Prägt Erziehung die Gesinnung?

Der Kinderarzt und Wissenschaftler Herbert Renz-Polster über den weltweiten Rechtsruck und dessen Ursachen.

Rechte Demonstranten mit Fahnen demonstrieren aggressiv in der Öffentlichkeit
Wer keine innere Heimat hat, muss sich anders aufwerten. Demonstration in Chemnitz im Jahr 2018. © Jan Woitas/picture alliance/dpa

Herr Renz-Polster, wie kamen Sie als Kinderarzt darauf, sich mit Rechtspopulismus zu beschäftigen?

Ich habe in den letzten 15 Jahren vor allem wissenschaftlich rund um das Thema gearbeitet: Was brauchen Kinder zum gesunden Aufwachsen und wie bilden sie ihre Stärken aus? Was, wenn das nicht gelingt? Wo suchen sie später Halt? Da geht der Blick mitten hinein in gesellschaftliche Rahmenbedingungen und politische Versprechen. Meine Erkennt­nisse konnte ich in den letzten beiden Jahren am Beispiel des…

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und politische Versprechen. Meine Erkennt­nisse konnte ich in den letzten beiden Jahren am Beispiel des Rechtspopulismus weiter ausarbeiten.

Was verstehen Sie unter Rechtspopulismus?

Da mischen sich Positionen aus dem rechten politischen Spektrum mit einer populistischen Agenda, die Abwehr von Fremden etwa wird mit einer Kritik an den Eliten verbunden, die angeblich alles vermasseln. Für ihre Anliegen werben rechtspopulistische Leader, indem sie auf die Gefühle der Menschen zielen – vor allem indem sie Ängste schüren. Die Forschung ist sich einig, dass der Kern des Rechtspopulismus der Autoritarismus ist. Und da sind wir bei den Arbeiten der Frankfurter Schule rund um Theodor W. Adorno. Die Frankfurter Schule sieht den Autoritarismus als streng hierarchische Herrschaftsform, die auf Befehl und Gehorsam ausgerichtet ist und sich an eng gefassten Konventionen orientiert. Autoritarismus beschreibt also die Neigung von Menschen, sich in ein geregeltes System von oben und unten einzugliedern und gleichzeitig diejenigen abzuwerten, die nicht in diese Ordnung gehören.

Diese Forschungen der Frankfurter Schule fanden ab den 1930er Jahren statt. Man wollte damals wissen, wie es zur NS-Diktatur kommen konnte. Gelten diese Erkenntnisse heute noch?

Natürlich. Und deshalb sollten wir uns fragen, warum der Autoritarismus noch immer – oder wieder – Aufwind hat. Ich bin sicher, dass Menschen, die Rechtspopulisten wie Donald Trump oder Parteien wie die AfD wählen, dies nicht tun, weil sie zu einfach gestrickt sind für kompliziertere Antworten. Besonders sollte uns zu denken geben: Diese neuen Rechten gewinnen ihre Anhänger nicht, obwohl sie pöbeln, prahlen und sich selbst überhöhen, obwohl sie gegen andere hetzen und Minderheiten abwerten – sondern genau deswegen.

Hetzen und Pöbeln als Wahlprogramm, für wen ist das attraktiv?

Führung und Gefolgschaft – diese Zweiteilung der rechtsautoritären Welt ist für viele attraktiv. Die Autoritarismusforschung beschreibt den modernen Rechtspopulismus als Doppeldecker-Bus: Unten sitzen die Gefolgsleute, das sind die Wähler. Sie orientieren sich an den vorgegebenen Normen, geben sich konform oder sogar unterwürfig gegenüber der Führung, aber aggressiv gegenüber anderen, die „nicht dazugehören“. Oben im Bus sitzen die autoritären Anführer. Sie zeichnet das Streben nach Dominanz, Überlegenheit und Kontrolle aus. Was beide eint – oben und unten –, sind Abwertung und Vorurteile gegenüber denen, die nicht zur eigenen Hierarchie gehören. Das betrifft beispielsweise andere Ethnien.

Sie behaupten, dass die Erziehung eine Rolle spielt. Welche Erziehung macht anfällig für den Rechtspopulismus?

Das ist eine Erziehung, die den Kindern – als Bild gesagt – keine Heimat gibt. Ich verstehe den Kern des Rechtspopulismus als Ausdruck einer Suche nach Orientierung und Sicherheit. Damit sind wir bei den Grundthemen, die wir in der Kindheit verhandeln: Habe ich eine Stimme oder werde ich nicht gehört? Liegt die Kontrolle bei mir oder bin ich ausgeliefert? Fühle ich mich hier zu Hause oder fremd?

Läuft alles gut, so nimmt das Kind sich als wohlaufgehoben und selbstwirksam wahr. Das gilt auch für den späteren Erwachsenen, der solch ein seelisches Fundament in jungen Jahren mitbekommen hat. Jede Erziehung, die Kindern diese Basis von innerer Sicherheit vorenthält, macht sie anfällig gegenüber den Verheißungen des Rechtspopulismus: ­Make America great again! Deutsche zuerst! Take back control! Diese Versprechen von Stärke, Bedeutung und Zugehörigkeit zielen auf die Aufwertung des Selbstwertgefühls, aber auf Kosten der Abwertung anderer.

Meinen Sie eine autoritäre Erziehung?

Bei dem Begriff „autoritär“ schwingt ja das Gewalttätige mit. Wir denken dabei oft an eine repressive, strafende Kindererziehung, wie wir sie in Michael Hanekes Film Das weiße Band sehen …

… und diese Art der Erziehung ist hierzulande inzwischen wohl eher die Ausnahme.

Glücklicherweise! Der Einstieg in das autoritäre ­Lebensmuster ist aber viel breiter. Gefährdet sind auch Kinder, denen es „nur“ an Anerkennung mangelt, die in ihrer Kindheit keine eigene Stimme einüben konnten. Hörig wird auch, wer nicht gehört wird. Gefährdet sind Kinder, die nicht das Gefühl vermittelt bekommen haben, dass sie so in Ordnung sind, wie sie sind. Auch diese Kinder werden durch die Erziehung innerlich entwertet und verunsichert – und suchen dann später Wert und Sicherheit eher im Äußeren. Das sind alles Facetten einer autoritären Erziehung, ohne dass körperliche Gewalt im Spiel ist.

In Ihrem Buch stellen Sie Landkarten der Gewalt vor, die Sie etwa für die USA erstellt haben. Anhand derer zeigen Sie, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Gewaltakzeptanz gegenüber Kindern – Eltern sagen etwa „Schlagen ist okay“ – und politischer Gesinnung. Es zeigte sich: US-Bundesstaaten mit mehr Gewaltnormalität waren meistens die, in denen der Rechtspopulist Donald Trump auch mehr Wählerstimmen bei der Kongresswahl einheimsen konnte.

Diese Karten zeigen, dass das politische Klima auch das Familienklima widerspiegelt. Ich verstehe dabei die Gewalt als einen Marker, als Ausdruck einer beschädigten Kindheit im weiteren Sinne. Auch andere Entwicklungserfahrungen – etwa der Mangel an verlässlichen Bindungen und Beziehungsabbrüche – sind Ausdruck einer beschädigten Kindheit. Dass auch diese Erfahrungen ein Klima für Autoritarismus bereitstellen, zeigt der Blick auf eine andere Landkarte: die der ehemals geteilten Nachkriegsstaaten DDR und BRD. In den neuen Bundesländern sehen wir heute ebenfalls eine deutliche Neigung zum Autoritarismus. Dabei gibt es keinen Hinweis, dass in der DDR im Vergleich zur BRD mehr körperliche Gewalt gegen Kinder ausgeübt wurde, im Gegenteil.

Was war der Unterschied zwischen Kindheiten in Ost und West?

Er lag weniger in der familiären Erziehung als vielmehr in der institutionellen Säuglings- und Kleinkindbetreuung in der DDR. Zum Ende der 1980er Jahre waren mehr als 80 Prozent der Ein- bis Dreijährigen in einer Krippe untergebracht. Zum Vergleich: In Westdeutschland wurden vor der Wende nur rund zwei Prozent der Kleinkinder außerhäusig betreut. Nun liegt die Flucht ins Autoritäre für mich nicht an der außerhäusigen Betreuung per se, sondern an der Weise, wie diese Betreuung dort ablief.

Die Gruppen waren groß, daher war die Betreuung oft nur mit entsprechendem Druck und in einem hierarchischen Gefüge zu schaffen. Die Kinder waren meist über acht bis zehn Stunden am Stück dort untergebracht. Die wenigsten von ihnen hatten eine verlässliche Bezugsperson. Eine Hinwendung der Erzieherinnen zu Einzelnen war offiziell verpönt: Die Kinder sollten nicht ihren eigenen Willen entwickeln, sondern lernen, sich in das Kollektiv einzufügen. Eine Eingewöhnung der Kinder seitens der Eltern in die Krippe fand nicht statt. Überhaupt war die Anwesenheit der Mütter dort untersagt, und sogar Kuscheltiere waren den Kindern meist verboten.

Das klingt nach sehr einsamen, emotional belasteten Kindheiten.

Ja, das waren Belastungen, auch dann, wenn viele Familien dem ihr Bestes entgegensetzten. Am meisten litten wohl die Kinder in den Wochenbetreuungen. Das war nicht die Regelunterbringung, aber es betraf nicht wenige: 1966 gab es Wochenkrippenplätze für fast 40 000 Kinder. 1980 waren es noch 17 000 Plätze. Viele der Kinder in den Wochen­betreuungen, aber auch manche in den Tageskrippen zeigten ein auffälliges Verhalten. Man nannte es Adaptationssyndrom: Die Kinder zogen sich depressiv zurück, verweigerten die Nahrung, hatten Schlafstörungen und Entwicklungsverzögerungen.

Ich schließe mich deshalb den Forschungsergebnissen der Psychiaterin und Psychoanalytikerin ­Agathe Israel an, mit dem Fazit: In der DDR herrschte ein autoritäres Erziehungssystem. Unter solchen Umständen, die verlässliche Bindungen stark beeinträchtigen, fällt es Kindern schwer, emotionale Sicherheit auszubilden und ein positives Selbstbild zu erlangen. Das gilt auch, wenn körperliche Gewalt nicht im Spiel ist. Sie lernen eher, sich anzupassen. Die Folge ist vor allem: Angst. Dass diese bei gesellschaftlichen Umbrüchen aktiviert wird, ist kein Wunder.

Dann sind es doch die äußeren Umstände, die Menschen dazu bringen, rechtspopulistische Parteien zu wählen?

Es gibt verschiedene Hypothesen, wie Menschen zu einer rechtspopulistischen Gesinnung kommen. Die einen sehen sozioökonomische Gründe, danach sind die Anhänger der Rechtspopulisten die Abgehängten, Menschen, die arbeitslos geworden sind, die den sozialen Abstieg fürchten. Die anderen stellen kulturelle Entfremdungserfahrungen wie einen Wertewandel in den Vordergrund. Danach sind die Rechtspopulisten Menschen, die beklagen, dass alte Werte und Rollenbilder nicht mehr gelten würden. Etwa die klare Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. Für diese Menschen bedeutet der Wandel eine Kränkung, und darum wählen sie weit rechts.

Diese Hypothesen zur Entstehung des Rechts­populismus sind alle richtig. Aber es gibt einen
Missing Link, ein fehlendes Glied in der Kette. Denn nur manche reagieren auf einen Wandel mit der Flucht ins Autoritäre. Er allein ist kein hinreichender Grund, um gegen Einwanderer, Juden oder Homosexuelle zu hetzen. Nur wenn wir die Kindheit mit berücksichtigen, schließt sich die Deutungskette. In der Kindheit entsteht die Verletzlichkeit, die erst anfällig macht für dieses rechte Denken. Insofern lässt sich das Innen und das Außen bei diesem Thema nicht trennen.

Warum keimt der Rechtspopulismus gerade jetzt auf?

Ich sehe das als eine Reaktion auf eine unsicher gewordene Welt, auf die Globalisierung mit ihren Folgen, die Digitalisierung, die Umbrüche in der Arbeitswelt, die Verdichtung der Arbeit, die Verlagerung von Macht auf anonyme Märkte. In diesem Prozess haben sich die alten Kontroll- und Sicherungssysteme ein Stück weit aufgelöst: Die nationale Politik hat an Gestaltungsmacht verloren, die Familie ist stärker auf das ökonomische Funktionieren bezogen. Auch die persönliche Absicherung ist im neoliberalen Modell viel stärker zu einer Sache der Eigeninitiative geworden.

Damit stehen die alten Fragen laut im Raum: Wer sichert mich? Wo ist mein Platz? Die Fragen werden vor allem jene belasten, die in dem Globalisierungsprozess weniger gute Karten haben, die also weniger flexibel sind oder nicht über die von den globalen Märkten angeforderten Spezialisierungen verfügen. Und sie werden jene zu irrationalen Antworten verführen, die innerlich über wenig Sicherheit und Entwicklungsressourcen verfügen. Sie werden in die autoritäre Reaktion getrieben. Das Versprechen von kleineren, vordergründig sichernden Einheiten und klaren Grenzen ist da verlockend.

Was können wir tun? Wie sehen Kindheiten aus, die uns eine innere Heimat geben?

Eine gelungene Kindheit wäre eine, die Kindern Anerkennung und feste Bindungen bietet – eben eine innere Heimat. Die es Kindern ermöglicht, einen fürsorglichen Umgang zu erleben und auch miteinander zu lernen. Eine Kindheit, in der Menschen ihre Stimme einüben können, in der sie selbstbewusst werden. Eine Kindheit, in der gilt: Jedes Kind ist wertvoll und jedes hat sein Recht auf Anerkennung.

Das wäre auch eine Kindheit, die Kinder nicht in Konkurrenz zueinander schickt und damit einige entwertet. Aber wie sieht der Alltag in unserem Schulsystem aus? Anerkennung und Auszeichnung bekommen dort vor allem jene, das zeigen die PISA-Ergebnisse, die bereits vom Leben bestens ausgestattet sind – mit dem richtigen Elternhaus und den hauptfächertauglichen Talenten. Die anderen erleben eher Abwertungen, weil unser Bildungssystem auch auslesen soll. Die zentralen Fragen sind doch: Können wir uns das leisten? Haben Familien genügend Ressourcen für die Fürsorge, die für gelungene Kindheiten nötig ist? Können sie unter den gegebenen Umständen ihren Kindern eine Heimat bieten? Und: wie können wir es ihnen leichter machen?  

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2019: Konzentration finden