Frau Professor Kersting, Sie haben viel klinische Erfahrung mit Paaren, denen eine Fehlgeburt widerfahren ist. Was empfinden Sie daran als besonders belastend?
Eltern, die ein Kind in der Schwangerschaft verlieren, verlieren auch eine Zukunft, die sie sich vorgestellt, vielleicht sehnlich gewünscht haben. Wenn man schwanger ist, überlegt man sich: Was möchte ich genauso machen, wie ich es als Kind erlebt habe, was möchte ich anders machen? Wie wird unser erstes Weihnachtsfest zu dritt, zu viert? Es ist für…
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was möchte ich anders machen? Wie wird unser erstes Weihnachtsfest zu dritt, zu viert? Es ist für viele sehr schmerzhaft, mit ihrem Baby auch die inneren Bilder loszulassen, die sie sich ausgemalt haben. Diese Bilder entstehen meist schon in dem ersten Drittel der Schwangerschaft, in dem rund 80 Prozent der Fehlgeburten stattfinden.
In den frühen Schwangerschaftsmonaten wird die Beziehung zum Kind tiefenpsychologisch als etwas Fantasievolles, nicht Greifbares beschrieben. Erschwert dieser Aspekt des Unrealen die Verarbeitung?
Ich finde es wichtig, nicht zwischen Realem und Unrealem zu unterscheiden. Bereits mit der Kenntnis über die Schwangerschaft entsteht oft eine emotionale Beziehung. Daher würde ich eher sagen: Gerade weil die Bindung in unserem Erleben real ist, ist der Verlust so schwer – auch in den frühen Schwangerschaftswochen. Die Beziehung gestaltet sich im Lauf der Schwangerschaft natürlich weiter aus.
Das liegt unter anderem an den zunehmend sichtbaren und spürbaren Veränderungen im Körper: Der Bauch wächst, später kommen Bewegungen des Kindes hinzu. Ultraschallbilder zu sehen und Herztöne zu hören verstärkt einer britischen Studie zufolge auch bei den Männern das Bindungsgefühl und im Fall einer Fehlgeburt die Trauer. Die fortgeschrittene Schwangerschaft erhöht die Gefahr dafür, einen Verlust nicht gut zu verarbeiten. Ein weiterer, zentraler Risikofaktor ist mangelnde soziale Unterstützung.
Dazu passt eine These, welche die Autorin Miriam Funk, basierend auf den Erfahrungsberichten hunderter betroffener Mütter, aufgestellt hat: dass eine Frau die Fehlgeburt umso schlechter verarbeitet, je unangenehmer sie behandelt wird und je weniger Mitspracherecht sie hat. Stimmt das?
Aus meiner Erfahrung spielt eine wohlwollende Umgebung gerade in der Akutphase eine entscheidende Rolle für den Bewältigungsprozess. Viele Mütter kommen bei einer Fehlgeburt in die Klinik. Dies kann eine sehr beängstigende Situation sein. Es ist wichtig für die Frauen, das medizinische Umfeld als empathisch zu erleben. Dies ist leider nicht immer der Fall. Zugleich muss unter Umständen rasch gehandelt werden, um Schaden für die Mutter abzuwenden.
In einem frühen Stadium gibt es oft spontane Geburten oder die Möglichkeit einer Ausschabung, ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel müssen die Ärzte die Geburt jedoch meist aktiv einleiten. Wie ist das für die Frauen?
Viele Mütter haben verständlicherweise große Angst davor, einige wünschen sich daher eine Vollnarkose. Der Gebärvorgang eines verstorbenen Kindes kann aber auch die Chance bieten, sich mit dem Verlust auseinanderzusetzen und Abschied zu nehmen. Das ist wichtig, um den Schwangerschaftsverlust langfristig zu bewältigen.
Ist maximale Konfrontation denn hilfreich für die Verarbeitung?
Das ist ein moderner Mythos, der sich nicht generalisieren lässt. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war man noch der Meinung: aus den Augen, aus dem Sinn. Den Eltern wurde in vielen Fällen nicht die Möglichkeit geboten, ihr Baby zu sehen. Heute vertreten viele Kolleginnen und Kollegen die gegenteilige Position – sie raten den Eltern dazu, ihr Kind anzuschauen. Aus meiner klinischen Erfahrung ist dieser Entscheidungsbereich aber tatsächlich einer, in dem wir Mediziner uns zurücknehmen sollten. Ob und in welcher Form Eltern ihrem Kind begegnen, können und sollten sie selbst entscheiden. Unsere Aufgabe ist, sie dabei zu unterstützen.
Wie sieht das konkret aus?
Vor einer eingeleiteten Geburt spreche ich mit den Eltern jeden Schritt genau durch – bis zu dem Punkt, an dem das Baby leblos zur Welt kommt. Dann bitte ich sie, sich diese Situation möglichst bildhaft vorzustellen und zu überlegen: Möchten sie ihr Kind in den Arm nehmen, möchten sie es sehen? Manche Eltern haben eine klare Meinung dazu, andere sind unentschlossen. Mein Rat ist immer: Wenn Sie sich nicht sicher sind, treffen Sie jetzt keine Entscheidung, sondern seien Sie sensibel für Ihre Bedürfnisse in der Situation und handeln Sie danach.
Oft bringt der Geburtsvorgang Klarheit – in jedem mir bekannten Fall hat sich dadurch eine eindeutige Entscheidung ergeben. In einer Nachbefragung ein Jahr später waren alle Eltern mit ihrer jeweiligen Entscheidung im Reinen und haben sie nicht bereut. Welcher Umgang für einen selbst am besten ist, ist jedoch sehr individuell und kann sich von dem des Partners oder der Partnerin erheblich unterscheiden.
Das klingt nach Konfliktpotenzial. Welche Auswirkungen hat ein Schwangerschaftsverlust auf die Paarbeziehung?
Häufig habe ich beobachtet, dass nicht der Verlust selbst den ausschlaggebenden Belastungsfaktor für die Beziehung darstellt, sondern die Differenzen im Umgang mit der Situation. Trauerverarbeitung kann viele Gesichter annehmen: Weinen und Sehnsucht, aber auch Wut, Selbstzweifel, Rückzug, Ablenkung. Oft schließt man von sich auf andere und kann nur schwer nachvollziehen, warum der andere so vermeintlich kurz oder lang, so intensiv oder wenig trauert.
Meine Therapieerfahrungen decken sich mit den Befunden einer Studie, die 2003 an der Universität Washington durchgeführt wurde. Mütter wünschen sich nach einer Fehlgeburt oft, Gefühle und Gedanken mit dem Partner auszutauschen, den Bewältigungsweg gemeinsam zu beschreiten. Viele Männer verfolgen einen ganz anderen Coping-Mechanismus: Sie wollen die Partnerin nicht belasten, flüchten sich vielleicht in die Arbeit. Frauen berichten dann von großer Enttäuschung, fühlen sich allein und unverstanden.
Kommt es auch auf sexueller Ebene oft zu einer Entfremdung der Partner?
Ich würde die Sexualität nicht separat betrachten, sondern als Teil der Beziehungsdynamik. Auch in diesem Bereich können natürlich ganz unterschiedliche Wünsche und Sorgen auftreten. Direkt nach einer Fehlgeburt ist eine gewisse Unsicherheit oder Scheu diesbezüglich ganz normal. Doch bei einer guten Bewältigung wird auch die Sexualität wieder ihren Platz in der Beziehung finden. Entscheidend ist eine offene Kommunikation: Wollen wir wieder schwanger werden und – wenn ja – wann wollen wir es versuchen? Viele Mütter haben Angst davor, noch einmal so einen heftigen Verlust zu erleben. Daher versuchen einige, bei einer Folgeschwangerschaft zunächst eine gewisse emotionale Distanz zu wahren.
Kann dieser Schutzmechanismus die Bindung an zukünftige Kinder beeinträchtigen?
Einige Untersuchungen sprechen dafür, dass dies der Fall sein kann. Die Bindungsstörungen müssen aber nicht zwangsläufig stark ausgeprägt oder langfristig sein. Wenn die Mutter den Verlust gut verarbeitet hat, gibt es kein erhöhtes Risiko. Wir haben bisher viel über die negativen Aspekte einer Fehlgeburt gesprochen. Man sollte aber nicht vergessen, dass ein Schwangerschaftsverlust die Paarbeziehung und den Familienzusammenhalt auch stärken kann und oft mit einer großen Dankbarkeit für nachgeborene oder bereits vorhandene Kinder einhergeht.
Welchen Umgang empfehlen Sie nach einer Fehlgeburt mit den Geschwistern, die schon auf der Welt sind?
Ich plädiere dafür, selbst mit Kleinkindern, natürlich ihrem Alter entsprechend, offen darüber zu reden. Denn die Trauer nach einem solchen Verlust lässt sich nicht verheimlichen. Die eigenen Kinder spüren, dass etwas nicht stimmt. Bietet man ihnen keine Erklärung dafür, entsteht eine Irritation in der Beziehung. Manche Kinder nehmen dann eine fürsorgliche Rolle ein, weil sie merken, dass die Eltern traurig sind. Andere reagieren mit Verhaltensauffälligkeiten. Werden Kinder dagegen miteinbezogen, haben sie oft einen pragmatischen Umgang mit dem Verlust und können ihn gut akzeptieren.
Gerade das fällt vielen Eltern zu Beginn schwer. Wie häufig treten überhaupt nach einer Fehlgeburt psychische Beschwerden auf?
Was wir des Öfteren beobachten, sind vorübergehende depressive Verstimmungen und Beeinträchtigungen der Lebensqualität. Manchmal kommt es zu einer akuten Belastungsreaktion, die aber nach Tagen oder wenigen Wochen abklingt. Depressionen und Angststörungen treten unseren Daten zufolge bei bis zu 20 Prozent der Mütter auf. Insgesamt findet man in der Literatur höhere Fallzahlen für psychische Symptome bei Frauen als bei Männern. Das Risiko ist besonders im ersten halben Jahr erhöht, bei Verlusten im letzten Schwangerschaftsdrittel sogar länger. Vereinzelt kann sich pathologische Trauer oder eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln, dies ist aber nicht der Regelfall.
Heißt das, der Großteil verarbeitet den Schwangerschaftsverlust gut?
Es ist schwierig, repräsentative Daten zu dieser Frage zu gewinnen. Ich habe Mütter befragt, bei denen ein Schwangerschaftsabbruch wegen einer schweren Fehlbildung des Kindes zwei bis sieben Jahre zurücklag, und habe festgestellt: Zwei von drei Frauen leiden immer noch darunter. Den meisten Eltern gelingt es trotzdem, das Erlebte in ihre Lebensgeschichte zu integrieren.
Ein Schwangerschaftsverlust geht meist mit angemessener Trauer einher, wobei man sagen muss: Angemessen bedeutet hier ein Ausmaß, das noch keine klinischen Kriterien erfüllt. Gleichwohl können die Betroffenen einen starken Leidensdruck empfinden, der sich nur schwer beziffern lässt.Quälend ist für viele etwa die Frage: Warum wir? Häufig machen sich Eltern Sorgen darüber, etwas falsch gemacht zu haben. Dabei hat eine Fehlgeburt in den seltensten Fällen etwas mit dem Verhalten der Eltern zu tun.
Wieso ist das Schuldgefühl trotzdem so groß?
Meine Erfahrung aus all den Stunden der Begleitung ist: Was wir uns nicht erklären können, ist nur schwer auszuhalten. Bei einem Schwangerschaftsverlust können die Ärzte oft nicht sagen, weshalb es dazu gekommen ist. Diese Ungewissheit empfinden viele Eltern als bedrohlich. Ein Grund suggeriert uns hingegen ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle: Wir denken, wir könnten beim nächsten Mal irgendetwas tun, um die Situation zu verhindern. Es scheint einfacher zu sein, sich selbst die Schuld zu geben, als die offene Frage nach dem „Warum“ auszuhalten.
Einen Schwangerschaftsverlust betrachten manche Mütter sogar als Versagen ihrer Weiblichkeit.
Ich denke, das hat mit der gesellschaftlichen Annahme zu tun, es sei eine natürliche und selbstverständliche Aufgabe von Frauen, Kinder zur Welt zu bringen. Gelingt dies nicht, ist man dann schnell dabei, Verantwortlichkeiten zu verteilen. Dabei wird völlig übersehen, dass die Ursachen einer Fehlgeburt vielfältig sind und auch beim Vater liegen können. Es ist wichtig, zu erkennen, dass die meisten Faktoren, die zu einer Fehlgeburt führen, nicht beeinflussbar sind. Was wir aber beeinflussen können, ist unser Umgang mit der Situation.
Diese Haltung liegt auch einer Internettherapie zugrunde, die Sie entwickelt haben, um Eltern nach einem Schwangerschaftsverlust zu unterstützen. Wie haben Sie dabei den Verarbeitungsprozess angeregt?
Die erste Phase unseres fünfwöchigen Therapieprogramms besteht aus Selbstkonfrontation mit dem Verlust. Wir bitten die Eltern, sich an eine besonders belastende Situation zu erinnern und alles aufzuschreiben, was ihnen dazu durch den Kopf geht. Oft schildern sie den Schockmoment, in dem ihnen bewusstwurde: Mein Baby lebt nicht mehr. Geschulte Therapeuten geben individuelle Rückmeldung zu den Texten.
Die Eltern sollen bestimmte Aspekte fokussieren und erneut aufschreiben. In der Umstrukturierungsphase verfassen sie einen Brief an eine fiktive Person, die etwas Ähnliches erlebt hat. Diese Außenperspektive ermöglicht es, die eigenen Erfahrungen aus einem distanzierteren Blickwinkel wahrzunehmen. Auch hier gibt es wieder persönliches Feedback von den Therapeuten.
In der abschließenden „Social-Sharing-Phase“ geht es um die Fragen: Wo finde ich Unterstützung? Welchen Umgang möchte ich entwickeln? Wir haben die Wirksamkeit unserer Behandlung untersucht und festgestellt: Die Therapie hat zu einer deutlichen Reduktion von Traurigkeit, Verlustangst und Schuldempfinden beigetragen.
Um mit diesen belastenden Gefühlen nicht allein zu sein, wenden sich viele Betroffene ans Netz. Es gibt zahlreiche Foren und Seiten, auf denen sich Eltern über den Verlust ihrer „Sternen-“ oder „Schmetterlingskinder“ austauschen. Für Außenstehende grenzt manches an Kitsch und man könnte sich fragen, ob professionelle Ansprechpartner fehlen. Hat unsere Gesellschaft bei dem Thema Fehlgeburt zu wenig Verständnis?
Tatsächlich berichten viele Eltern, dass sie vereinzelt unsensible Kommentare hören, zum Beispiel: „Es hat doch noch gar nicht richtig gelebt, wie kann man denn so traurig sein.“ Eine solche Aussage zeugt davon, dass der entsprechenden Person die Situation der betroffenen Eltern emotional fremd ist. Dass sich Mütter und Väter gezielt an Onlinecommunities wenden, sehe ich aber eher als Potenzial und weniger als Indikator für ein wenig empathisches Umfeld.
Die meisten Eltern erfahren Verständnis und Rückhalt – zumindest in den ersten Wochen nach dem Verlust. Was unserer Gesellschaft aber noch fehlt, ist ein Verständnis für Trauerprozesse, das heißt für lange, intensive oder komplexe Reaktionen auf Verlust. Vielen ist nicht klar, wie beeinträchtigend eine Fehlgeburt im Einzelfall sein kann. Hier bedarf es aus meiner Sicht mehr Information, Offenheit und Unterstützung.
Ursachen und Häufigkeiten von Fehlgeburten
Das Risiko für einen Schwangerschaftsverlust wird innerhalb des ersten Monats auf bis zu 50 Prozent geschätzt, so dass viele Fehlgeburten unbemerkt stattfinden. Nach Kenntnis der Schwangerschaft liegt das Risiko bei 10 bis 30 Prozent und reduziert sich dem Universitätsklinikum Bonn zufolge ab der 17. Schwangerschaftswoche auf zwei bis drei Prozent. Blutungen oder Wehen können auf einen (drohenden) Schwangerschaftsverlust hindeuten, nicht selten kommt es aber auch zu sogenannten missed abortions: Das Kind verstirbt unbemerkt, der Tod wird meist bei einer Routineuntersuchung festgestellt. Chromosomale Störungen stellen laut der Universitätsklinik Heidelberg eine häufige Ursache für Fehlgeburten dar, zudem Gerinnungsstörungen und gynäkologische oder hormonelle Auffälligkeiten. Das Alter der Mutter gilt als Risikofaktor, zunehmend wird auch das Alter des Vaters diskutiert.
Anette Kersting ist Professorin an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Leipzig. Sie hat langjährig zum Thema Fehlgeburt geforscht und betroffene Eltern in den Kliniken begleitet
Zum Weiterlesen
Miriam Funk: Tabuthema Fehlgeburt. Ein Ratgeber. Mabuse, Frankfurt am Main 2017
Anette Kersting u.a.: Abschied am Beginn des Lebens. Psychotherapeut, 62/6, 2017, 560–566
Grit Klinitzke u.a.: Internetbasierte Therapie nach Verlust eines Kindes in der Schwangerschaft – Einfluss sozialer Unterstützung auf die Verarbeitung des Verlusts. Verhaltenstherapie, 23/3, 2013, 181–188
Hildegard Wörz-Strauß: Und was kommt danach? Begleitbuch bei Tot- und Fehlgeburt. Ernst Reinhardt, München 2018