Fitnessstudios: Eine Art Kloster

Rituale, Askesen, strenge Ordnung? Muskeltraining bietet all das und taugt damit zur Weltflucht. Über die Psychologie des Fitnessstudios.

Ein Fitnessstudio mit Geräten und Gewichten
Die einen meiden sie, die anderen lieben es, sich hier körperlich zu verausgaben: Fitnessstudios. © PeopleImages/ Getty Images

Träumen auch Sie manchmal, wenn Ihnen alles zu viel wird, von einem Ort, an dem das Leben übersichtlich, klar, kontrolliert, beständig ist? Von einer Art Kloster, in das man sich zurückziehen, in dem man den Unwägbarkeiten des modernen Lebens entfliehen, sich Ritualen und Askesen in einem Rahmen strenger Ordnung hingeben kann? Wo nicht falsche Entlastungsversprechen, sondern aufbauende Härten und Herausforderungen warten?

Träumen auch Sie manchmal, wenn Ihnen alles zu viel wird, von einem Ort, an dem das…

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auch Sie manchmal, wenn Ihnen alles zu viel wird, von einem Ort, an dem das Leben übersichtlich, klar, kontrolliert, beständig ist? Von einer Art Kloster, in das man sich zurückziehen, in dem man den Unwägbarkeiten des modernen Lebens entfliehen, sich Ritualen und Askesen in einem Rahmen strenger Ordnung hingeben kann? Wo nicht falsche Entlastungsversprechen, sondern aufbauende Härten und Herausforderungen warten?

Muskeln für Körper und Geist

Die Rede ist von einem Ort, der auf den ersten Blick unklösterlicher kaum sein könnte – dem Fitnessstudio. Im 19. Jahrhundert entstanden als Hybrid aus neuantikem gymnasion, Turnplatz und Hygiene-Hub, wird es heute oft als Hort des Narzissmus oder als neoliberale Dressuranstalt interpretiert. Hier sollen sich die Subjekte sich selbst unterwerfen und gegen alle Fährnisse gewappnete Körper erschaffen, auf dass die Gemeinschaft nicht für sie Sorge tragen müsse.

Solche Diagnosen sind zwar nicht vollständig falsch, aber vollständig einfallslos. Zudem erfassen sie nur einen Teil der Wirklichkeit, den sie in der Kritik absolut setzen und verfestigen, statt zu dekonstruieren. Kapitalismuskritik findet überall Kapitalismus wie Soziologie überall Gesellschaft findet. Mit einem Wort von Marx gesprochen, ist das Fitnesscenter ein Raum mit „metaphysischen Mucken“ – entsprechend werden hier nicht nur physische, sondern auch metaphysische Muckis verfertigt.

Was aber ist der metaphysische Mehrwert des physischen Trainings im Gym? Die Antwort lautet: Kontingenzbewältigung. Es ist ein Trugschluss, dass sich Menschen einst stets nur aus spirituellen oder theologischen Gründen in Klöster zurückgezogen hätten. Klöster waren zunächst einmal Orte, die Orientierung, Ordnung, Optimierung versprachen und damit eine basale psychosoziale Funktion erfüllten. Dafür brauchte es eine klare räumliche Zäsur. Die Willkür des irdischen Lebens sollte innerhalb der Klostermauern auf ein Minimum reduziert werden.

Wer eine scharfe Trennlinie zwischen der religiösen Optimierung früherer Zeiten und der profanen modernen Selbstoptimierung zieht, übersieht, was der Mediävist Jacques le Goff über den mittelalterlichen Mönch festhält. Dieser bete zwar „für das Heil anderer Menschen, doch strebt er zunächst nach seiner eigenen Vollendung und seinem eigenen Heil“. Mitnichten betet er nur. Mögen auch seine Exerzitien der geistigen Veredelung dienen, so beinhalten sie doch auch spezifische körperliche Praktiken – zu den berühmten Exerzitien des Jesuitenordens etwa gehört explizit die „Leibarbeit“. Der Ordensgründer Ignatius von Loyola zählt zu dieser unter anderem „umhergehen, wandern und laufen“. Noch vor den geistigen Übungen!

Planbar – und Ekstase

Ins Fitnessstudio tritt man zwar nicht wie in einen Orden ein und lässt sein altes Leben hinter sich zurück. Aber einen Teilzeitorden bildet es durchaus, gerade was die basale psychosoziale Funktion betrifft. Vor allem die herkömmlichen Fitnesscenter – jüngere functional training gyms setzen andere Schwerpunkte – mit ihren rationellen Maschinenparks, in denen man systematisch den Körper auseinanderdividiert, um einen Muskel nach dem anderen zu trainieren, bilden einen ähnlich kontrollierten Gegenraum zur hybriden, dynamischen Umwelt wie das Kloster – von Fasten, Diäten und tabuisierten Speisen ganz zu schweigen.

Im Gegensatz zum Mannschaftssport ist das Individualtraining planbar und ritualisierbar. Zufälle sind weitestgehend ausgeschlossen. Beim Maschinentraining wird man selbst ein wenig zur Maschine, transzendiert also das ungeteilte Individuelle und das angeblich Reinmenschliche. So beschreibt der Philosoph Gerald Raunig das Training an den Kieser-Maschinen als eine Form von Ekstase: „Es kommt vor, dass ich im Begehren des Anhängens, Eingespanntseins in die Maschinen heißlaufe. Die Selbstzerteilung funktioniert hier schon gut.“

Paradox ist, dass die Ergebnisse dieses „dividuellen Trainings“ zugleich individualisierbar sind – anders als in der arbeitsteiligen Welt da draußen. Ich war es, der diesen Muskel aufgebaut hat! Dass Bodybuilding dabei immer auch Mindbuilding oder eine Form spiritueller Meditation sei, haben nicht nur Topbodybuilder wie Frank Zane oder Kai Greene, sondern auch Künstlerinnen und Philosophinnen wie Kathy Acker und Camille Paglia oft betont.

Am Ende dieses assoziativ-argumentativen Parcours steht somit die Einsicht, dass in jedem Raum ein Gegenraum steckt; dass jeder Raum eine ironische Kehrseite hat. Das traute Heim ist Spielstätte familiärer Tragödien, Schutzräume können sich als Gefängnisse erweisen, die nüchternen Maschinenräume der westlichen Moderne verschaffen den Bürgern und Bürgerinnen mehr Zeit fürs Träumen und Fantasieren. So verhält es sich auch mit der Ironie des Fitnessstudios. Gerade sein rationeller Charakter erweist sich als Möglichkeitsbedingung kryptoreligiöser Kontingenzbewältigung.

Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste. Der Musiker und zertifizierte Fitnesstrainer promovierte über Arnold Schwarzenegger. Er schreibt zudem regelmäßig journalistische Beiträge, unter anderem für Psychologie Heute, Die Zeit und Neue Zürcher Zeitung.

Quellen

Jacques Le Goff: Der Mensch des Mittelalters. Magnus, Essen 2004

Albert Holzknecht SJ: Exerzitien. Im Internet unter: jesuiten.org/wie-wir-arbeiten/exerzitien

Gerald Raunig: Dividuum. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Band 1. Transversal texts, Wien 2015

Jörg Scheller: Body-Bilder. Klaus Wagenbach, Berlin 2021

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2023: Du manipulierst mich nicht