Erinnerung von Inke Hummel, 1987:
Streiten. Lautstark. Es riss mich heftig aus dem Schlaf. Mein Kinderzimmer war dunkel. Ich spürte sofort Angst und Unsicherheit. Die Geräusche kamen von meinen Eltern. Ich konnte keinen Fuß aus meinem Bett setzen. Ich konnte nicht nachschauen, was da vor sich ging. Oder ging ich doch? Ich habe Bilder im Kopf von dieser Nacht, aber ich weiß nicht, ob ich sie wirklich gesehen oder mir zusammengereimt habe.
Inke, 2023:
Meine Eltern trennten sich kurz vor meinem zehnten Geburtstag…
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trennten sich kurz vor meinem zehnten Geburtstag. Es ging ihnen als Paar schon lange nicht gut, weil sie nicht mehr in die gleiche Richtung schauen und Lösungen für entstandene Probleme finden konnten. Mein Vater mochte keine Beratung oder Unterstützung von außen annehmen, um an der Ehe zu arbeiten. Mama war die Hilfesuche allein angegangen, doch ohne ihn hatte es einfach keinen Sinn. Irgendwann sah meine Mutter keinen anderen Weg mehr, als zu gehen.
Die Trennung meiner Eltern ist 36 Jahre her. Ich bin heute erwachsen, habe einen Mann, drei eigene Kinder, und doch bin ich ein Trennungskind geblieben. Wenn Eltern sich trennen, während ihre Kinder noch jung sind, ist das zunächst nur ein Einflussfaktor in deren Leben, aber möglicherweise ein besonders prägender. Die heute erwachsenen Trennungskinder sind laut oder leise, sportlich oder Leseratten, freigebig oder kleinlich, zufrieden oder unglücklich. Alles ist möglich. Und doch bleibt da diese Vergangenheit, dieser Schnitt in der Familiengeschichte. Ein Davor und ein Danach.
Schon ein Umzug kann verunsichern
Immer wieder zerbrechen Beziehungen, immer wieder gehen Ehen auseinander. Die Zahl der mitbetroffenen Kinder ist nicht unerheblich: Zählt man alle Trennungskinder seit 1985 zusammen, sind es mehr als fünf Millionen, die als Kinder oder Jugendliche erlebt haben, wie die Ehe ihrer Eltern zerbrach – und damit ihr Zuhause. Und das sind nur jene Kinder aus amtlich verzeichneten Ehen, hinzu kommen noch all jene von Paaren ohne Trauschein.
Der Zeitpunkt ist besonders kritisch. Kindheit und Jugend sind Phasen, in denen Menschen diese Welt kennen- sowie sich und ihre Mitmenschen verstehen lernen. Es ist die Zeit, in der wir Muster entwickeln, wie wir miteinander umgehen, wie wir denken und fühlen. Die Identität, also unser Bild davon, wer wir sind, bildet sich in diesen wichtigen Jahren heraus. Und welche Form und Richtung all diese psychischen Eigenschaften von uns annehmen, hängt maßgeblich davon ab, was wir in jungen Jahren erleben.
Schon ein Umzug kann Kinder verunsichern. Also ist es nicht nur denkbar, sondern fast unausweichlich, dass die Trennung der Eltern Spuren bei ihnen hinterlässt. Die Eltern sind die ersten Menschen, die wir bedingungslos lieben. Sie sind für uns die Vorbilder, unsere Ankerpunkte und Beschützer, und als Kind sind wir tief mit ihnen verwurzelt. Eltern sind für Kinder eine Einheit, ein unzerlegbares Wesen. Wenn die Entität auseinanderbricht, rüttelt das am kindlichen Weltbild und seinem Urvertrauen.
Der Bruch kann Verhaltensmuster, Gefühlsregungen und Denkweisen, die bis ins Erwachsenenalter anhalten, prägen. Das können günstige Merkmale sein, wie eine starke Selbständigkeit, um den Elternteil zu entlasten, der einen allein großzieht. Oder auch ungünstige. Der Selbstwert kann Schaden nehmen, massive Gefühle wie Wut, Schuld oder Trauer begleiten Betroffene, wenn unbearbeitet, möglicherweise durchs Leben und lenken sie auf Pfade, die ihnen nicht guttun. Ein übersteigertes Bedürfnis nach Harmonie oder überbordende Hilfsbereitschaft zehren an den Betroffenen.
Unbeantwortete Briefe
Die Trennung der Eltern verändert oft auch die anderen Beziehungen innerhalb der Familie, also wie sich Mutter und Kind beziehungsweise Vater und Kind gegenüberstehen oder wie nahe sich Geschwister in der Folge sind. Ebenso wird die Bindung zu den Großeltern, zu Tanten, Onkels oder Cousinen und Cousins auf eine Probe gestellt. Das gesamte Familiengefüge sortiert sich nach einer Trennung neu, nicht wenige Kontakte bröckeln dann.
Eine Tatsache in meinem Leben, die ich schon mehrfach als abgehakt betrachtet hatte. „Jetzt bin ich durch damit. Jetzt macht das nichts mehr mit mir.“ Und dann holt es mich doch wieder ein. Ich werde jetzt 40. Die Trennung meiner Eltern liegt über 30 Jahre zurück. Viele Momente aus dieser ersten Zeit sind in mein Gedächtnis eingebrannt und haben mein schüchternes, stilles Kinderwesen mitbestimmt.
Es schmerzte mich fürchterlich, dass jahrelang kein einziger meiner Briefe, die ich mit viel Liebe geschrieben, mit Stickern und Malereien verziert hatte, jemals beantwortet wurde und auf Nachfrage die Erklärung kam: „Ich schreibe eben nicht gerne.“ Es wäre so wichtig gewesen für mich als Kind, für mich als Teenie, der sich Zeit genommen und versucht hatte, sich zu öffnen, in Kontakt zu bleiben. Über viele, viele Kilometer hinweg. Es war so traurig, dass der Papa nie eine Frage stellte zu meinem Leben, meinen Freunden, meinen Hobbys, weil ich beim Antworten irgendwo die Mama hätte erwähnen können. Stattdessen herrschte Stille, fast immer. Ich wurde älter, aber blieb immer das Kind für ihn. Er kannte mich nicht, wusste nichts mehr von mir; und ich schwieg.
Widerstandsfähig durch Scheidung
Die Psychologin Judith Wallerstein aus den USA legte wohl den Grundstein dafür, dass Scheidungskinder überhaupt in den Fokus der psychologischen Forschung gelangten. In ihrer Langzeitstudie, die über Jahrzehnte angelegt war, entdeckte sie bei den von Scheidung betroffenen Kindern und Jugendlichen einen sleeper effect. Demnach wirkte es bei vielen von ihnen kurz nach der Trennung so, als hätten sie den Cut gut verkraftet. Doch als sie älter wurden, erste ernsthafte Beziehungen eingingen oder eigene Familien gründeten, kamen unverarbeitete Themen von früher wieder hoch.
Der Befund von Wallerstein ist nicht unumstritten, ihre Stichprobe war sehr klein und bestand ausschließlich aus Frauen. Auch bezeugen Expertinnen und Experten von Asien bis Amerika: Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen kommt auf lange Sicht wohlbehalten und psychisch gesund aus der Trennung oder Scheidung der Eltern heraus. Das betonen zum Beispiel die US-Psychologen Brian D’Onofrio und Robert Emery 2019 in einem Beitrag für das Fachjournal World Psychiatry: „Die meisten Kinder, deren Eltern sich trennen, sind widerstandsfähig und zeigen keine offensichtlichen psychologischen Probleme.“ Sie sagen aber auch, dass selbst die psychisch starken jugendlichen und erwachsenen Trennungskinder von schmerzhaften Gefühlen und Erfahrungen berichten und sich immer wieder sorgen.
Man kann nicht jede Spur, die ein familiärer Bruch bei Kindern und Jugendlichen hinterlässt, vermessen und beziffern. Die meisten Kinder wachsen recht unbelastet auf, auch in getrennten Familien. Dennoch gibt es jene, die es nicht gut verkraften – verletzte Kinderseelen, die Enttäuschungen erlebt und Verluste erlitten haben.
Weniger Stigmatisierung
Trennungssituationen können den Nährboden für psychische Erkrankungen bei Kindern bereiten: Die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression oder Angststörung zu erkranken, ist bei Kindern und Jugendlichen aus Trennungsfamilien erhöht, ebenso die Neigung zu Suizidgedanken und -versuchen. Auch haben sie eher Probleme im Umgang mit Alkohol und Drogen. Das ergab eine Übersichtsstudie, für die ein Forschungsteam aus Österreich die Daten aus 54 internationalen Studien und damit von mehr als 500 000 Teilnehmenden aus Scheidungs- sowie unentzweiten Familien zusammengetragen und verglichen hat.
Immerhin: In der Zeit zwischen 1990 und 2017, aus der die Daten stammen, ging die Zahl der psychischen Beschwerden unter Trennungskindern Jahr für Jahr zurück. Vermutlich weil Scheidungen und Trennungen heute keine Seltenheit mehr sind, weniger stigmatisiert werden und folglich die Kinder und Jugendlichen weniger Vorbehalten begegnen, seltener wie sonderbare Wesen behandelt und ausgeschlossen werden. Vermutlich gibt es auch ein größeres Bewusstsein dafür, dass Kinder im Trennungsgemenge verstärkt Zuwendung brauchen.
Wichtig ist aber auch: Eine Scheidung oder Trennung ist nur selten der Grund dafür, dass eine psychische Erkrankung ihren Lauf nimmt. Und sie ist nie der alleinige Auslöser, nie die alleinige Ursache – meist ist es ein Zusammenspiel zahlreicher Faktoren. In Trennungsfamilien häufen sich zum Beispiel oftmals belastende Faktoren, die die Kinder zusätzlich herausfordern. Das bestätigt eine repräsentative Untersuchung aus Deutschland, die 2021 veröffentlicht wurde: Forschende analysierten dabei die Daten von 2466 Erwachsenen, die in der Kindheit die Trennung ihrer Eltern erlebt hatten.
Der Befund: „Die Trennung der Eltern war nicht mit einer erhöhten Rate psychischer Beeinträchtigungen assoziiert, wenn keine anderen Formen von Kindheitsbelastungen vorlagen.“ Seelische Spuren hinterließ die Trennung beispielsweise sehr wohl, wenn gleichzeitig ein Elternteil oder Geschwister psychisch erkrankt war, Familienmitglieder im Übermaß Alkohol oder Drogen nahmen oder Gewalt gegen die Kinder oder die Mutter ausgeübt wurde. Kinder und Jugendliche aus Trennungsfamilien erlebten häufiger solche negativen Einflüsse: „Gerade diese Kumulation von belastenden Kindheitserlebnissen scheint es zu sein, die mit Beeinträchtigungen im Erwachsenenalter zusammenhängt.“
Die Kluft in der Kernfamilie
Erkrankt beispielsweise ein Elternteil psychisch und führt das zur Trennung oder löst die Trennung selbst eine Krise bei Mutter oder Vater aus, leidet das Kind auf vielen Ebenen mit. Beide Szenarien führen dazu, dass die bereits angespannte Lage noch problembehafteter wird und allzu oft die Kinder mit ihren Bedürfnissen in den Hintergrund treten. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass vor allem der Umgang der Eltern miteinander ausschlaggebend dafür sein kann, wie es den Kindern und Jugendlichen in diesen Familien geht. Ist die Lage zwischen Mutter und Vater sehr konfliktbeladen, wird viel und möglicherweise auch unfair gestritten oder wird es gar handgreiflich, dann lastet das auf den Kinderseelen besonders schwer. Zugleich bleibt den Eltern oft keine Kapazität, sie überhaupt als Mitbetroffene in der Situation wahrzunehmen.
Ich versuchte manchmal, ihm von mir zu erzählen. Doch jedes Mal, wenn ich unbedacht meine Mutter erwähnte, die nun mal zu meinem Alltag in Bonn gehörte, reagierte mein Vater, als habe ich ihn mit einem Messer geschnitten und würde es in seinem Körper noch herumdrehen. Es schmerzte ihn. Er hatte die Wut über die Trennung, sein misslungenes Glück nicht verwunden. Und das machte mir Schuldgefühle!
Die Psychologinnen und Psychologen aus Österreich benennen in ihrer Erhebung weitere mögliche Folgen, die eine Scheidung auf die seelische Gesundheit der Kinder haben kann:
Die Trennung der Eltern führt häufig zu einer Trennung von einer bislang existenziellen Bezugsperson, entweder Vater oder Mutter. Das kann das Bindungsverhalten, das sich im Kindesalter entwickelt und maßgeblich dafür ist, wie wir später in Partnerschaften, Arbeitsbeziehungen oder Freundschaften handeln, in Schieflage bringen. Ein unsicherer Bindungsstil kann die Folge sein. Studien zufolge ist dieser beispielsweise eng verknüpft mit Depressionen und Suchterkrankungen.
Die Trennung verändert aber auch die sozialen und ökonomischen Möglichkeiten: Zumeist gibt es weniger Sozialkontakte und weniger Geld in der Haushaltskasse – weil eine Hälfte der Familie fehlt. Expertinnen und Experten sprechen von einem niedrigen sozioökonomischen Status, der ebenfalls mit psychischen Beschwerden in Verbindung gebracht wird.
Der Stress, den die Trennung und ihre Begleitumstände im Kind auslösen, lässt sich unter anderem an der Menge von Kortisol im Körper messen. In stressigen Zeiten schießt unser Körper dieses Stresshormon in die Blutbahnen. Kurzfristig ist das sinnvoll und hilfreich: Es schärft die Sinne, macht handlungsfähig. Bleibt der Kortisolspiegel im Körper aber dauerhaft auf hohem Niveau, leistet das sowohl körperlichen als auch psychischen Beschwerden Vorschub. Irgendwann ist der Körper von dem dauerhaften Alarmzustand überfordert, geradezu ausgelaugt.
Wenn man die betroffenen Kinder von einst als Erwachsene befragt, bringen viele ihre seelischen Leiden oder ungünstigen Verhaltens- und Denkmuster von heute in enge Verbindung mit der Kluft, die sich einst durch ihre Kernfamilie zog.
Kurz nach Neujahr 2014 wurde bei meinem Vater, während er zu Besuch bei meiner Schwester in Bonn war, Krebs diagnostiziert. Er musste umgehend ins Krankenhaus, konnte auch nicht zurück nach Flensburg; alles musste hier geschehen. Zu dieser Zeit traf ich den zweiten Teil meiner Entscheidung in Bezug auf ihn: Ich wollte mich nicht mehr nur verbiegen und ungesund zurücknehmen, ich wollte und konnte auch in dieser schweren Zeit nicht mehr tun als das Nötigste.
Ich half so gut, wie ich konnte. Doch meine Schwester und ihr Mann machten tausendmal mehr. Davor ziehe ich meinen Hut und bin sehr dankbar, dass sie das leisten konnten. Mir war das nicht mehr möglich. Meine Kindheit hatte ich nicht bestimmen können. Meine Entwicklung hatte ich da noch nicht in die Hand nehmen können. Aber mir wurde klar, dass ich meine Gegenwart gestalten konnte – und das tat ich. Für mich.
Zuwendung und Aufmerksamkeit als Puffer
Es bedarf der Aufmerksamkeit von uns allen: Eltern, Großeltern, anderen erwachsenen Familienmitgliedern, Hausärztinnen und Kinderärzten, Erzieherinnen und Erziehern in Kindertagesstätten sowie Lehrkräften. Sie alle haben mit den Kindern zu tun, ihre Aufmerksamkeit und Zugewandtheit kann ein Puffer sein in dieser Zeit.
Für erwachsene Trennungskinder, die eine solche Unterstützung nicht hatten, bleibt dennoch die Möglichkeit, offene Wunden zu heilen. Manchen tun Gespräche gut, andere greifen zu Zettel und Stift, einige durchdenken die Themen und wieder andere benötigen professionelle Hilfe.
Jetzt sitze ich hier, den Anruf im Ohr, vor dem man sich immer fürchtet, und weine. Nicht vor Trauer über einen wahrscheinlich sehr bald bevorstehenden Abschied. Sondern vor Verzweiflung, weil es nicht in meiner Hand lag, dass ich hier und heute keine Verbindung mehr zu meinem Vater spüre.
Bitte: Sollte kein Weg an einer Trennung vorbeigehen, versucht die Verbindung zu euren Kindern nicht zu verlieren. Die Kinder können nichts für eure Schmerzen! Sie brauchen euch.
Ich als erwachsenes Trennungskind bin schon ein gutes Stück auf dem Weg gegangen, die Einflüsse von damals abzuschütteln. Als Teenagerin begann ich, mich langsam mit den Problemen auseinanderzusetzen, indem ich Tagebuch schrieb. Als junge Erwachsene gewann das Thema „Scheidung meiner Eltern“ rund um meine eigene Heirat und meine Mutterschaft an Wichtigkeit, weil ich mehr und mehr spürte, wie sehr mich manches noch immer belastete, da es nicht aufgearbeitet war. Davon wollte ich mich befreien und ich bin teilweise noch mit therapeutischer Hilfe dabei.
Lesen Sie auch „Die Trennung der Eltern gleicht einem Vulkanausbruch“. Ein Interview mit Julia Theeg aus derselben Ausgabe.
Auszüge aus dem Buch Wir erwachsenen Trennungskinder. Prägende Kindheitserfahrungen verstehen und eigene Wege gehen. Inke Hummel und Julia Theeg sind die Autorinnen, Jana Hauschild hat das Vorwort geschrieben. Das Buch erscheint dieser Tage bei Beltz.