Bitte berühren!

Wir sind alle Berührungsmenschen, sagt der Autor Martin Grunwald und erklärt, warum das so wichtig ist.

Vor knapp 20 Jahren verblüffte Martin Grunwald die Fachwelt mit folgender These: Magersüchtigen solle es helfen, ihren Körper wieder besser zu empfinden, wenn sie dreimal am Tag für eine Stunde einen Neoprenanzug tragen. Die Idee dahinter: Der Anzug sendet taktile Reize über die Haut ans Gehirn. Er stiftet Berührung, ohne dass sich die Ma­gersüchtigen von einem Menschen berühren lassen müs­sen, was sie nämlich normalerweise vermeiden. Heute wird die Methode in Kliniken angewendet – sie hat sich bewährt.

Grunwald war damals gerade Leiter des Haptiklabors an der Universität Leipzig geworden, einem Zentrum für die Erforschung des Tastsinns. Keiner hat hierzulande so viel über Berühren und Berührtwerden geforscht wie er. Mit seinem Buch Homo hapticus, der Berührungsmensch, hat er die Früchte seiner Arbeit auf allgemeinverständliche Art zusammengefasst.

Das Buch startet dort, wo die Erfahrungen des Men­schen mit Berührung beginnen: beim Fötus im Mutterleib. Vor allen anderen Sinnen entwickelt sich der Tastsinn. Noch keine zwei Zentimeter groß, kann der Embryo Sinnesreize, die von außen kommen, registrieren. Kaum haben sich die Gliedmaßen ausgebildet, beginnt er, Kopf und Mund zu berühren, etwa dann, wenn die Mut­ter unter Stress steht. Denn Beruhigung ist eine Funk­tion der Selbstberührung.

Körperkontakt ist wie ein Lebensmittel

Von dieser und anderen Bedeutungen der Berührung han­delt das zweite Kapitel dieses gut lesbaren Buches. Körperkontakt ist nach der Geburt zur Entwicklung genauso notwendig wie Nah­rung. Er ist, wie Grunwald schreibt, ein „Lebensmittel“. Und Mangelernährung kann hier lebenslange Folgen zeigen.

Den psychologischen Ausführungen folgt ein Überblick über die Biologie der taktilen Wahrnehmung. Ein paar Zahlen: Menschen besitzen etwa 700 bis 900 Millionen tastsensible Rezeptoren, allein circa 250 Millionen an den Här­chen auf der Haut. Eine winzige Feder, zu klein, um sie zu sehen, spü­ren wir, wenn sie auf unsere Haut flattert. Mit dem Alter lässt aber die Berührungssensibilität nach. Aber nicht, wenn man sie schult. Messungen in Grunwalds Labor zeigen: Physiotherapeuten, die häufig andere berühren, haben auch im Alter eine gute haptische Wahrnehmung. Bei alten Menschen verkümmert das Empfinden, wenn sie nur wenig berührt wer­den. Berührung ist daher ein Thema für die Pflege.

Haptische Produkte

Das letzte Kapitel verlässt die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse. Es handelt von der Bedeu­tung, die haptische Qualitäten von Produkten für die Wirtschaft haben, etwa wie sich ein Lenkrad oder eine Flasche mit Bodylotion anfühlt. Aber dieser unverhoffte Wech­sel spie­gelt nur das Dilemma von Grunwalds Labor wieder: Die Universität stellt zwar Räume zur Verfügung, hat aber nicht die Mittel, die Forscher zu bezahlen. Grunwald betreibt daher in einem gesonderten Labor Haptikdesign für die Industrie und finanziert damit die For­schung. Gut, dass ihm das gelingt. Sonst könnten wir dieses Buch mit seinen interessanten Forschungsergebnissen nicht lesen.

Martin Grunwald: Homo hapticus. Warum wir ­ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer, München 2017, 287 S., € 19,99

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2018: Die Kunst der Zuversicht
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