Ob beiläufig oder absichtlich, lang oder kurz, zart oder hart: Jede Berührung löst im Körper eine hochkomplexe Kettenreaktion aus–und wirft zugleich bei Forschern unzählige Fragen auf. Warum kann dieselbe Berührung bei einer Person morgens ein Wohlgefühl auslösen und abends den ganzen Körper in Alarm versetzen? Wie kommt es, dass ein leichter Klaps auf die Schulter im Büro unter Kollegen einen Energieschub gibt und dieselbe Geste sich in einem Aufzug wie ein Übergriff anfühlt? Weshalb löst die eine…
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wie ein Übergriff anfühlt? Weshalb löst die eine Berührung Glücksgefühle aus, die andere Ekel?
Die Sache mit der Berührung ist kompliziert, nicht nur für Forscher. Berührung ist heute ein Sehnsuchts- und gleichermaßen ein Reizwort. Sie wird erwünscht und gefürchtet. Wir schwanken zwischen zwei Polen: der Suche nach nährender, zärtlicher, angenehmer Berührung und der Angst vor übergriffiger, unangemessener, verletzender Berührung.
Ohne Berührung verkümmern wir. Wir brauchen sie wie Wasser und Luft. Neugeborene, die nicht berührt werden, können sich nicht gesund entwickeln. Sie wachsen langsamer, schreien mehr, fangen später an zu sprechen. Zahlreiche Untersuchungen belegen zudem, dass Patienten schneller genesen, wenn sie unmittelbar vor einer Operation vom Arzt oder den Pflegekräften wertschätzend berührt wurden. Bei einer angenehmen Umarmung weiten sich die Blutgefäße, die Atmung wird tiefer, die Herzfrequenz sinkt, die Glückshormone tanzen. Bei unangenehmen Berührungen ziehen sich die Muskeln zusammen, die Atmung wird flacher und schneller.
Berührungshunger und Übergriffe
Massagen boomen seit Jahren, Kuschelpartys, bei denen es nicht um Sex, sondern um sanfte Berührungen geht, erfreuen sich großer Beliebtheit. Wer experimentierfreudig ist, lässt sich von Mitgliedern der Free Hugs-Kampagne im Park oder auf Festivals eine Gratisumarmung geben. Diese Trends sind deutliche Anzeichen für einen ungestillten Berührungshunger. Doch gleichzeitig fürchten wir uns davor, dass andere unsere Grenzen überschreiten, dass sie ihre Macht missbrauchen, uns unangenehme Berührungen aufzwingen.
Die MeToo-Debatte zeigt, wie berechtigt diese Sorge ist. Im August 2019 erschien im Wirtschaftsteil der Wochenzeitung Die Zeit eine ganze Seite mit Zitaten von Frauen, die von Kollegen oder Chefs auf unfassbar demütigende Weise angefasst und verbal drangsaliert worden waren.
„Wir leben in einer großen Spannung zwischen erwünschter und unerwünschter Berührung“, sagt der Berliner Psychopharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen, der sich intensiv mit der heilsamen Wirkung von Berührung beschäftigt hat. „Es gibt ein enormes Bedürfnis nach Berührung und gleichzeitig das Signal ‚Fass mich nicht an. Komm mir nicht zu nahe‘.“ Diese Spannung führe zu großer Verunsicherung. „Uns fehlt inzwischen ein selbstverständlicher Umgang mit Berührung.“ Jeder dritte Deutsche sehnt sich laut Müller-Oerlinghausen nach mehr Körperkontakt. Gleichzeitig seien Berührungen im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima sehr aufgeladen.
Homo hapticus
Für Neurobiologen sind sie das schon immer, im Wortsinn. Die Haut ist das größte und älteste Sinnesorgan und hochsensibel. Embryos reagieren bereits ab der siebten Schwangerschaftswoche auf Berührungsreize an den Lippen mit einem Zurückweichen des Kopfes und einem ganzkörperlichen Zucken. Daraus schließt Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Forschungslabors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Universität Leipzig, dass das Tastsinnessystem des Embryos die sanfte Berührung der Körperhaut als einen äußeren Umweltreiz erkennt. Wahrscheinlich weicht der Embryo dem Reiz aus. Zu diesem Zeitpunkt ist der Fötus gerade mal neun bis sechzehn Millimeter groß und noch kein anderes Sinnessystem ist schon aktiv.
In seinem Buch Homo hapticus beschreibt Grunwald anschaulich, warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. „Eine seiner hervorragenden Leistungen besteht darin, dass wir uns jederzeit unserer körperlichen Existenz bewusst sein können.“ Statt „Ich denke, also bin ich“ müsste es heißen: „Ich fühle, also bin ich.“
Gemeinsam mit seinen Kollegen sorgt Grunwald dafür, dass der Tastsinn in der Forschung mehr beachtet wird. „Jeder Organismus setzt alles daran, zu kontrollieren, wer und was zu welcher Zeit unsere Körpergrenze, also die Haut verformen darf“, erklärt Grunwald. „Kommt ein Berührungsreiz, fragt das System sofort: Lebensbedrohlich oder nicht?“ Das erklärt, warum wir auf Rempeleien auf dem Bürgersteig oder unerwünschte Nähe in der überfüllten U-Bahn mit Stress reagieren. Was wir sehen oder hören, ist relativ fern vom Körper; jeder Reiz auf der Haut – Kälte, Wärme, Druck – wirkt jedoch unmittelbar.
Was aber genau im Körper, etwa auf Zellebene, bei Berührungen geschieht, darüber rätseln Forscher noch. „Über die Komplexität menschlicher Alltagsberührungen wissen wir fast gar nichts“, beklagt Grunwald. Das liegt auch daran, dass Berührungen vielschichtig sind und keine Einbahnstraße. Wer einen anderen berührt, wird gleichzeitig auch selbst berührt. Es entsteht eine Resonanz, die kaum messbar ist. Außerdem kommt es auf den Ort, die Uhrzeit, das Umfeld, soziale Rollen, den Kulturkreis, Nähe, Distanz und viele andere Faktoren an. Allein um die Neurobiologie einer Umarmung zwischen Fremden und Freunden detailliert zu beschreiben, sei eine ausgeklügelte Methodik und Technologie erforderlich.
Kultur ist wegbereitend
Deshalb ist es alles andere als leicht, die Frage, welche Berührungen angemessen, angenehm und heilsam sind, klar zu beantworten. Grob vereinfacht lässt sich sagen, dass sehr viel zusammenkommen muss, damit ein Berührungsreiz von Menschen, die sich nicht nahestehen, positiv interpretiert werden kann. Ein gemeinsamer Kulturkreis beispielsweise. In wissenschaftlichen Experimenten wurden jeweils zwei Personen in einem Café an unterschiedlichen Orten der Welt beobachtet.
Die Beobachter zählten die Zahl der Körperkontakte. In San Juan in Puerto Rico berührten sich die Beteiligten in einer Stunde 180-mal, in Paris 110-mal und in London gar nicht. Auch die Druckstärke spielt eine Rolle. „Viele Menschen empfinden ganz sanfte Berührungen von Fremden als aggressiv, ein kräftiger Händedruck hingegen wird als angenehmes Körpersignal und als Ausdruck von Wertschätzung und Akzeptanz wahrgenommen“, so Grunwald.
Ob eine Berührung als unsittlich und übergriffig oder lustvoll und angenehm wahrgenommen wird, hänge vor allem von dieser sozialen Einbettung ab, meint der Soziologe Matthias Riedel. Wer berührt wen wann in welchem sozialen und kulturellen Raum – und wie? Absichtlich? Unabsichtlich? Angenehm? Unangenehm? Riedel, Professor an der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit, forscht seit Jahren zur Soziologie der Berührung. Er deutet die vielen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt über die heilsame Kraft der Berührung als Reflex auf die steigende Zahl von Singles – insbesondere auch von alten Menschen, die durch den Tod des Partners ihre letzten Lebensjahre oft unfreiwillig als Single verbringen und körperliche Nähe schmerzlich vermissen.
Und er beobachtet, dass sich das Kommunikationsklima verändert hat. „Die Offenheit für psychologische Ansätze ist viel größer als beispielsweise vor 50 Jahren. Es ist heute kein Tabu mehr, über das Bedürfnis nach Nähe zu sprechen und zuzugeben, dass man sich danach sehnt, mal in den Arm genommen zu werden.“ Viele Ältere berichten ihm in Gesprächen freimütig, dass sie jede Woche zum Friseur gehen, weil sie es genießen, berührt zu werden und beim Haarewaschen noch eine Kopfmassage zu bekommen.
Scheu durch Unsicherheit
Das Wissen, dass angenehme Berührungen das Immunsystem stärken, die Stimmung aufhellen und alte Menschen unterstützen, nicht depressiv zu werden, ist in der Pflege angekommen. Doch weil Berührungen heute schnell missverstanden werden können, sind Pfleger und Ärztinnen verunsichert. Berührungen können Ausdruck von Vertrautheit, Nähe, Entspannung, Sinnlichkeit, Ärger, Aggression, Macht und Status sein. Weil es so schwer ist, Berührungen zuzuordnen, laste ein latenter Verdacht des Sexuellen auf ihnen, sagt Matthias Riedel.
„In den letzten Jahrzehnten hat das Sicherheitsdispositiv an Bedeutung gewonnen, das Freiheitsdispositiv hingegen abgenommen“, stellt der Soziologe fest. Weil die Welt aus den Fugen zu geraten droht, ist Sicherheit zu einer zentralen Wertvorstellung geworden, das betrifft auch Berührungen. Im Zweifelsfall, so Riedel, geht man im professionellen Kontext auf Nummer sicher. Auch weil sexueller Missbrauch von Kindern und die sexuelle Belästigung von Frauen nicht mehr als Kavaliersdelikte betrachtet werden und mehr über Machtmissbrauch durch Berührung gesprochen wird.
Dass fürsorgliche, vertrauensvolle, tröstende Berührungen guttun, steht außer Zweifel. Aber weil das Bedürfnis nach Sicherheit so hoch ist und die Alarmglocken durch die erschreckenden Berichte über Missbrauchsfälle schnell schrillen, überlegt sich ein Grundschullehrer heute dreimal, ob er ein Mädchen, das sich die Knie aufgeschlagen hat, auf den Arm nehmen und trösten soll.
Brührungsseminare
„Wer von Ihnen ist heute schon mal umarmt worden?“, fragt Bruno Müller-Oerlinghausen in seinen Vorträgen zu Beginn. Die Frage lasse sich auch vertiefen: Habe ich die Berührung als Geschenk empfunden oder als Selbstverständlichkeit? Wen habe ich heute berührt? Wie habe ich berührt? Könnte ich mehr Berührung in meinem Alltag zulassen? Woran merke ich, dass ich mich bei einer Berührung wirklich gemeint fühle? Er befürchtet, dass im Klima der Verunsicherung die in zahlreichen Studien nachgewiesene heilsame Kraft von tröstender, fürsorglicher Berührung in den Hintergrund tritt. „Aus diesem Dilemma kommen wir nur heraus, indem wir über unseren Umgang mit Berührung nachdenken und darüber sprechen.“
In seinen Berührungsseminaren bekommt Müller-Oerlinghausen die allgemeine Verunsicherung zu spüren. Ist es in Ordnung, dem Vater im Pflegeheim über die Wange zu streichen und seine Hand zu halten? Was tun, wenn der pubertierende Sohn überhaupt nicht mehr angefasst werden möchte und jeden Körperkontakt abwehrt? Was soll man der Tochter raten, wenn sie in der Schule von Jungs angefasst und angemacht wird? Wie dem Partner sagen, wie man berührt werden möchte? „Weil Körperkontakt kein selbstverständliches Kommunikationsmittel mehr ist, brauchen wir eine Berührungskunde und müssen uns darüber verständigen, wie eine gute Berührungskultur aussehen kann.“
Die heilsame Kraft der Berührung
Gemeinsam mit der Massage- und Körpertherapeutin Gabriele Mariell Kiebgis hat der Mediziner und Buchautor eine psychoaktive Massage entwickelt, deren positive Wirkung eine Kurz- und Langzeitstudie nahelegt. „Ich berühre und bekomme von der Person, die ich berühre, etwas zurück“, sagt er. Das lasse sich doch vielfältig nutzen, auch für die Behandlung von psychisch Erkrankten. Als ehemaliger langjähriger Leiter einer großen Depressionsambulanz war er auf der Suche nach einer Behandlungsmethode, die wortwörtlich unter die Haut geht und unmittelbar wirkt. „Depressive können Sex, ein warmes Bad, ein schönes Essen und andere Dinge, die ihnen vor der Erkrankung gutgetan haben, oft nicht mehr genießen. Aber diese Berührung durch Massage empfinden sie als etwas ungemein Wohltuendes.“
Ihn wundert, dass die heilsame Kraft der Berührung in der Psychotherapie bislang kaum eingesetzt wird. „Wir wissen, dass jede Berührung im Körpergedächtnis eine Spur hinterlässt und angenehme, vorsichtige Berührung wiederum helfen kann, das System zu beruhigen und belastende Erinnerungen zu heilen.“ Auch Martin Grunwald kritisiert, dass beruhigende Berührung in der Medizin viel zu wenig eingesetzt werde und es bisher beispielsweise keine Langzeitstudien darüber gebe, wie Massagen bei Gesunden und chronisch Kranken wirken.
„Um ein neues Verhältnis zu Berührung zu entwickeln, brauchen wir viel mehr belastbare Daten, wie Körpertherapien wirken und wie positive und negative Berührungsreize verarbeitet werden.“ Seine Aufgabe als Tastsinnforscher sieht er darin, über die biologischen und seelischen Wirkungen von Berührungen aufzuklären. Auch wenn im Detail vieles noch unklar ist, so gibt es für Grunwald doch eine einfache Orientierung im Berührungsdschungel. „Was in uns hineingeht, erfährt eine besondere Prüfung, das gilt für Nahrungsmittel und Berührungen. Ich will nichts essen, was mir nicht schmeckt, und ich lasse mich nicht anfassen von jemandem, von dem ich das nicht möchte.“
Grauzone – Berührungen im Job
Begrüßung. Alles, was über Händeschütteln hinausgeht, gehört im Job zur Grauzone, meint die Ratgeberautorin Caroline Krüll. „Berührungen von Unter- und Oberarm sind gerade noch akzeptiert. Grundsätzlich ist aber entscheidend, wer wen berührt. Der Lieblingskollege darf mich umarmen und einen flapsigen Spruch machen, jemand, der mir fremd ist, nicht“, erklärt sie. In manchen Branchen begrüßen sich Kollegen mit Umarmung und Küsschen. Nicht jeder findet das angenehm. Wer das nicht möchte, sollte das klar und deutlich sagen.
Hände. Wenn Sie die Hand Ihres Gegenübers nach unten drehen oder die Hand des anderen beinahe zerquetschen, signalisieren Sie: Ich bin stärker als du. „Über den Händedruck wird die Hierarchie abgeklopft“, sagt Krüll. Der Händedruck verrate auch die Haltung. Sind Sie offen? Auf Augenhöhe? Wirken Sie schwach? Selbstsicher?
Schulter. Männer hauen sich auch gerne mal auf die Oberarme, das hat etwas Freundschaftliches. Tätschelt ein Kollege einem die Schulter, bedeutet das aus körpersprachlicher Perspektive: Ich bin dein Chef. Das ist schon nicht mehr respektvoll.
Rücken. Männer legen einer Frau, die vor ihnen geht, gerne die Hand auf den Rücken oder die Taille. Früher galt das als schützende Geste. Heute ist das unpassend und wird schnell falsch verstanden. Bei vielen Männern rutscht die Hand auch deutlich zu weit nach unten. Nicht weniger aufdringlich wirkt es, wenn der Chef oder Kollege sich von hinten einer Mitarbeiterin am Schreibtisch nähert und den Arm um den Stuhl legt. „Angenehmer wäre, er käme von der Seite, weil wir da Außen-Airbags haben, die Arme“, erklärt Krüll.
Gesunde Grenzen setzen
Körperpsychotherapeuten vermitteln ein Gespür dafür, welche Berührung guttut, welche unbehaglich ist und wie wir mit den eigenen Körpergrenzen umgehen sollten
Herr Mokrus, warum fällt es manchen Menschen leicht, Grenzen zu setzen und sich zum Beispiel gegen unangenehme Berührungen zu wehren, anderen hingegen extrem schwer?
Wir werden auf einer tiefen und unbewussten Ebene geprägt durch die Berührungen, die wir in den ersten Lebensjahren erfahren. Ein Neugeborenes ist darauf angewiesen, liebevoll berührt und gehalten zu werden. Je nachdem, wie wir in den ersten Lebensjahren berührt werden, können wir Sensoren entwickeln, ob sich etwas angenehm und stimmig anfühlt oder nicht. Wenn die Eltern keine Gefühle zeigen konnten und Berührung vermieden haben oder wenn Berührungen übergriffig oder manipulativ waren, ist es schwer, einen guten Kontakt zum Körper zu entwickeln und ein Gefühl dafür, was sich richtig anfühlt.
Sie leiten Workshops zum Thema gesunde Grenzen setzen. Wie lässt sich das üben?
In unserem beschleunigten Alltag kommt vielen ein Ja oder Nein schnell über die Lippen, bevor sie geprüft haben, was wirklich stimmig ist. Wenn wir nicht gut gelernt haben, Grenzen zu spüren, ist es hilfreich, den Entscheidungsprozess zu verlangsamen. Will ich das oder nicht? Am besten lernen wir in einem sicheren Rahmen, in dem wir experimentieren können. Ein Beispiel: In einer Partnerübung geht einer langsam auf den anderen zu. Derjenige, der stehenbleibt, kann überprüfen: Wie fühlt es sich an, wenn jemand auf mich zukommt? Wo fängt mein persönlicher Raum an? Woran merke ich, dass mir jemand zu nahekommt?
Wie lässt sich ein inneres Ja oder Nein spüren?
Wir brauchen dafür den Körper. Zieht sich mein Körper zusammen oder bleibt er offen? Wird mein Nervensystem erregt? Oder schalte ich mich ab? Tue ich so, als sei ich gar nicht mehr da? Oder tauchen eine freudige Neugier und Erregung auf? Der Körper sagt uns, was stimmig ist und was nicht. Wir haben eine kognitive Schicht darübergelegt, wie wir uns die Dinge erklären, aber instinktiv geht es um Aufregung oder Beruhigung. An den inneren Markern erkennen wir, ob etwas für uns in Ordnung ist. Das über den Körper herauszufinden ist aber für Menschen, die in ihrer Kindheit unheilsame Berührungserfahrungen gemacht haben, oft sehr schwer. Denn eine Überlebensstrategie ist, den Körper nicht mehr zu spüren und die Verbindung zu sich selbst und anderen zu kappen. Dann ist es wichtig, Schritt für Schritt wieder den Körper spüren zu lernen und kleinen Signalen wie Herzklopfen, Kribbeln auf der Haut, Unwohlsein im Bauch Beachtung zu schenken.
Kann es auch passieren, dass die Grenzen zu eng werden?
Manche sagen gewohnheitsmäßig erst mal zu allem nein und wappnen sich vorsorglich. Das ist die sichere, autonome Variante. Dann kommt uns keiner zu nahe, aber der Preis, den wir zahlen, ist, dass unsere Sehnsucht nach Kontakt und Berührung nicht gestillt wird. Für mich gehören gesunde Grenzen und Kontakt untrennbar zusammen. Kontakt entsteht an der Grenze.
Wie lässt sich das herausfinden?
In meinen Workshops lasse ich die Teilnehmer überprüfen, ob sie gerade aus einer kindlichen Perspektive reagieren und sich gewohnheitsmäßig wappnen, obwohl ihr Gegenüber ganz freundlich auf sie zukommt. Wenn ich merke, dass mein ganzer Körper in Alarm ist, ich aber gleichzeitig realisiere, dass ich in Wirklichkeit in einem geschützten Raum bin, kann ich die körperliche Reaktion durchlaufen lassen und mich neu orientieren. Reagiere ich aus einer kindlichen Verletzung oder so, wie es mir heute entspricht? Ich kann jederzeit für mich zur Überzeugung gelangen, dass ich es verdient habe, so berührt zu werden, wie ich das möchte und wie es mir guttut.
Michael Mokrus, Körpertherapeut in eigener Praxis in Köln, ist unter anderem ausgebildet in Cranio-Sacral-Therapie, Traumatherapie und integraler somatischer Psychologie
Literatur
Rüdiger Braun: Unsere 7 Sinne. Die Schlüssel zur Psyche. Wie die Wahrnehmung unsere Emotionen beeinflusst. Kösel, München 2019
Martin Grunwald: Homo hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer, München 2017
Caroline Krüll, Christian Schmid-Egger: Körpersprache. Das Trainingsbuch. C.H. Beck, München 2014
Bruno Müller-Oerlinghausen, Gabriele Mariell Kiebgis: Berührung. Warum wir sie brauchen und wie sie uns heilt. Ullstein, Berlin 2018
Renate-Berenike Schmidt, Michael Schetsche (Hg.): Körperkontakt. Interdisziplinäre Erkundungen. Psychosozial, Gießen 2012