Darren geht in die achte Klasse, ein Sitzenbleiber, zwei Jahre älter als seine Mitschüler. Ein schwieriger Junge mit einer schwierigen Geschichte. Er war vier, als seine Mutter vor seinen Augen ermordet wurde. Seither hat Darren bei verschiedenen Pflegefamilien gelebt. Seinen Schädel trägt er kahl rasiert, ein Tattoo ziert seinen Hinterkopf.
Darrens Klasse hat heute einen ungewöhnlichen Besucher, ein sechs Monate altes Baby namens Evan. „Er kuschelt nicht besonders gern“, erklärt Evans Mutter der neugierigen Klasse. Andere Babys wollen mit dem Gesicht zum Körper der Mutter getragen werden. Bei Evan ist das anders. Er liebt es, wenn er dabei nach vorne sehen kann, hinaus in die Welt. Als die Stunde endet, fragt der Lehrer, wer den Kleinen einmal halten möchte. Zu seiner Überraschung ist es Darren, der den Finger hebt. Darren steht in der Ecke und wiegt das Baby hin und her, während seine Mitschüler in die Pause verschwinden. Als er das Kind der Mutter zurückgibt, fragt er seinen Lehrer: „Was glauben Sie – wenn man als Kind nie geliebt wurde, kann man trotzdem ein guter Vater sein?“
Darrens Story gehört zu den Lieblingsgeschichten von Mary Gordon. Wenige Menschen haben das Schulsystem Kanadas in den vergangenen Jahren stärker beeinflusst als die in Neufundland geborene Pädagogin. In den 1990er Jahren erfand sie ein neues Unterrichtsfach, in dem die Kinder nicht Lesen, Schreiben oder Rechnen lernen, sondern eine Fähigkeit namens Mitgefühl trainieren. Was als kleines Projekt in Toronto begann, gehört inzwischen zum Standardlehrplan in Kanadas Staatsschulen. Bis heute haben mehr als 500 000 Kinder den einjährigen Kurs Roots of Empathy durchlaufen.
Mary Gordons Erfindung funktioniert wie die meisten erfolgreichen Ideen: Man fragt sich, warum man selbst noch nicht darauf gekommen ist. Das Neue daran versteht man innerhalb weniger Sekunden – um es zu erklären, braucht man nur einen einzigen Satz: Bei Roots of Empathy ist der Lehrer ein…
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