Frau Theeg, wie häufig begegnet Ihnen das Thema Scheidung in Ihrer Praxis?
Die Kinder und Jugendlichen kommen meist nicht wegen der Trennung der Eltern in Behandlung, sondern weil sie vordergründig andere Probleme haben, sei es in der Schule oder in der Freizeit. Erst mit Beginn der Gespräche stellt sich dann oft heraus, dass die Eltern sich beispielsweise im starken Streit getrennt haben oder gerade trennen – und diese Situation der Auslöser der psychischen Leiden ist.
Welche Beschwerden und Probleme…
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trennen – und diese Situation der Auslöser der psychischen Leiden ist.
Welche Beschwerden und Probleme beobachten Sie dann?
Die Trennung der Eltern gleicht für die Kinder einem Vulkanausbruch. Es ist etwas, das sie bewältigen müssen, und dabei gibt es unterschiedliche Verläufe. Gehen Eltern auf die Sorgen und Bedürfnisse der Kinder ein, brauchen diese oft nicht so viel externe Hilfe. Viele meiner Patientinnen und Patienten dagegen berichten etwa von Ängsten, beispielsweise davor, abends einzuschlafen oder auf Klassenfahrt zu gehen. Dahinter steht das Empfinden: Ich fühle mich nicht sicher. Manche entwickeln Wut oder Aggression, die sie anderen gegenüber ausleben. Bauch- oder Kopfschmerzen sind häufig. Sehr oft erlebe ich, dass die Kinder Selbstwertprobleme haben.
Wie erklären Sie sich Letzteres?
Wenn die Trennung der Eltern nicht kindgerecht ist, also Mutter und Vater wenig erklären, stattdessen streiten und die Kinder in Loyalitätskonflikte bringen, dann greifen diese auf eine typische Strategie zurück, mit der sich Kinder Belastungen stellen: Sie geben sich für das Geschehen die Schuld. Das gibt ihnen das Gefühl, die unkontrollierbare Situation beeinflussen zu können. Tatsächlich scheitern sie aber ständig, denn sie können die Eltern in der Regel nicht versöhnen. Dafür machen sie sich verantwortlich: „Ich kriege es nicht hin.“ Daraus folgt: „Ich kann nichts, ich bin nichts wert.“ Diese Schuld- und Schamgefühle bleiben oft bis ins Erwachsenenalter bestehen.
Welche Auswirkung haben die Loyalitätskonflikte?
Drastische. Wenn ein Kind gern zu seinem Papa geht, die Mutter aber signalisiert, dass sie das traurig macht, dann ist das für das Kind belastend. Ebenso wenn Mutter oder Vater die andere Person vor dem Kind schlechtmachen. Das Kind bekommt das Gefühl, sich für eine Seite entscheiden zu müssen, und wird dazu in manchen Familien auch aufgefordert. Das Kind besteht aber aus beiden Elternteilen. Sich gegen einen Teil zu entscheiden bedeutet auch, etwas in sich selbst abzulehnen.
Was brauchen die Kinder aus Trennungsfamilien?
Wichtig ist, ernst zu nehmen, dass sich viele Kinder in einer schwierigen Situation befinden und wir ihnen zu verstehen geben sollten, dass ihre Gefühle in Ordnung sind, egal ob Wut, Angst oder Hilflosigkeit, und dass sie sich Hilfe holen dürfen. Ich würde mir zudem wünschen, dass außer den Eltern auch alle anderen Menschen im Umfeld mehr auf diese Kinder Acht geben und Unterstützung anbieten, sowohl den Kindern als auch den Eltern. Die Eltern wiederum sollten ihre eigenen Verletzungen verarbeiten, möglicherweise auch mit Hilfe von außen, damit sie ihre eigenen Probleme nicht auf dem Rücken der Kinder austragen und somit deren Bedürfnisse im Blick behalten.
Lesen Sie hierzu auch den Artikel Bruch in der Kindheit, darüber wie Kinder die Trennung ihrer Eltern wahrnehmen und verarbeiten.
Julia Theeg ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Hannover und hat sich in ihrer Praxis auf Traumatisierung spezialisiert. Sie ist gemeinsam mit Inke Hummel Autorin des Buches Wir erwachsenen Trennungskinder.