Plötzlich sieht man überall Gesichter: Zwei Fenster in der Häuserfront und eine Tür – das sieht doch aus wie ein Gesicht! Der Mülleimer mit den zwei Aufklebern. In den Wolken und der Obstschale. Wer das Spiel „Überall Gesichter“ schon mal mit seinen Kindern oder aus Jux gespielt hat, weiß, dass wir fast überall ein Antlitz entdecken können. Man muss nur mal lockerlassen und spielerisch auf die Welt gucken.
Genau dieser frische, unkonventionelle Blick beschreibt das Wesen der Kreativität: Wir sind offen für…
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Eindrücke, kombinieren sie zu neuen Bildern und Ideen. Und nicht selten finden wir so auch überraschende, neue Lösungen für Probleme. Man denke nur an all die Provisorien, die man sich schon im Haushalt gebastelt hat. Und jeder kennt das erhebende Gefühl, wenn man angesichts der wenigen Zutaten im Kühlschrank plötzlich eine super Idee für ein leckeres Essen hat. Kurzum: Jeder Mensch ist kreativ.
Gerade im Beruf gelingt es jedoch nur den wenigsten, diese Fähigkeit zu entfesseln. „Im Job streben die meisten danach, die Anforderungen möglichst schnell, effizient und fehlerfrei zu erfüllen. Da bleibt kein Freiraum im Kopf“, sagt Jörg Mehlhorn. Das sei der Tod für jede Kreativität. Der emeritierte Professor für Marketing und Innovation an der Hochschule Mainz ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kreativität (DGfK). Der Verein will das kreative Potenzial im deutschsprachigen Raum stärken. Denn er sieht darin die Schlüsselfähigkeit, um Wirtschaft und Gesellschaft voranzubringen. Schließlich fordern die komplexen Probleme in dieser Welt immer wieder neue Lösungen – und diese entstehen nicht auf den üblichen Pfaden, sondern nur, wenn wir unser schöpferisches Denken bemühen.
Zentrale Facette des menschlichen Geistes
Der Begriff Kreativität leitet sich vom lateinischen creare ab, was „etwas neu schöpfen“ aber auch „auswählen“ bedeutet. Die Definition von Kreativität greift beides auf: Eine kreative Idee müsse nicht nur originell und neu sein, sondern auch nützlich, erklärt DGfK-Vorstand Mehlhorn. Auf wissenschaftlicher Ebene widmet sich die Psychologie erst seit den 1950er Jahren dem Thema. Damals sorgte Joy Paul Guilford, US-amerikanischer Persönlichkeitspsychologe und Präsident der American Psychological Association, dafür, dass die Kreativität als zentrale Facette des menschlichen Geistes in den Fokus der Psychologie rückte.
Experten unterscheiden zwischen expressiver Kreativität von Kindern oder Künstlern und produktiver Kreativität, mit der man Probleme auf neuartige Weise löst. „Immer wenn wir etwas Neues schaffen, sind wir kreativ“, erklärt Mehlhorn. Insofern ist Einfallsreichtum die Grundlage aller großen Innovationen von der Glühbirne bis zum E-Auto, aber sie ist eben auch die Wurzel jeder kleinen Verbesserung in Alltag und Arbeitsleben. Das Ergebnis kann bahnbrechend sein – wie die Axt, die Eisenbahn oder der Computer –, aber auch eine kleine Verbesserung in einem Prozessablauf bedeuten oder eine pfiffige Idee für eine effektivere Meetingkultur.
„Kreatives Denken ist letztlich die zentrale Schlüsselkompetenz für Problemlösungen“, erklärt Mehlhorn, ganz gleich ob wir neue Lösungen für alte Probleme suchen – wie zum Beispiel derzeit in der Klimadebatte – oder ob wir neue Probleme erkennen und dafür innovative Lösungen brauchen – wie beispielsweise in der Arbeitswelt, die sich rasant verändert. „Dazu gehören Ideenvielfalt, der Mut, etwas Neues auszuprobieren, und Fehlertoleranz“, erklärt Mehlhorn.
Tagträumen, die Gedanken schweifen lassen
Möglich werden erfinderische Gedanken durch einen Switch im Gehirn. Normalerweise versuchen wir gerade in der Berufswelt, Probleme analytisch und strukturiert zu lösen: Wir grübeln so lange, bis uns einfällt, was man tun kann. In der Psychologie nennt man diesen Denkstil konvergent. Wollen wir ein Problem kreativ lösen, tun wir in gewisser Weise das Gegenteil: Statt uns immer tiefer ins Problem zu verbeißen, lassen wir locker.
Vielleicht beschäftigen wir uns sogar mit etwas ganz anderem, gehen spazieren oder spielen Tischtennis. Denn nur in einer entspannten Atmosphäre kommt unser zweiter Denkstil zum Zuge: das divergente Denken. Dabei lassen wir die Gedanken schweifen, wir assoziieren oder tagträumen. „Divergentes Denken gelingt uns, wenn das logische Denken im Frontallappen und damit die Kontrollinstanz des Gehirns etwas runterfährt“, erklärt Lernforscherin Michaela Brohm-Badry von der Universität Trier. Wir fahren ein wenig unseren analytischen Verstand zurück und geben unserem Gehirn so die Möglichkeit, neue, ungewöhnliche Ideen zu entwickeln.
Diese entstehen natürlich nicht aus dem Nichts. „Das Gehirn zerlegt das Problem in Einzelteile, vergleicht es mit schon bekannten Lösungsmustern und kann dann eine neue Lösung erzeugen“, schreibt der Neurowissenschaftler und Kreativitätsexperte Henning Beck.
Im schöpferischen Modus kombiniert unser Gehirn schlicht Wissen neu, statt die üblichen Lösungswege anzuwenden – und oftmals entstehen so Ideen, auf die wir mit unserem analytischen Verstand nicht gekommen wären. Überraschend ist daran: Kreative Ideen sind insofern keine völlig neuen Ideen, sondern vielmehr ungewöhnliche Kombinationen von Möglichkeiten.
Was tun mit einem Ziegelstein?
Kinder haben in der Regel einen guten Zugriff auf diese urmenschliche Fähigkeit. Beim Spielen oder Basteln, beim Toben und Geschichtenerfinden befindet sich ihr Hirn stets im kreativen Modus. Ständig kombinieren sie ihr Wissen neu und produzieren so eine Fülle ungewöhnlicher Ideen oder Lösungen. Doch mit zunehmendem Alter stellen wir Perfektion und logisches Denken in den Vordergrund und unterbinden unsere kreativen Impulse. Unser Einfallsreichtum ist zwar noch vorhanden, aber sozusagen auf Stand-by geschaltet.
Er zeigt sich oft nur noch im Bereich von Hobbys und Freizeit. Kreativitätsexperte Jörg Mehlhorn fragt deshalb stets nach der liebsten Freizeitbeschäftigung, wenn er mit Menschen spricht, die sich selbst jedes kreative Potenzial absprechen. „Wer für seinen Garten eine Laube entwirft oder eine ungewöhnliche Geburtstagsfeier plant, ist schöpferisch, findet Lösungen oder erfindet Neues“, erklärt Mehlhorn.
Natürlich sind nicht alle Menschen gleichermaßen kreativ – auch wenn in jedem das Potenzial zum Ideenmacher steckt. „Personen, deren hervorstechende Persönlichkeitseigenschaft Offenheit für neue Erfahrungen und Ideen ist, sind in der Regel ideenreicher“, erklärt Personalpsychologe Heinz Schuler, der mit einer Kollegin das Fachbuch Kreativität verfasst hat (siehe Interview S. 76). Im Berufsalltag brauche man keinen ausgefeilten Persönlichkeitstest, um besonders kreative Menschen zu erkennen.
Mehr als nur Mauern bauen
Springe einem die Offenheit eines anderen Menschen geradezu ins Auge, könne man auch ohne Test sagen, dass dies ein kreativer Mensch ist. Oft ist das Erkennen auch Erfahrungssache: Lehrkräfte können das schöpferische Potenzial ihrer Schüler meist gut einschätzen. Auch aufmerksamen Führungskräften gelingt es in der Regel, ohne große Testung zu sagen, wer die besonders Kreativen im Team sind.
Kreative Köpfe lassen sich aber auch mit einem kurzen Kniff erkennen: „Was bei ihnen am stärksten hervorsticht, ist letztlich nur eine Dimension: das Ideenfinden, also das divergente Denken.“ Das lasse sich leicht testen, etwa mit der Frage: Welche Verwendungsmöglichkeiten fallen Ihnen zu einem Ziegelstein ein? „Kreativen Menschen fällt da eine Menge ein. Weniger kreativen Menschen vielleicht nur: Mauer bauen“, erklärt Schuler. Bei Wissenschaftlern etwa sei die Zahl der verschiedenen Themen ein guter Hinweis für das Ausmaß des Einfallsreichtums.
„Die ausgeprägte kreative Fähigkeit des Menschen hat sich vermutlich als existenzielle Eigenschaft im Laufe der Evolution herausgebildet“, sagt Heinz Schuler. In Gefahrensituationen wie der Bedrohung durch wilde Tiere oder Dürreperioden sei es nicht um die eine perfekte Lösung gegangen. Besser war es, wenn die Menschen viele gute Ideen entwickelten – um dann auszuwählen. „Ich kann angesichts eines wilden Tieres in den Fluss springen, auf einen Baum klettern, das Untier anschreien. Je mehr Auswahl ich habe, desto größer sind meine Chancen zu überleben“, sagt Schuler.
Schlecht strukturierte Probleme
Ums Überleben geht es auch den Unternehmen, wenn sie heutzutage immer lauter nach dem kreativen Potenzial ihrer Mitarbeiter rufen. Der aktuelle Future of Jobs Report des Weltwirtschaftsforums sieht Kreativität auf Platz drei der wichtigsten beruflichen Fähigkeiten für die zukünftige Arbeitswelt – hinter dem „Lösen komplexer Probleme“ und „kritischen Denken“. Vor vier Jahren fand sich Kreativität noch auf Platz zehn.
Grund sind die enormen Veränderungen in der weltweiten Wirtschaft. „Bisher war die Arbeitswelt vor allem von sogenannten wohlstrukturierten Problemen dominiert“, erklärt der Marketingprofessor Mehlhorn. Das sind Aufgaben, die man meist mit Erfahrung und Wissen lösen kann. Wenn ein Verkäufer eine typische Kundenanfrage bearbeitet oder eine Lehrkraft eine Schulstunde gestaltet, sind dies wohlstrukturierte Probleme. Je mehr Wissen und Erfahrung man hat, umso leichter und besser kann jemand diese Aufgaben bewältigen.
In der heutigen Arbeitswelt wächst jedoch der Anteil der sogenannten „schlecht strukturierten Probleme“: Ziele verändern sich im Laufe der Projekte; Firmen sortieren sich um und damit wechseln Teams und Ansprechpartner; Projekte überlappen sich und man ist immer wieder gezwungen, die Prioritäten neu auszutarieren. Hier helfen keine Standardlösungen.
Neue Herausforderungen
Da heißt es, neue Ideen zu entwickeln, sich schrittweise dem Ziel zu nähern, Fehler machen zu dürfen. In Branchen, in denen üblicherweise in Form von Projekten gearbeitet wird, wie in der IT-Branche, hat sich diese Gangart längst etabliert.
Doch letztlich betrifft die Veränderung alle Branchen. „Auch ein Erzieher oder eine Lehrerin können sich immer weniger auf ihre Expertise oder feste Regeln im Berufsalltag zurückziehen“, sagt Managementberaterin und Autorin Svenja Hofert. „Erzieher haben es mit Eltern aus ganz unterschiedlichen Kulturen zu tun und mit sehr viel individuelleren Bedürfnissen der Kinder.
Ihre Arbeit ist sehr viel komplexer als noch vor einigen Jahren.“ Lehrkräfte kommen nicht mehr damit aus, ihren Unterricht inhaltlich sauber vorzubereiten. Sie müssen sich mit dem Einsatz neuer Technik beschäftigen, mit Eltern kooperieren und sich viel stärker als früher mit dem Lebenshintergrund jedes Kindes auseinandersetzen. Wie verhalten wir uns zur Fridays-for-Future-Demo? Wie gehen wir mit den verschiedenen Kulturen an unserer Schule um? Wo ist Schluss mit Elternmitbestimmung?
Für all diese Fragen brauchen sie neue, originelle Lösungen. Ob Kurierfahrer oder Kassierer, Hochschullehrerin oder Ärztin: „In allen Berufen muss man heute mit Neuartigem, mit Unsicherheiten und Unvorhersehbarkeiten zurechtkommen“, sagt Hofert. „Dafür braucht man kein Fachwissen, sondern Ideenreichtum.“ Klar wird: Beim Ruf nach mehr Kreativität im Job geht es nicht darum, dass jeder zum Erfinder werden soll. Vielmehr geht es darum, dass die ganz normalen Probleme im Arbeitsalltag oftmals so komplex sind, dass Standardlösungen versagen – und kreative Lösungen wichtiger werden.
Die geniale Idee unter der Dusche?
Aber wie setzt man sein schöpferisches Potenzial für den Job sinnvoll ein? Und wie verbessert man seine Fähigkeit, kreativ zu denken? Stefanie Dörflinger ist Unternehmensberaterin mit dem Schwerpunkt Kreativität. „Für viele ist das größte Aha-Erlebnis die Erkenntnis, dass der Einfallsreichtum über einen strukturierten Prozess zu neuen Lösungen führt“, erklärt Dörflinger. Denn originelle Ideen basieren immer auf Vorwissen und häufig entstehen die besten Lösungen letztlich, indem bereits Vorhandenes mit Neuem oder einfach neu kombiniert wird.
Die Vorstellung von der genialen Idee unter der Dusche, die alle Probleme auf einen Schlag löst, gehöre eher in das Reich der Mythen. Vielmehr entstehen tragfähige Lösungen nur dann, wenn sich divergentes und konvergentes Denken abwechseln; wenn es also Phasen gibt, in denen auch ungewöhnliche Ansätze und neue Ideen entstehen können – und man diese im Anschluss analytisch und strukturiert auf ihre Tauglichkeit hin prüft.
In vier Schritten führt der strukturierte Prozess, den Dörflinger nutzt, um innovativen Ideen auf den Sprung und in die Welt zu helfen, zur Lösung für Probleme aller Art (siehe Kasten S. 73). Dörflingers Erfahrung: „In der Regel haben die Beschäftigten durchaus genug Ideen, um die aktuellen Probleme zu lösen – sie äußern sie nur nicht, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen.“
In den meisten Firmen gibt es zum einen keinen strukturierten Prozess für Ideenentwicklung, gleichzeitig halten sich die Mitarbeiter in vielen Firmen zurück, weil sowieso jede Idee abgeschmettert wird oder der Chef am Ende immer seine eigenen Ideen für die besten hält. „Wer das kreative Potenzial seiner Beschäftigten entfesseln möchte, muss vor allem an die Unternehmenskultur ran“, sagt Dörflinger. Nur wo neue Ideen wirklich erwünscht sind und Fehler erlaubt, werden Beschäftigte ihr erfinderisches Denken einschalten. „Vertrauen und ein klarer Prozess sind die Grundlage“, erklärt Stefanie Dörflinger.
Jahrelang Potenzial verschenkt
Holger Lubatschowski war bei einem von Dörflingers Seminaren dabei. Der ehemalige Professor vom Laser-Zentrum Hannover machte sich vor einigen Jahren mit einer Erfindung selbständig. Sein zwölfköpfiges Team verbessert Laseranwendungen in der Augenheilkunde und entwickelt neue operative Verfahren. „Zu uns kommen häufig Augenärzte und sagen: Ich habe eine Idee für eine neue Behandlungsmethode mit dem Laser, aber wie kann ich das technisch umsetzen?“, erzählt der Unternehmer.
Eigentlich hatte er sich vom Seminar Anregungen erhofft, wie er seinen Ingenieuren zu mehr Einfallsreichtum verhelfen könnte. Doch seine Erfahrung war viel tiefgreifender: Er schaute plötzlich völlig anders auf sein Team. „Traditionell erwartet man vom Ingenieur die Entwicklungsideen – also den kreativen Part der Problemlösung“, meint Lubatschowski. Der Techniker soll das dann alles sauber umsetzen. Die Assistentin soll alles organisieren und fit in IT sein. Fachlich erwarte man von ihr keine Impulse. Und weil Praktikanten beruflich noch keine Erfahrung haben, rechne man bei ihnen ebenfalls nicht mit bahnbrechenden Ideen. „Durch meine Sicht habe ich jahrelang einen großen Teil des kreativen Potenzials meines Teams verschenkt“ – manchmal ärgert sich Lubatschowski noch heute darüber.
Denn diese Stärke kann sich nur entfalten, wenn der Mensch mit seinen Fähigkeiten und Interessen als Ganzes gesehen wird – unabhängig von seiner beruflichen Qualifikation. „Inzwischen ist es bei uns im Meeting deshalb explizit erwünscht, dass jeder seine Ideen zu einem Problem äußert, egal ob Praktikant oder fachfremde Kollegin“, sagt Lubatschowski. „Wir haben es schon häufiger erlebt, dass eine Idee mit echtem Potenzial genau von der Seite kommt, die nicht so tief in der Materie steckt.“
Lebenserfahrung statt Zeugnissen
Lubatschowski hat die Firmenkultur deshalb geändert. Die Personalauswahl gehe heute viel stärker nach den wirklichen Interessen und der Lebenserfahrung als nach den Zeugnissen. „Wir haben beispielsweise einen Konstrukteur eingestellt, dessen Hobby Roboterbau ist und der heute bei uns nicht nur in der Robotik arbeitet, sondern einen großen Gewinn für die IT-Sicherheit darstellt – ohne formale Ausbildung.“ Eine andere Kollegin werde gerade ins Risikomanagement eingearbeitet, wo es darum geht, weshalb Apparate falsch bedient werden – und wie sich das verhindern lässt.
Als Verhaltensbiologin bringe die Kollegin viel Wissen über menschliche Handlungsweisen mit sich. Seit Lubatschowski sich der Kreativität seiner Mitarbeiter sicher sein kann, ist er auch überzeugt davon, dass seine Firma zukunftsfähiger denn je ist: „Das kreative Potenzial meiner Mitarbeiter führt dazu, dass wir uns mit dem Markt entwickeln können“, sagt der Firmenchef. „In jeder Veränderung können wir das Leistungsvermögen für uns als Unternehmen entdecken.“ Ein bisschen so wie beim Spiel „Überall Gesichter“.
Der kreative Prozess
Kreativität folgt einem strukturierten Prozess, wenn sie zu brauchbaren Lösungen führen soll. Phasen, in denen es darum geht, den Geist zu öffnen und kreative Ideen zu entwickeln, wechseln sich mit solchen ab, in denen kritisch ausgewählt wird.
Schritt 1, Problem definieren: Zuspitzung auf eine konkrete Fragestellung.
Schritt 2, Ideen entwickeln: Möglichst viele neue und ungewöhnliche Ideen sammeln. Am besten unter Anwendung kreativer Techniken, denn Angst vor Fehlern und gewohnte Denkmuster blockieren neue Ideen. Faustformel: Nur jede zehnte Idee taugt etwas.
Schritt 3, Idee aussuchen: Ähnliche Ideen clustern und bewerten – bis der beste Ansatz gefunden ist, der weiterentwickelt wird. Neue Ideen haben in diesem Schritt nichts mehr zu suchen.
Schritt 4, Lösung ausarbeiten, verfeinern und in der Praxis testen.
Kreative Gedanken fördern
Auszeiten. Beim E-Mail-Checken und hektischen Arbeiten kommt kein Ideenreichtum auf. Kreativität braucht Luft im Kopf. Deshalb: Öfter mal den Schreibtisch verlassen. Rausgehen oder zumindest aus dem Fenster gucken. Unternehmen locken erfinderisches Potenzial hervor, indem sie spezielle Räume zur Verfügung stellen. Die berühmte Couch mit Kickertisch ist ein Klischee – aber es funktioniert. Das Setting entspannt und fördert divergentes Denken.
Positive Stimmung. Sind wir eher negativ gestimmt, tendieren wir zum analytischen Denken. Kreative Ideen haben wir viel eher, wenn wir mit positiven Gefühlen an eine Aufgabe rangehen.
Kreative Meetings. Durch Berichte drehen sich Meetings häufig im Kreis. Auch für Probleme finden sich nur selten innovative Lösungen. Stattdessen: Einer aus der Runde erzählt von einem inspirierenden Erlebnis der letzten Tage – einem Film, einem Theaterstück, einer Begegnung. Die anderen schauen bewusst, welche Anregung sich daraus für laufende Projekte oder Probleme ergibt.
Inspiration ist überall. Kreative Ideen entstehen häufig durch die Verknüpfung von Assoziationen aus verschiedenen Feldern. Wer seine Frage in den Alltag mitnimmt, findet an unerwarteten Orten Lösungsideen. Umgang mit der E-Mail-Flut? Auch ein Busfahrer muss am Tag viele nicht vorausberechenbare Kontakte managen. Wie macht er das?
Masse statt Klasse. Wer anfängt, mehr Kreativität zuzulassen, sollte auch fehlertoleranter werden. Denn meist zeigen kreative Ideen erst auf den zweiten Blick, ob sie nützlich sind oder nicht.
Catch-Modus. Ideen und Gedanken sofort notieren. Denn kreative Impulse sind flüchtig.
Anregungen: Holger Erdrich, Agentur brandherde, Heidelberg
„Die meisten Firmen rufen nicht nach Kreativitätsgenies“
Nicht jeder kann mit Einfallsreichtum auftrumpfen. Gar nicht so schlimm, sagt Personalpsychologe Heinz Schuler. Kreative Köpfe allein tun den Firmen auch nicht gut
Herr Schuler, Kreativität ist hoch im Kurs als wünschenswerte Eigenschaft von Beschäftigten. Was halten Sie als Personalexperte davon?
Viele Unternehmen sagen, sie wollten unbedingt kreative Mitarbeiter, und werben um sie. Aber ich wäre da vorsichtig.
Warum?
Ein Kernmerkmal von sehr kreativen Menschen ist ihr Autonomiestreben. Sie wollen sich nichts sagen lassen. Und das will man ja im unternehmerischen Kontext häufig nicht.
Das heißt, echte Kreative sind gar nicht so beliebt in Firmen?
Denken Sie an den Unternehmer Elon Musk, der unter anderem das Onlinebezahlsystem PayPal erfand. Ein Kreativitätsgenie – aber mit ihm als Mitarbeiter würde es kein Chef aushalten. Ausgeprägt kreative Menschen sind sehr schwer zu führen. Sie sind Freigeister.
Aber die Firmen rufen danach, dass der moderne Mitarbeiter bitte schön auch kreativ sein soll. Was ist dann damit gemeint?
Man möchte keine komplett einfallslosen Leute. Die Firmen wollen heutzutage Mitarbeiter, die tun, was man ihnen sagt – gern auch mithilfe einer kreativen Lösung. Zum Beispiel um Personalengpässe zu kompensieren, auf neue Kundenwünsche oder veränderte Anforderungen einzugehen. Eine Kombination von angepasst und kreativ. Wenn Sie mich fragen, gibt es die nur selten. Entweder sind Menschen eher angepasst und wollen es richtig im Sinne des Chefs machen. Oder sie sind kreativ und entwickeln eigene Lösungen, die auch eigensinnig sein können. Den einen kritisiert der Chef, weil er nicht innovativ genug ist, den anderen, weil er sich nicht an seine Vorgaben hält.
Das heißt, der Ruf nach mehr Kreativität ist Augenwischerei.
Auf jeden Fall rufen die meisten Firmen nicht nach Kreativitätsgenies. Ihre Mitarbeiter sollen möglichst schlaue Lösungen im vorgegebenen Rahmen finden und sich immer wieder schnell auf neue Situationen einstellen. Dafür braucht man ein wenig Kreativität, aber auch Intelligenz. Und man braucht Rahmenbedingungen, die kreatives Denken zulassen, und einen guten Prozess.
Wie sieht so ein Prozess aus?
Er teilt sich grob in drei Schritte: Problemfindung, Problemlösung und die Implementierung der neuen Idee. Interessanterweise gibt es gerade im Feld Problemfindung Menschen, die das signifikant besser können als andere. Sie erkennen beispielsweise grundlegende Widersprüche oder Schwierigkeiten, wo andere noch gar nicht sehen, dass ein Problem vorliegt. Diese Fähigkeit kann man interessanterweise kaum trainieren.
Und bei der Problemlösung?
Wer Probleme auf eine neue Art lösen möchte, braucht erst einmal möglichst viele Ideen. Das kann man mit Training und Methoden beflügeln. Um eine wirklich gute Lösung zu finden, muss man allerdings im nächsten Schritt die besten Ideen auswählen und verfeinern. Bei der Ausarbeitung der Lösung kommen vor allem die Engagierten und Fleißigen zum Zuge. Diejenigen, die an einer Sache dran bleiben, werden die Idee zur Marktreife führen. Auch Menschen, die ein gewisses Machtstreben haben, können in dieser Phase des Prozesses sehr wichtig sein, weil sie den Drang haben, Ideen umzusetzen – sogar wenn ihnen selbst gar nichts dazu einfällt. Es ist eine Kunst, den Kreativitätsprozess personell intelligent zu besetzen.
Bedeutet das, dass ein Team ausschließlich aus Kreativen wahrscheinlich viele Ideen, aber nicht unbedingt die gute Lösung hervorbringt?
Genau. Teams, die kreative Leistungen erbringen sollen, sollten möglichst gemischt besetzt sein. Man braucht diejenigen, die Probleme überhaupt erst sehen, genauso wie diejenigen, die viele Ideen entwickeln, aber eben auch die, die am Ende die Idee weiter austüfteln.
Gibt es Branchen, in denen dieses Bewusstsein bereits ausgeprägt ist?
In kreativen Branchen kennt man diese Prozesse natürlich. Aber längst nicht jede Werbeagentur sorgt im ganz normalen Arbeitsalltag für eine kreative Atmosphäre. Interessanterweise sind technische Unternehmen besonders aufgeschlossen. In der Personalberatung hatten wir häufig Unternehmen, die Produkte für die Autoindustrie, Klebstoffe oder Messtechnik herstellen. Sie interessierten sich nicht nur für Kreativität, um neue Produkte zu erfinden, sondern sie erkannten sofort, dass sie auch hilft, um Organisation und Abläufe zu verbessern. Hier kann man auch sehen, dass Beschäftigte, die sich nicht in erster Linie als kreativ bezeichnen würden, ein großes kreatives Potenzial haben, wenn man die entsprechenden Prozesse möglich macht.
Wie misst man eigentlich das kreative Potenzial einer Person?
Auf jeden Fall nicht durch Selbsteinschätzung. Für die Personalauswahl haben wir den Test „Berufsbezogene Kreativität“ entwickelt. Er misst die Fähigkeit zu kreativem Denken in acht Dimensionen, die sich den Stufen eines kreativen Prozesses zuordnen lassen. So erfährt man, in welcher Phasen des kreativen Prozesses ein Mitarbeiter am besten aufgehoben ist.
Gibt es Tipps, wie ein Chef kreative Mitarbeiter gut führen kann?
Harte Vorgaben passen auf jeden Fall nicht. Besser ist die sogenannte transformationale Führung. Das heißt: Die Führungskraft vermittelt ein klares gemeinsames Ziel, eine Vision, wo man hinwill. Damit triggert sie die innere Motivation der kreativen Beschäftigten – und sie fangen von selbst an, gute Ideen im Sinne des gemeinsamen Zieles zu entwickeln und umzusetzen. Der Chef hat dann vor allem die Aufgabe, die Mitarbeiter in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Bei diesem Führungsstil ist allerdings die Vorbildwirkung entscheidend. Ein Chef, dem selbst nichts einfällt, wird es schwer haben, das Potenzial seiner Beschäftigten zu aktivieren.
Professor Heinz Schuler war Inhaber des Lehrstuhls für Psychologie an der Universität Hohenheim. Er hat Standardwerke im Bereich der Organisations- und Personalpsychologie verfasst, darunter zusammen mit Yvonne Görlich Kreativität. Ursachen, Messung, Förderung und Umsetzung in Innovation (Hogrefe)
Henning Beck: Kreativität im Gehirn – Wie Sie das Unmögliche denken. Die Wirtschaftsmediation 2, 2015, 34 – 36
Michaela Brohm: Werte, Sinn und Tugenden als Steuerungsgrößen in Organisationen. Für Fach- und Führungskräfte (essentials). Springer, Wiesbaden 2016
Joy Paul Guilford: Creativity. American Psychologist, 5, 1950, 444 – 454
Heinz Schuler, Yvonne Görlich: Kreativität. Praxis der Personalpsychologie. Hogrefe, Göttingen 2007
Deutsche Gesellschaft für Kreativität: Website: www.kreativ-sein.org.
Svenja Hofert: Mindshift. Frankfurt 2019 Campus
Planet Wissen: Wie werde ich kreativ? Sendung vom 18.2.2019. Verfügbar unter: https://www.ardmediathek.de/ard/player/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTIyNTU1OTQwLTI3ZGQtNDk2OS05ODU3LWRlNmUxYjQ2YjU4Mg/
Train To Mars: www.traintomars.de. Netzwerk für explorative Unternehmensentwicklung.