ist natürlich eine Kränkung für den zurückgewiesenen Elternteil. Das Beziehungsdreieck muss ausgewogen sein. Wichtig ist, dass es hier um den Teamgedanken geht: Ein Elternteil zieht einen Ärmel vom Schlafanzug an, der andere den anderen Ärmel. Nicht: „Mama macht das heute!“, sondern: „Wir machen das zusammen.“ Wenn Eltern als Team auftreten, führt das oft zur Auflösung der Spannung.
Und dann sitzen beide am Bett und nur das Kind kommt zu seinem Recht.
Retz: Nein! Es geht doch nur um einen gewissen Übergang, bis der andere Elternteil akzeptiert wird. Manchmal ist es auch einfacher, wenn die Hauptbindungsperson gar nicht da ist. Aber das muss man individuell besprechen.
Holmes: Überbehütung behindert die Selbständigkeit. Und da sehe ich gravierende Probleme in Deutschland. Wenn Kinder vor etwas Angst haben, glauben Eltern, sie müssten sie davor beschützen. Sie denken, wenn das Kind Angst vor der Hexe in der Geschichte hat, dürften sie die Geschichte nicht mehr vorlesen. Eltern legen accomodating behaviour an den Tag, übernehmen also die Ängste ihrer Kinder und fördern ihr Vermeidungsverhalten.
Eher sollte man Kinder schrittweise in geeigneter Dosis den angstmachenden Situationen aussetzen, wie es zum Beispiel der Kinderpsychologe Eli Lebowitz in Yale macht. Auch hier in Deutschland ist das Leben voller Ängste und Schmerzen. Wir müssen Kinder darauf vorbereiten.
Retz: Ich glaube, dass das auch Effekte der Pandemie sind. Herr Holmes, Sie haben ja eben den verhaltenstherapeutischen Ansatz beschrieben. Es ist gut erforscht, dass so was wirkt. Aber von familiensystemischer oder tiefenpsychologischer Seite kann man fragen: Wie ist die Qualität der Bindung? Warum hat das Kind so viele Ängste? Ich bin da bei Ihnen, dass es nicht sinnvoll ist, noch protektiver zu werden. Trotzdem geht es erst mal darum, die Bindung zu stärken. Altersunangemessene Ängste sind ein Produkt unsicherer Bindung.
Wenn man Ihnen zuhört, scheint alles von den Bindungspersonen abzuhängen. Ein ziemlicher Druck, der da auf Eltern aufgebaut wird.
Retz: Nein, gar nicht! Da spielen ja auch neurowissenschaftliche Befunde mit rein: Welche Grundausstattung hat das Kind? Welches Temperament bringt es mit? Wir alle als Gesellschaft müssen feinfühlig sein. In Bezug auf Ängste bedeutet das, dass wir nach dem gemeinsamen Start fragen müssen: Wenn die Geburt dramatisch war, es Fehlgeburten gab oder der Kinderwunsch lange unerfüllt blieb, war Angst das vorherrschende Gefühl in der Familie. Das kann sich oft noch bis ins Kindergartenalter bemerkbar machen. Da finde ich es nicht den richtigen Weg, zu sagen: Dann geben Sie Ihr Kind eben drei Wochen schreiend in der Kita ab.
Holmes: Das ist auch so ein Erziehungstrend in den Medien: Kinder werden als viel zu fragil dargestellt. Immer in Watte gepackt, wie Schneeflocken. Das ist furchtbar.
Retz: Aber es sind verletzliche kleine Wesen.
Holmes: Wenn man vor allem Angst hat, kann man kein schönes Leben haben. Unsere Kinder halten eine ganze Menge aus. Wir brauchen mutige Eltern, die Kindern etwas zutrauen.
Frau Retz, Herr Holmes – herzlichen Dank für dieses Gespräch.
Dr. Eliane Retz ist Pädagogin, systemische Beraterin und Leiterin einer Familienbildungsstätte. Sie hat mit Christiane Stella Bongertz das Buch Wild Child. Entwicklung verstehen, Kleinkinder gelassen erziehen, Konflikte liebevoll lösen verfasst. Sie ist Mutter von zwei Kindern.
Michael Holmes hat Eliane Retz’ Buch Wild Child rezensiert (Ausgabe 1/2022). Er arbeitet als Journalist und Kitaerzieher. Zum Kitaalltag bloggt er unter michaeloholmes.wordpress.com. Holmes’ Schwerpunkte sind Pädagogik, Bildung, Armut und Gewalt. Er ist Vater einer Tochter.