Die Welt, die sich allen öffnet, die ein professionelles Fußballspiel in einem Stadion besuchen, ist ein auf alle Sinne einstürmender Kontrast zum Alltag. Sobald man aus der Betonkonstruktion drumherum das Innere aus Tribüne und Spielfeld betritt, weitet sich der Raum und wird plötzlich dominiert von Menschen, kleinen Gruppen oder Familien auf der Suche nach ihren Plätzen, Essen und Getränke jonglierend. In diesem Moment erscheint eine neue, helle und nach (Fan-)Farben geordnete Welt. Der Rasen leuchtet…
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In diesem Moment erscheint eine neue, helle und nach (Fan-)Farben geordnete Welt. Der Rasen leuchtet grün und riecht natürlich nach Wiese.
Der Geräuschpegel ist geprägt durch ein lautes Gewirr an Stimmen, während sich die Spieler ritualisiert aufwärmen und der Stadionsprecher Informationen zu den Mannschaften verkündet, auf die die Fans mit Gebrüll reagieren.
Nicht einsehbar sind die Katakomben mit dem Kabinentrakt, der „Bauch“ des Stadions, ein mystischer Ort und Schauplatz von Pressekonferenzen. Aus ihm heraus betreten die Spieler den Platz, was den Lärmpegel sofort in die Höhe schnellen lässt. Noch zeigen beide Mannschaften sich gemeinsam, ein respektvoller Einmarsch der Gladiatoren vor dem Kräftemessen.
Kommerzielles Hochglanzprodukt
Nimmt man die Zuschauenden vor dem Anpfiff noch als Individuen wahr, sind sie nach dem Kick-off nur noch Kulisse für das Geschehen auf dem Rasen. Aus der Vielfalt der Stimmen werden lautere eingeübte Gesänge und mitunter leidenschaftliches Schreien und Pfeifen. Gerahmt ist das Geschehen häufig von riesigen Bildschirmen, die Spielsequenzen vervielfachen und die visuellen Reize potenzieren. Hat das Spiel begonnen, wird es also gleichzeitig und paradoxerweise für die Anwesenden zusätzlich aus verschiedenen Perspektiven übertragen, wie in einem riesigen Wohnzimmer.
Vor vier Jahrzehnten, bevor es Privat- und Bezahlfernsehen gab und als das Spiel auf Topniveau noch kein hochkommerzialisiertes Hochglanzprodukt war, prägte die Atmosphäre im Stadion vor allem eine Geruchsmischung aus Urin, Bier, Bratwurst und Pyrotechnik. In den familienfreundlichen modernen Arenen heutzutage findet man oft ein breites kulinarisches Angebot und saubere Sanitäranlagen, mitunter sogar Heizstrahler an den Dachkonstruktionen.
Pyrotechnik ist verboten. Die gewaltbereiten Hooligans wurden verdrängt. In den Vordergrund ist der Aspekt der Disziplinierung getreten. Das Spiel wird sauberer und schneller, das unwägbare Element und der Schmutz werden zurückgedrängt. Kontrolle und (Video-)Überwachung sind gängig, in manchen Ländern ist eine Gesichtserkennung Voraussetzung für den Zugang.
Zusammen und doch getrennt
Spielende sind im Stadion strikt von den Zuschauenden getrennt, Berührungen werden nur in Einzelfällen erlaubt, zum Feiern auf dem Platz oder wenn Spieler zu den Fans gerufen werden, um das „Humba-Lied“ anzustimmen. Auch die verschiedenen Zuschauergruppen sind streng separiert: Stehränge, verschiedene Sitzplatzareale, VIP-Bereich oder Lounge mit der Möglichkeit, das Spiel indoor inklusive Buffet zu verfolgen.
Es sind einerseits verschiedene gesellschaftliche Schichten auf der Tribüne zu finden, andererseits besteht ein Zusammenhang von finanziellen Möglichkeiten und körperlicher Mobilität: Je weniger Kapital der Einzelne besitzt oder einsetzt, desto stärker ausgeprägt ist die Erfahrung von Begrenztheit.
Die Zuschauer und Zuschauerinnen erleben die Spiele ganz unterschiedlich, in verschiedenen Aktivitäts- und vermutlich auch Aggressionsgraden. Viele blicken mehr durch die Linse ihrer Handykamera als mit den eigenen Augen aufs Spielfeld.
Fangruppen wie die Ultras inszenieren sich durch Choreografien und Gesänge und geben dem Spiel damit einen durchaus feierlichen Rahmen, der freilich trotz aller Kontrollen auch ausarten kann. Ist man emotional involviert, und das ist bei den meisten an diesem deutlich männlich dominierten Ort so, dient das Stadion als Resonanzraum für bewegende Momente, für Glücksgefühle besonderer Art, die die Fans aus Frust oder Freude zum Weinen bringen können. Viele kommen in Gruppen, um in einer noch größeren Gruppe aufzugehen – physisch, aber auch akustisch –, und geben sich selbst dabei für einen Moment auf.
Gebets- und Wallfahrtsorte
Da alles rund um ein Fußballspiel in konkurrierende Familien eingeteilt ist, können Stadien positiv oder negativ belegt werden, stärkend oder furchteinflößend wirken und damit psychologische Vorteile für die Heim- sowie Nachteile für die Auswärtsmannschaft bewirken. Betagte Stadien bestechen durch ihre Patina als Symbole des Bewährten.
Moderne Arenen können nur abstrakt, dafür aber umso vehementer auf „Traditionen“ verweisen und diese dadurch neu erfinden, etwa durch überlebensgroße Darstellungen alter Helden oder Verweise auf Katastrophen, die sich dort ereignet haben. Stadien sind damit bei weitem nicht nur Orte der Ausgelassenheit, sondern vielmehr Gebets- und Wallfahrtsorte.
Die absolute Hingabe der Anhänger für Spiel und Mannschaft, die symbolische Bedeutung der Kleidung, die Gesichts- und Körperbemalung offenbaren den religiösen Status des Fußballs. Insofern hat der populäre Fußball die Religion zumindest teilweise als mythische Form, als Modell für Moralität und als Antwort auf die Frage nach Sinn und Bedeutung in der Gesellschaft abgelöst.
Dr. Kristian Naglo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung der Deutschen Sporthochschule Köln. Er ist Mitinitiator der internationalen Fußball-Forschungsgruppe Small Worlds. Sein Buch In Fußballwelten erscheint demnächst bei Springer.
Literatur:
Richard Giulianotti: Sport. A Critical Sociology. Polity, Cambridge 2005.
Christian Brandt u.a. (Hg.): Amateurfußball – Fußball der Amateur_innen. Themenheft der Zeitschrift für Fußball und Gesellschaft, 1/2020. Budrich, Opladen 2020.
Markus Schroer: Vom „Bolzplatz“ zum „Fußballtempel“. Was sagt die Architektur der neuen Fußballstadien über die Gesellschaft der Gegenwart aus? In: Gabriele Klein, Michael Meuser (Hg.): Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs. Transcript, Bielefeld 2008, S. 155–174.
Klaus Zeyringer: Fußball. Eine Kulturgeschichte. Fischer, Frankfurt a.M. 2016.