Vor der Geburt

Ist eine Frau während der Schwangerschaft ängstlich und gestresst, reagiert auch ihr Kind später so. Sind also wieder mal die Mütter schuld?

Schwanger. Zwei Wesen in einem Körper, welch unwahrscheinliche Nähe zwischen zwei Menschen. Der Herzschlag der Mutter und das Rumpeln in ihrem Darm ist das Erste, was das Baby laut und deutlich hört. Kind und Mutter sind aber nicht nur über die Sinne verbunden. Wenn eine schwangere Frau von Herzen lacht oder aber wenn sie sich aufregt und ihre Blutgefäße sich verengen, durchlebt auch ihr Kind Vergleichbares, weil es mit ihr über Mutterkuchen und Nabelschnur vernetzt ist. Stress- und Glückshormone gelangen…

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Nabelschnur vernetzt ist. Stress- und Glückshormone gelangen zum Baby.

Aufgrund der körperlichen Einheit beeinflusst die Mutter weit mehr als der Vater die Entwicklung des Kindes während der ersten neun Monate. Wie sie lebt, was sie isst, wie sie empfindet, wirkt auf ihr Baby, insbesondere auf das sich entwickelnde Gehirn.

„Je unreifer der Organismus, desto sensibler ist er für äußere Einflüsse. Das ist wie mit dem Erwerb einer Sprache. Je jünger man ist, desto schneller lernt man sie“, erklärt der Neurologe Matthias Schwab von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Weil das Kind, der Fetus, während der Schwangerschaft so empfänglich ist, sprechen Forscher vom Vorgang der „fetalen Programmierung“.

Denn in dieser Zeit prägt sich das Gehirn aus, die hormonellen Regelkreise werden justiert, und die Lesart der Gene passt sich so an, dass bei der Geburt bereits bestimmte Charakterzüge angebahnt sind. Ob ein Baby eher ruhig ist oder sehr aktiv, ob es viel trinkt oder wenig, hängt zum Teil von der Zeit im Mutterleib ab. „So wie ein Baby von Geburt an ist, so ist es später im Leben“, wissen Hebammen. Der Geburtsmediziner Andreas Plagemann von der Berliner Charité vergleicht die fetale Programmierung gar mit einem „Stempel, den ich in eine Knetmasse drücke“.

Als die Mütter Hunger litten

Hunger und Fehlernährung während der Schwangerschaft waren die ersten Einflüsse auf den Nachwuchs, die Forscher eingehender untersuchten. In dieser Tradition steht auch eine neue Studie, in der die Langzeitfolgen der Not im zerstörten Nachkriegsdeutschland analysiert werden sollen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzten sehr kalte Winter und Nahrungsknappheit den Menschen zu.Die Nachkriegsmütter aßen dünne Suppen aus Kartoffelschalen, Grünkohl und trockenes Brot.

„Da wirkten zwei Effekte auf das Kind im Mutterleib: die Mangelernährung und der Stress infolge des Hungers“, sagt Schwab. Ihn interessiert, was aus den Kindern geworden ist, die kurz nach den Hungerwintern geboren wurden. Denn er hegt eine schlimme Befürchtung: Ein Zehntel des Stresshormons Kortisol erreicht über die Plazenta das Kind. Kortisol fördert aber den Zelltod, indem es die Enden der Chromosomen, die Telomere verkürzt. Es hemmt das Zufriedenheitshormon Serotonin und bedingt einen erhöhten Blutdruck. Deshalb bekommen Dauergestresste auch häufiger Schlaganfälle und haben insgesamt eine kürzere Lebenserwartung.

Die Hungerwinterkinder sollten Schwabs Annahme zufolge früher sterben. Und weil das Stresshormon den Zelluntergang antreibt, erwartet er auch, dass Stress im Mutterleib den geistigen Abbau im Alter vorzeichnet. Rührt die Epidemie der Demenzen in den Industrienationen also vom Dauerstress der Schwangeren? Diesem Verdacht geht Schwab im EU-Projekt Brainage auf den Grund. Tierversuche deuten darauf hin, dass pränataler Stress zu einer vorzeitigen Alterung des Gehirns bei Mäusen und auch bei Primaten führt, berichtet er.

Doch die erste Publikation über die 118 Überlebenden der dänischen Hungerwinterkohorte liest sich weit weniger drastisch: Nur bei den Männern konnte Schwab Auffälligkeiten finden. Ihr Gehirn war tatsächlich um durchschnittlich vier Jahre stärker gealtert, als entsprechend dem tatsächlichen Alter zu erwarten war. Warum nicht bei den Frauen? „Wir haben noch keine Antworten darauf“, sagt Schwab.

Auch andere Katastrophen haben Forscher dazu veranlasst, sie aus dem Blickwinkel der fetalen Programmierung zu studieren. Am besten untersucht sind die Teilnehmer des kanadischen Projektes Ice Storm: 1998 schnitt ein schwerer Schneesturm mit Eisregen drei Millionen Kanadier für bis zu 40 Tage von der Stromversorgung und zum Teil von der Außenwelt ab. Sie mussten frieren, konnten sich nicht mehr bei Freunden und Verwandten melden und sich ab Einbruch der Dunkelheit nur mit Kerzenlicht zurechtfinden.

Kurz nachdem der Eissturm abgeklungen war, nahmen Forscher der McGill-Universität Kontakt zu 178 Familien auf, die während des Infernos ein Kind erwartet hatten. Die Kinder dieses Projektes Ice Storm untersuchen die Forscher regelmäßig bis heute.

Den Auftakt hatte 2004 eine Veröffentlichung gemacht, wonach die Sprachfertigkeiten von 58 Eissturm-Kleinkindern im Alter von zwei Jahren davon abhingen, als wie schwer die Mütter die Katastrophe empfunden hatten. Je belastender das Ereignis für sie war, desto dürftiger war die sprachliche Entwicklung. Im Alter von sechs Jahren beobachteten die Forscher bei jenen Kindern, deren Mütter während der Naturkatastrophe besonders viel Stress hatten, eine Häufung von autistischen Zügen. Vor allem Jungen hatten oft eine ausgeprägte Scheu, mit Mitmenschen in Kontakt zu treten.

Wachsen sich die Erfahrungen im Mutterleib im Laufe des Lebens aus?

„Es sind oft jene Frauen, die selbst zur Ängstlichkeit und Depressivität neigen und schnell gestresst sind, die gestresste, unruhige Kinder bekommen“, sagt Matthias Schwab. Die Analysen der Psychologin Bea van den Bergh von der Katholischen Universität Löwen in Belgien haben das in aller Deutlichkeit gezeigt. Schon 1989 ermittelte sie das Ausmaß der Angst von 86 Frauen zu verschiedenen Zeitpunkten der Schwangerschaft. Frauen, die zwischen der 12. und 22. Woche besonders furchtsam waren, hatten eher Kinder, die in den ersten sieben Lebensmonaten besonders viel schrien und unregelmäßiger schliefen und aßen, ermittelte sie. Die Forscherin vermutet, dass das sich entwickelnde Nervensystem dieser Kinder auf Stress als Normalzustand ausgerichtet wird. Unter Stress arbeitet ihr Gehirn deshalb besonders effizient und schnell. Allerdings, so die Theorie, brauchen diese Kleinen den Dauerstress, und ihr Körper verursacht ihn ständig selbst. Weil Stress impulsiv macht, haben sie ihr Verhalten, ihre Gefühle und Gedanken schlechter unter Kontrolle.

Solche Erfahrungen im Mutterleib wachsen sich in späteren Jahren bestimmt aus, könnte man meinen. Doch dem widersprechen van den Berghs Arbeiten: Mit acht bis neun Jahren beurteilten Lehrer und Mütter weiterhin jene Kinder häufiger als besonders schwierig, unkonzentriert und rastlos, die von einer überängstlichen Frau ausgetragen worden waren. Auch als Jugendliche waren sie in Tests impulsiver. Sie antworteten schneller, aber machten mehr Fehler als andere Kinder. Selbst mit knapp zwanzig Jahren blieben die Unterschiede bestehen.

In den vergangenen Jahren konnte van den Bergh auch ergründen, wie die Angst der Mutter sich auf das Baby niederschlägt. Die Frauen haben besonders wenig von jenem spezifischen Enzym, dass dafür sorgt, dass das Stresshormon Kortisol abgebaut wird, ehe es die Plazenta passiert. Das Gehirn und die Gene des Ungeborenen sind deshalb vergleichsweise hohen Spiegeln von Kortisol ausgesetzt. Das wirkt sich auf das Verhalten aus, glaubt die Psychologin.

In Experimenten konnte sie das eindrucksvoll zeigen: Babys ängstlicher Schwangerer reagieren auf einen harmlosen Da-da-dada-Ton im Alter von neun Monaten fortwährend mit innerer Alarmbereitschaft. Gewöhnlich lernen die Säuglinge, wenn sie das Geräusch einige Male gehört haben, dass es nichts zu sagen hat, und schenken ihm keine Beachtung mehr. Nicht so die sensiblen Kleinen. Sie reagierten in einem standardisierten Test auch stärker auf panische Frauenstimmen. Sie sind also nicht nur ängstlicher, sondern filtern angsterzeugende Informationen auch viel stärker aus ihrer Umwelt.

„In einer sicheren Umgebung ist diese Reaktion von Nachteil und begünstigt Angsterkrankungen und andere psychische Auffälligkeiten“, glaubt van den Bergh. „Für Kinder, die in einem Krisen- oder Bürgerkriegsgebiet geboren werden, ist diese ständige innere Anspannung dagegen von Vorteil. Sie spüren sofort, wenn Gefahr droht.“ Sie macht damit den Sinn der fetalen Programmierung deutlich: Sie dient dazu, das Kind schon im Mutterleib bestmöglich auf die Verhältnisse im Leben der Mutter vorzubereiten.

Sind mal wieder die Mütter schuld?

Wirken sich selbst in einer normalen Schwangerschaft vielleicht schon kleine Zwischenfälle auf das Baby im Bauch aus? Dieser Frage ging die Psychologin Ulrike Ehlert von der Universitätsklinik Zürich nach.

Sie wählte 115 zehnjährige Kinder aus. Bei manchen von ihnen war die Mutter während der Schwangerschaft wegen vorzeitiger Wehen für zwei Tage mit Glukokortikoiden behandelt worden. Diese künstlich verabreichten Stresshormone beschleunigen die Lungenreifung bei den Ungeborenen und bereiten sie so auf eine vorzeitige Geburt vor. Diese Spritzen haben die gleiche Wirkung wie realer Stress, vermuten die Forscher. Sie simulierten gewissermaßen zwei Tage Seelenchaos in der Schwangerschaft.

Auf den ersten Blick glichen die Zehnjährigen, die vor der Geburt den Stresshormonen ausgesetzt waren, ihren Altersgenossen. Sie hatten einen normalen Intelligenzquotienten und besuchten alle eine Grundschule. Doch als Ehlert sie einem Stresstest unterzog, fielen ihr Unterschiede auf: Die Kinder jener Mütter, die seinerzeit Stresshormone gespritzt bekommen hatten, reagierten besonders schnell gestresst. Und sie glaubten am wenigsten daran, die Situation bewältigen zu können. „Stresshormone in der Schwangerschaft, auch wenn sie nur zwei Tage einwirken, erhöhen schon die Empfindlichkeit für Stress beim Kind“, fasst Ehlert zusammen.

Gestresste Mama, gestresstes Kind? Am ADHS ihres Sprosses sind Mütter also am Ende wegen panischer neun Monate noch selbst schuld? „So einfach ist die Sache beileibe nicht. Es gibt die beschriebenen Effekte, aber sie sind klein“, tritt Sonja Entringer von der Charité in Berlin auf die Bremse. „Es ist längst nicht so, dass eine stressige Schwangerschaft zwangsläufig ein gestresstes Kind bedeutet. Es gibt nur eine Tendenz, nicht mehr und nicht weniger.“

Noch etwas schränkt die Aussagekraft der bisherigen Studien ein: Alle Forscher haben die pathologische Brille auf. Sie suchen geradezu nach Auffälligkeiten, eben nach dem Unguten. Dabei räumt selbst die Pionierin der fetalen Programmierung, Bea van den Bergh, ein, dass man ihre Studienergebnisse auch positiv lesen kann: „Die Kinder aus einer stressigen oder angstgezeichneten Schwangerschaft sind in den kognitiven Tests nicht schlechter. Sie sind beispielsweise kreativer und reagieren viel stärker auf Lob“, betont sie. „Nur in Settings mit wenig Reizen, etwa einer langweiligen Schulstunde, fallen sie häufig in ihrem Verhalten aus dem Rahmen. Sie können sich nicht konzentrieren.“

Aufregungen abperlen lassen

Zudem lässt sich Stress gar nicht so einfach messen. Die Forscher befragen dazu meist die Frauen, oder sie messen den Kortisolgehalt im Speichel oder Blut. „Bei Frauen, die Stress am Arbeitsplatz beschreiben, etwa einen Streit mit einem Kollegen, oder bei denen ein Projekt scheitert, hat das oft gar keine messbare Auswirkung auf den Kortisolspiegel“, berichtet Ehlert. Subjektiv empfundener Stress und messbare Stresshormonspiegel hängen nicht immer zusammen, bestätigt Schwab diesen wunden Punkt der gesamten Forschung.

Ehlert glaubt einstweilen, dass Alltagsstress sich gar nicht auswirkt. Ärger mit der Familie, mit dem Nachbarn, Hektik auf dem Weg zur Arbeit oder die Angst vor einer Prüfung – all das kann dem Kind nichts anhaben. „Wir Frauen sind dagegen bestens geschützt. Nur Extremereignisse wie eben eine Naturkatastrophe oder der Tod des Partners oder eine erschütternde Diagnose schlagen sich im Kortisolspiegel nieder“, stellt sie klar.

Ansonsten schützt die Natur des Menschen den Nachwuchs vor seelischen Erschütterungen. Den meisten Frauen fällt es in der Schwangerschaft sogar leichter, Aufregungen von sich abperlen zu lassen.

So testete Sonja Entringer 148 Schwangere und 36 andere Frauen auf ihre Gelassenheit. Sie mussten vor einem Forscherteam eine kurze freie Rede halten und von der Zahl 2023 aus in 17er-Schritten rückwärts rechnen. Die Frauen in guter Hoffnung nahmen die Prüfung viel leichter als die anderen Frauen. Die Gelassenheit nahm sogar über die Schwangerschaft noch zu. Der Blutdruck kletterte während des Stresstests weniger, und auch die Herzfrequenz beschleunigte sich nicht mehr so.

Das entspricht der Erfahrung vieler Schwangerer, die sich als ausgeglichener und dickhäutiger erleben, jedenfalls, wenn man von der ersten Phase mit häufiger Übelkeit absieht.

Positiv wirkt sich auch soziale Unterstützung während der Schwangerschaft aus. Schon 2000 hatte eine Befragung an 247 Frauen ergeben, dass Rückendeckung durch die Familie, durch den Partner und durch Freunde für das Wachstum des Babys günstig ist und es vor Untergewicht schützt. Entringer entdeckte in noch unveröffentlichten Experimenten, dass bei den Kindern der sozial gut eingebetteten Frauen die Telomere, also die Enden der Chromosomen, länger sind. Die Telomere gelten als Schutz vor Krankheiten und als Indikator für ein langes Leben. Unter Stress verkürzen sie sich. Sozialer Rückhalt in der Schwangerschaft dürfte somit den Effekt von extremen Belastungssituationen abfedern und der Ausgeglichenheit von Mutter und Kind zugute kommen.

Es ist am Ende auch nicht so, dass Schwangere einem Schreckensereignis völlig hilflos ausgeliefert sind. Bea van den Bergh und Ulrike Ehlert wiesen in unterschiedlichen Experimenten nach, dass ein Training der Achtsamkeit hilft, zur inneren Mitte zurückzufinden. Die Herzfrequenz schwankte dann weniger stark und lag niedriger, ebenso der Blutdruck. Auch fühlten sich die Frauen entspannter. „Wir brauchen aber mehr psychosoziale Unterstützung für schwangere Frauen, die sich in einer Belastungssituation befinden“, fordert van den Bergh. Psychologische Betreuung etwa bei Frauen, die während der Schwangerschaft ihre Heimat verlassen müssen oder einen Todesfall erleben, wäre nötig. Solche Angebote gibt es bisher nicht.

Für daily uplifts sorgen

Welche Botschaft lässt sich für betroffene Frauen aus der Forschung zur fetalen Programmierung ableiten? „Don’t blame the mother“ – stellt nicht die Mutter an den Pranger –, mahnte die Genderforscherin Sarah Richardson von der Harvard-Universität 2014 in einem öffentlichen Appell im Fachblatt Nature.

„Niemand kann ein besseres Gespür haben als die Mutter, was gut und was schlecht für das Baby ist“, ermutigt die Psychobiologin Ulrike Ehlert. Der einzige und einfache Rat an werdende Mütter, den sie sinnvoll findet: bewusster als sonst darauf achten, dass sich Stress und Entspannung die Waage halten. „Schon kleine daily uplifts, kleine tägliche Glücksbringer, wirken in der Schwangerschaft stressreduzierend“, so Ehlert. Das kann ein ausgiebiges Bad im Kerzenschein sein und für alle, die schon Mütter sind, vielleicht eine Tasse Kaffee auf dem Balkon mit Ohropax im Gehörgang, damit man die eigenen Kinder mal für fünf Minuten nicht toben hört.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2017: Wie tickt dieser Mensch?