Wie früher in der Familie

Immer wieder Probleme mit dem Chef? Ständig Stress mit den Kollegen? Wer häufig Schwierigkeiten im Job hat, sollte die Beziehung zu Eltern und Geschwistern Revue passieren lassen

Anna Regner hatte sich vorgenommen, dass es diesmal anders laufen würde. Sie schwor sich: Heute heulst du nicht. Doch als die junge Ärztin das Gespräch mit ihrem Chefarzt beendete, kamen ihr schon wieder die Tränen. Seit einem halben Jahr war Regner Assistenzärztin in der Chirurgie eines großen Berliner Krankenhauses und seitdem überzeugt, für den Job nicht geeignet zu sein. Denn der Chefarzt – eine Koryphäe der Gefäßchirurgie – hatte immer etwas auszusetzen, mal an ihren Arztbriefen, mal an ihrem Umgang…

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der Gefäßchirurgie – hatte immer etwas auszusetzen, mal an ihren Arztbriefen, mal an ihrem Umgang mit den Patienten. „Ich war kurz davor, alles hinzuwerfen“, erinnert sich die 28-Jährige, „mein Selbstwertgefühl war bei null.“ Erst während eines Abendessens mit anderen Assistenzärzten erfuhr die junge Chirurgin, dass der Chefarzt ihren Kollegen gegenüber genauso streng war – die seine Kritik aber viel besser wegstecken konnten. Regner wurde klar: Die Ursache ihrer Unzulänglichkeitsgefühle lag ganz woanders. Ihr Vater war Richter am Oberlandesgericht gewesen und damit eine echte Autoritätsperson, von ihm hatte Anna Regner nur wenig Anerkennung erhalten. Denn seine „Kleine“ war ihm stets zu verträumt gewesen. Die Kritik des Chefarztes erinnerte die junge Chirurgin an die Äußerungen des Vaters – und weckte in ihr das alte Gefühl, wieder einmal nicht gut genug zu sein.

Dass die Kindheitserfahrungen noch in unser Erwachsenenleben hineinwirken, ist den meisten Menschen bewusst. Immer wieder werden wir von Gefühlszuständen überrascht, die mehr mit der Kindheit als mit dem Hier und Jetzt zu tun haben. Gerade in Partnerschaften spüren wir diese Prägungen häufig: Wiederkehrende Konflikte gehen oft auf das Konto früher Beziehungserfahrungen, wir inszenieren in unseren Partnerschaften die Beziehungsmuster unserer Eltern oder projizieren elterliches Verhalten auf die Partner. Eigentlich kein Wunder, denn unsere ersten Lebensjahre sind überaus prägend: Unsere Herkunftsfamilien sind ein – positives oder negatives – Lernmodell dafür, wie man Beziehungen führt, Konflikte löst und ein Gefühl für den eigenen Wert entwickelt. Das Gelernte exportieren wir in die verschiedensten Bereiche unseres Lebens. Die Transaktionsanalyse hat dafür den Begriff des „Skripts“ geprägt: Wir leben nach einem unbewussten Drehbuch, das in unseren ersten Jahren verfasst wurde.

Auch am Arbeitsplatz werden diese frühen Erfahrungen lebendig. Vor allem Autoritäts- und Loyalitätskonflikte mit den Eltern sowie Geschwisterrivalitäten schlagen sich dort häufig nieder. Oft merken wir das – so wie Anna Regner – aber erst spät, es dauert, bis wir einen Zusammenhang zwischen unseren beruflichen Konflikten und unseren Kindheitserfahrungen herstellen können. Dabei bietet gerade die Arbeitswelt einen idealen Boden, um in frühere Verhaltensmuster zurückzufallen, zu regredieren: Die meisten Unternehmen weisen mit ihrer Hierarchie und der Bildung von Teams familienähnliche Strukturen auf und bringen uns damit unbewusst in die Nähe der Kindheit. Denn wie in der Familie müssen wir uns am Arbeitsplatz in Gruppen behaupten und mit rivalisierenden Kollegen vertragen; wie in der Familie gilt es auch hier, Autoritäten anzuerkennen; wie in der Familie sind wir auch als Arbeitnehmer abhängig; wie in der Familie entwickeln wir eine Bindung an das Unternehmen. „Wer in einem Unternehmen arbeitet, unterliegt großem Anpassungsdruck und regrediert tendenziell“, sagt der Münchner Psychoanalytiker Thomas Giernalczyk, der als Organisationsberater und Coach in vielen Unternehmen tätig ist. „Die Gefahr, dass wir uns Kollegen oder Vorgesetzten gegenüber als Kind fühlen, ist nicht zu unterschätzen. Gerade von den Führungskräften erleben wir Botschaften dann schnell so, als kämen sie vom strengen Eltern-Ich. Sie werden oft als autoritärer empfunden, als sie eigentlich gemeint sind.“ Wer also wie Anna Regner vom Vater wenig Anerkennung erhielt, neigt schnell dazu, den Vorgesetzten zum ablehnenden und bestrafenden Vater zu machen.

Oft sind die Übertragungswege alter Beziehungsmuster auf die Berufswelt allerdings schwer zu durchschauen, schließlich gilt der Job als Gegenstück des Privatlebens. Die amerikanischen Familientherapeuten Richard Weinberg und Larry Mauksch konnten in einer Untersuchung über Familiendynamik am Arbeitsplatz zeigen, dass unsere familiären Prägungen im Job ganz unterschiedliche Formen annehmen können. Die Forscher unterscheiden zwischen linearen, zirkulären, triangulären und strukturellen Übertragungswegen.

In der linearen Übertragung, so Weinberg und Mauksch, werden Beziehungsmuster aus der Kindheit quasi „eins zu eins“ übertragen: Ein Arbeitnehmer rivalisiert dann mit seinem Kollegen um die Anerkennung des Chefs, genau wie er damals mit seinen Geschwistern um die Liebe und Anerkennung der Eltern buhlte.

In der zirkulären Übertragung hingegen kollidieren die Kindheitserfahrungen zweier Kollegen miteinander – etwa wenn ein Mitarbeiter aufgrund seiner Biografie eher konfliktvermeidend an eine Situation herangeht und der andere eher konfrontativ. Das kann zu Konflikten führen, es kann sich aber auch eine konstruktive Dynamik entwickeln, wenn beide Kollegen wertschätzend miteinander umgehen.

Ganz anders in der triangulären Übertragung: Hier steht der Mitarbeiter außerhalb des Geschehens und reagiert auf das Beziehungsmuster zweier Kollegen, weil es ihn unbewusst an Konflikte seiner Herkunftsfamilie erinnert – etwa indem ein Mitarbeiter sich abmüht, den Streit zweier Kollegen zu schlichten, weil er als Kind stets im Streit der Eltern vermitteln musste.

In der strukturellen Übertragung hingegen ist es die Unternehmensdynamik, die einen Arbeitnehmer in seine Kindheit zurückversetzt. So kann eine äußerst hierarchische Firmenstruktur einen Mitarbeiter unbewusst an seine autoritäre Erziehung erinnern. Der Sog, die in der Kindheit erlernte Rolle einzunehmen oder dagegen aufzubegehren, ist dann besonders groß.

Beziehungskonflikte im Job sind keine Seltenheit: Laut einer neuen Studie des Marktforschungsinstituts YouGov ist jeder zweite Deutsche unglücklich am Arbeitsplatz, neben schlechter Bezahlung und Langeweile nennen die Befragten besonders häufig mangelnde Anerkennung und Streit mit Kollegen als Gründe für die berufliche Unzufriedenheit. Nicht selten dürften dabei alte Beziehungserfahrungen im Hintergrund mitschwingen. Rückfälle in alte Muster ereignen sich besonders dann, wenn wichtige Grundkonflikte noch nicht vollständig bewältigt wurden, also die belastende Beziehung zum Vater nicht bearbeitet oder die Konkurrenzbeziehung zur Schwester noch ungeklärt ist. Erinnert eine Beziehungskonstellation entfernt an die Kindheit, steigt damit die Gefahr, dass sie ausagiert wird – etwa indem der Chef in die „Vaterrolle“ gesteckt und abgewertet wird.

Psychoanalytiker Giernalczyk erlebte jüngst solch einen Fall im Coaching. Ein Geschäftsführer schickte seinen Projektleiter zum Gespräch mit dem Coach, weil er das Gefühl hatte, mit seinem Mitarbeiter nicht klarzukommen. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass der Projektleiter Schwierigkeiten hatte, sich von seinem Chef führen zu lassen. Er machte sich wiederholt lustig über das große Auto seines Chefs und kaufte sich selbst demonstrativ einen Kleinwagen. „Ich kenne das ganze Brimborium, das kann ich nicht ernst nehmen“, erklärte er. Auch sein Vater war Geschäftsführer und später Leiter einer internationalen Forschungseinrichtung gewesen, die Beziehung zwischen Vater und Sohn war immer noch angespannt. Ganz klassisch kämpfte er also stellvertretend gegen seinen Vater. „Er entwertete seinen Chef, ohne es selbst zu merken, und schoss sich dadurch ins Aus“, sagt Psychoanalytiker Giernalczyk.

Eine schwierige Vaterbeziehung kann also zur Folge haben, dass Arbeitnehmer stellvertretend in Konkurrenz zu ihrem Chef treten oder ihm die Anerkennung verweigern. Doch auch der gegenteilige Weg ist denkbar: die vollständige Unterordnung, um unbewusst die Konkurrenz mit dem Vater zu vermeiden. Auch hierzu kann Thomas Giernalczyk ein Beispiel aus seiner Beratungspraxis geben. Sein Klient, ein 40-jähriger Bereichsleiter, war in Sorge, weil ein Kollege sich einen Teil seines Arbeitsbereichs abzwacken wollte. Statt seinen Ärger oder seine Befürchtung zu äußern, erklärte der Bereichsleiter lediglich, dass dieser Schritt zwar gut für die Geschäftsentwicklung sei, in seiner Abteilung aber für eine gewisse Unruhe sorgen würde. Dass ihm dadurch ein Teil seiner Kompetenz verlorenginge, schien den Bereichsleiter nicht zu beschäftigen. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass er als Kind oft Angst vor seinem psychotisch erkrankten und unberechenbaren Vater gehabt hatte. „Er hatte es verlernt, Ärger auf den Vater zu entwickeln“, erklärt Giernalczyk, „und konnte deshalb nun auch keinen Ärger auf seinen Kollegen erleben.“ Diese Erkenntnis brachte den Bereichsleiter dazu, sein Vorgehen neu zu überdenken und im Job bestimmter aufzutreten. „Er nahm sich als Formel mit: Der Kollege ist nicht mein Vater“, sagt Giernalczyk.

Bisweilen werden die frühen Erfahrungen ganz ungefiltert weitergegeben, wie Giernalczyk berichtet. Eine Personalsachbearbeiterin, die als Kind vom Vater wiederholt als dumm bezeichnet wurde, schikanierte später ihre Auszubildenden. Erst im Coaching ging ihr der Zusammenhang zwischen der eigenen Entwertung und der Entwertung ihrer Azubis auf: Sie tat anderen an, was ihr selbst geschehen war. Auch beim Verharren in unbefriedigenden Arbeitsverhältnissen spielt der Mangel an Anerkennung in der Kindheit häufig eine Rolle. Wer wenig Anerkennung erhielt, hat auch als Erwachsener häufig kein gutes Selbstwertgefühl. Das Bewusstsein, etwas Besseres zu verdienen, ist dann oft nicht vorhanden. Das kann es Arbeitnehmern schwermachen, sich aus Arbeitsverhältnissen zu lösen, in denen sie schlecht behandelt werden.

Hinderlich für ein erfüllendes Berufsleben sind aber nicht nur negative Botschaften der Eltern in der Kindheit, sondern auch extreme Verwöhnung. Nehmen Eltern ihrem Kind alles ab und bestätigen es stets darin, großartig zu sein, womöglich noch besser als alle anderen, kann daraus eine narzisstische Störung entstehen, die unter Umständen zur gänzlichen Arbeitsunfähigkeit des Kindes führt. Die 28-jährige Julia Finke ist so ein Fall: Zwei Jahre nach Abschluss ihres Studiums der Sozialpädagogik ist sie noch immer arbeitslos, nach drei erfolglosen Bewerbungen gab sie es einfach auf, sich zu bewerben. Finanziellen Druck hat sie nicht, schließlich zahlen die Eltern noch immer die Miete, genau wie sie ihrer Tochter früher die Hausaufgaben erledigten und ihr sogar die Bachelorarbeit schrieben. Die Folge: Noch heute schwankt Julia Finke zwischen dem Gefühl, eigentlich nichts zu können und andererseits großartig zu sein. Ein stabiles Selbstwertgefühl ist also nicht vorhanden, in einer Psychotherapie übt sie nun, Rückschläge auch aushalten zu können. „Verwöhnung führt meist zu nachfolgenden Traumatisierungen“, erklärt Giernalczyk. „Für einen Menschen, der nicht gelernt hat, dass er ganz normal ist, bricht im Job schnell die Welt zusammen, wenn er nicht sofort der Größte ist. Immer wenn sein Größenselbst infrage gestellt wird, neigt er dann dazu, alles wieder hinzuwerfen. Dann kann er nämlich sagen: ‚Es lag nicht an mir! Das war nicht das Richtige für mich!‘ Er muss nicht sagen: ‚So gut bin ich nun doch nicht.‘“

Auch wenn sich viele berufliche Konflikte vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen entwickeln, gilt nicht immer die Formel: schwere Kindheit gleich berufliche Probleme. Denn jedes Kind verarbeitet Belastungen und Hilfsangebote unterschiedlich. Genetik, Persönlichkeit, Begabungen und Bindungen an andere wichtige Bezugspersonen wie Großeltern oder Lehrer sind dabei wichtige Variablen.

Hoch ist das Risiko allerdings, im späteren Berufsleben nicht klarzukommen, wenn Menschen aufgrund traumatisierender Erfahrungen im Kindesalter nicht gelernt haben, sich in andere hineinzuversetzen und deren Gefühle zu lesen. „Mentalisieren“ nennen die britischen Psychoanalytiker Peter Fonagy und Mary Target diese wichtige Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren.

Die Fähigkeit zur Mentalisierung wird in der Kindheit erlernt, eine Voraussetzung dafür ist die sichere Bindungsbeziehung zu den Bezugspersonen: Das Kind braucht feinfühlige und empathische Eltern, die sich auf die innere Welt ihres Kindes einlassen und ihm helfen, seine inneren Vorgänge zu verstehen. Können Kinder mentalisieren, sind auch sie in der Lage, zufriedenstellende Beziehungen zu führen. Sie verstehen nach und nach, dass andere Menschen anders denken als sie und Beziehungen nur funktionieren können, wenn sie auf gemeinsamen Kompromissen und respektvoller Rücksichtnahme beruhen. Auch mit Aggressionen und Konflikten können sie deshalb besser umgehen: Mentalisierende Menschen beziehen nicht gleich jeden persönlichen Angriff auf sich, sondern sind in der Lage, die dahinterliegenden Motive ihres Gegenübers zu erkennen.

Wer nicht mentalisieren kann, läuft also permanent Gefahr, sich in Konflikte mit seinen Mitmenschen zu verwickeln und deshalb beruflich zu scheitern. Denn unser Arbeitserfolg beruht nun mal auf guter Zusammenarbeit. „Dafür ist Perspektivwechsel unheimlich wichtig“, findet auch Thomas Giernalczyk. „Wenn ich Schwierigkeiten habe, mich in den anderen einzufühlen, fülle ich diese Lücke mit stereotypen eigenen Annahmen. Dann liege ich oft falsch, und es kommt zu Konflikten und Missverständnissen.“

Wie können Arbeitgeber sicherstellen, dass der Regressionsdruck im Job nicht für Störungen sorgt? Eine wichtige Rolle spielt die Unternehmenskultur, die möglichst durch Wertschätzung, einen gewissen Grad an Transparenz und haltgebende Strukturen gekennzeichnet sein sollte. Führungskräften kommt hier eine besondere Verantwortung zu, schließlich sind sie klassische Übertragungsfiguren: Auch wenn sie nicht so agieren, werden sie von ihren Mitarbeitern unbewusst doch wie Eltern wahrgenommen.

Literatur

Thomas Giernalczyk, Mathias Lohmer (Hg.): Das Unbewusste in Unternehmen: Psychodynamik von Führung, Beratung und Change Management. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 2012

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2015: Den Alltag managen