Über die Psychologie des Amateurfußballplatzes

Lokale Sportanlangen sind Orte, die Spieler und Fans eines Vereins zusammenschweißen. Über die Psychologie des Amateurfußballplatzes.

Fussballspieler in Leipzig auf dem Platz beim Lokalderby
Der Amateurfußballplatz ist geprägt durch Gemeinschaft und Nähe. © photoarena/Eisenhuth/IMAGO

Die lokalen Fußballplätze des Amateurfußballs der Frauen, Männer, Jugendlichen und Kinder sind begrenzte Räume, in denen Wochenende für Wochenende deutlich mehr Spiele stattfinden als in den Stadien des spektakulären Profifußballs. Für die biografische Entwicklung Einzelner und gesellschaftliche Prozesse ist alles, was unterhalb des Profifußballs geschieht, also bedeutsamer als das omnipräsente professionelle Hochglanzprodukt.

Charakteristisch für den nichtprofessionellen Fußball ist dabei zunächst die…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Hochglanzprodukt.

Charakteristisch für den nichtprofessionellen Fußball ist dabei zunächst die persönliche Verortung der Beteiligten in diesen lokalen Räumen, was sich auf der individuellen Ebene in der Regel in einer Vereinsmitgliedschaft ausdrückt. Die durch Anonymität geprägte Atmosphäre in den großen Stadien wird hier durch die Frage absoluter Zugehörigkeit oder eben Nichtzugehörigkeit kontrastiert.

Betritt man eine lokale Sportanlage im Stadtteil oder im Dorf, stellt sich also umgehend die Frage nach Verortung, und zwar auf einer persönlichen Ebene. Während im Stadion des spektakulären Profifußballs die Inszenierung des Events nach einer groben Parteinahme für die eine oder andere Mannschaft und deren Farben verlangt, geht es auf dem Platz des Amateurfußballs vor allem um die Frage, ob man zu der Gemeinschaft, der Vereinsfamilie gehört und andere Anwesende mitunter persönlich kennt.

Am Spielfeldrand wird die Körperlichkeit spürbar

Häufig sind die Ehrenamtlichen, die Familien sowie Freunde und Freundinnen der Spieler oder Spielerinnen auch während offizieller Spiele unter sich. Erst wenn die Anzahl der Zuschauenden in Ausnahmefällen größer ausfällt (Derbys!), lassen sich Fanlager ausmachen, existiert regelrechter Support, der aber weniger orchestriert ist als im großen Stadion, sondern sich in einem oft aufgeregten und hitzigen Wirrwarr sich überlagernder und überschlagender Stimmen ausdrückt.

Geprägt ist dieser Raum durch den Eindruck und das Gefühl von Nähe: Die Zuschauenden verfolgen die Spiele direkt am Spielfeldrand. Dadurch bekommt man einen direkten Eindruck von Körperlichkeit vermittelt, wenn etwa Spielerinnen und Spieler in direkter Nähe Zweikämpfe führen, ineinanderkrachen, sich verletzt am Boden krümmen oder sich gegenseitig beschimpfen. Verbale Interaktionen, der Austausch von Freundlichkeiten und Unfreundlichkeiten zwischen den Zuschauenden, den Spielenden und den Unparteiischen sind keine Seltenheit und bestimmen die Wahrnehmung von Atmosphäre.

Die Anlagen bieten keine exklusiven Räume, keine VIP-Bereiche – das ist in der Regel erst im semiprofessionellen Fußball der Fall –, jede Person, die Eintritt bezahlt hat, kann sich relativ frei bewegen. Tabu sind nur die Umkleidekabinen der Mannschaften. Platzwarte sorgen für und rufen zur Ordnung, sammeln Liegengelassenes, präparieren und pflegen die Plätze (Eckfahnen stecken), kurzum: Sie bewegen sich wie Sheriffs in alten Western über die Anlage und haben als verlängerte Arme der Stadt- oder Dorfverwaltung auch ein gewisses Maß an Autorität.

Essen, Getränke und Musik prägen die Stimmung

Essen und Getränke spielen auf lokalen Sportanlagen eine zentrale Rolle, in der Regel verkauft aus kleinen Buden, im Kinderfußball oder während Turnieren von Bierbänken oder Tischen („Selbstgebackenes“), was mitunter an Stimmungen und Gerüche von Schulfesten oder in Freibädern erinnert. Auch die Musik nimmt eine wichtige Rolle ein: als ständiges Hintergrundgeräusch, während des Warmmachens oder wenn die Mannschaften direkt vor dem Spiel auf den Platz schreiten und sich anschließend per Handschlag begrüßen. Die Klangqualität der Lautsprecher ist häufig miserabel, die Abläufe ähneln denen des Profifußballs.

In den letzten beiden Jahrzehnten haben Kunstrasenplätze an Bedeutung gewonnen, deren Neubau und stadionhafte Einzäunung und damit Schließung – oft einhergehend mit der Umbenennung in „Arena“ – als Ausdruck eines Modernisierungsprozesses und existenzsichernde Maßnahme gedeutet werden können: Die Existenz zu sichern ist der wesentliche Antrieb jedes lokalen Fußballvereins.

Die Kunstrasenplätze lösen in der Regel die alten Hartplätze oder Tennenflächen ab, aber auch bestehende Naturrasenplätze. Generationen von Spielern und Spielerinnen wurden auf der sogenannten „Asche“ groß und wissen davon zu berichten, mit nässenden Schürfwunden, die wochenlang an Hosen und Bettlaken klebten, mit staubigen Plätzen im Sommer und gefrorenen oder matschigen im Winter, die das Spiel oftmals zu einer besonderen Herausforderung machten.

Der Kunstrasen imitiert die Natur

Die modernen Kunstrasenplätze stehen demgegenüber für eine Interpretation zunehmender Attraktivität des Spiels, das vermeintlich immer schneller und sauberer wird und in dem das unwägbare Element sowie der Schmutz weiter zurückgedrängt werden. Hier geht es um Disziplinierung, Ausbildung, Vorstellungen von Hygiene und angemessenen Umgang mit Körperfunktionen.

Natur hat der Amateurfußball in diesen Räumen weitgehend hinter sich gelassen, vielmehr imitiert er sie: Die Kunstrasenplätze sind immer grün, obwohl sie natürlich auch lila oder orange sein könnten. Damit bietet der Kunst­rasen das ideale Umfeld für die zunehmende kommunikative und rituelle Modernisierung und Professionalisierung des Spiels auch in den untersten Amateurbereichen oder im Kinderfußball.

Schließlich ist auf den lokalen Anlagen häufig die Rede vom „Spaß“, um den sich vermeintlich alles dreht. Es gilt jedoch zu bedenken: Amateurfußballer, Jugend- und Kinderfußballerinnen unterwerfen sich in ihrer Freizeit Verhältnissen der Arbeitswelt und Zwängen der Ökonomisierung des eigenen Körpers beziehungsweise der eigenen Biografie.

Der Zusammenhang von Leis­tung und Spaß findet sich besonders ausgeprägt auf der Ebene des Kinder- und Jugendfußballs. Kinder sollen in einem auch architektonisch überschaubaren und kontrollierten Rahmen Spaß haben, sich erproben und Freizeit erleben. Diese Erprobung ist jedoch aus Sicht vieler Eltern hochgradig zweckrational und von Optimierungsbestrebungen („Traum Profifußballer“) gekennzeichnet. Der lokale Fußball ist entsprechend auf allen Ebenen fest in den elterlichen Erziehungsplan eingebunden.

Dr. Kristian Naglo ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Sport­entwicklung und Freizeitforschung der Deutschen Sport­hochschule Köln tätig. Er ist Mitinitiator der internationalen Fußballforschungsgruppe Small Worlds. Sein Buch In Fußballwelten erscheint demnächst bei Springer.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2023: Bei sich ankommen