„Hauptsache, ich komm da in drei Jahren durch“

Diskussionen als unnützes Gelaber: Angepasst und argumentationsfaul – so erlebt die Politikwissenschaftlerin Christiane Florin heutige Studierende.

Frau Florin, als Lehrbeauftragte für Politikwissenschaft haben Sie seit 14 Jahren Erfahrung mit 18- bis 22-jährigen Studierenden. Über diese jungen Menschen haben Sie nun ein Buch geschrieben. Ist Anpassung tatsächlich eine der hervorstechenden Eigenschaften, die Sie bei ihnen entdeckten?

Zunächst einmal: Ich verstehe mein Essay nicht als eine „Abrechnung“ mit den Studenten, sondern als Einschätzung. Ich schildere mein Befremden, nachdem ich jahrelang mit angehenden Politikwissenschaftlern gearbeitet habe.…

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Ich schildere mein Befremden, nachdem ich jahrelang mit angehenden Politikwissenschaftlern gearbeitet habe. Was ich beschreibe, betrifft nicht alle, aber eine größer werdende Gruppe. Bei diesen Studenten kommen Diskussionen mit kontroversen Standpunkten nur sehr selten auf. Wenn im Seminar überhaupt debattiert wird, dann meist auf meine Anregung hin– weil ich etwas sehr Provokatives äußere, um eine Diskussion in Gang zu bringen. Konstruktives Streiten kommt viel zu selten vor. Die Studenten verbuchen solche Debatten als „unnützes Gelaber“. Sie erwarten von den Hochschuldozenten schnelle, einfache und eindeutige Antworten.

Können Sie uns ein Beispiel geben?

Man sieht es deutlich bei Referaten: Es bereitet vielen Studenten große Schwierigkeiten, wenn es mehrere Thesen zu einem Thema gibt. Dann sind sie ratlos. Und das befremdet mich – aus mehreren Gründen. Zum einen lebt von diesen Auseinandersetzungen das Fach Politikwissenschaft. Zum anderen hatte ich mit so einer Debattierunlust überhaupt nicht gerechnet, weil ich es von meiner eigenen Studienzeit her anders kenne. Aktuelle Anlässe – die NS-Vergangenheit, die NATO-Nachrüstung, der Weg zur deutschen Einheit – griffen wir sofort in den Seminaren auf. Meine Erfahrung mit den heutigen Studenten ist: Was draußen in der Welt geschieht, rauscht vorbei wie ein endloser Livestream.

Nun mangelt es heute auch nicht an aktuellen politischen Themen: Die Datensicherheit, die Wirtschaftskrise, und täglich tauchen neue Berichte und Bilder von Krisengebieten auf.

Genau. Das Fach Politikwissenschaft hat den Vorteil, dass sich immer aktuelle Beispiele finden. Im Modul Medienethik etwa die Frage: Sollte ein Fernsehsender zeigen, wie amerikanische Journalisten von IS-Terroristen geköpft werden? Und wie sieht es mit mir als Privatperson aus: Leite ich so ein Video bei Facebook an meine Kontakte weiter?

Aber über das Pro und Contra wird nicht gestritten?

Ich will nicht sagen, dass man gar nicht diskutiert. Aber es geschieht nicht mit Neugier, nicht auf eine wissenschaftliche Weise, sondern rein auf der Gefühlsebene. Die Positionen sind dann schnell mitgeteilt: Die einen sagen zum Weiterleiten eines solchen Hinrichtungsvideos: „Kann man machen, finde ich.“ Die anderen meinen: „Ich finde, das geht gar nicht.“ Solche Meinungen werden spontan ausgetauscht – und dann stockt es. Damit kann ich mich aber nicht zufriedengeben, dass man sagt, ich „finde“ oder ich „fühle“, ob etwas richtig oder falsch ist. Es reicht nicht, mit dem eigenen spontanen Empfinden zu argumentieren. Wir wollen auf eine wissenschaftliche Herangehensweise vorbereiten. Die Studenten sollen eine begründete Position entwickeln.

Was meinen Sie, woher kommt diese Unlust zu debattieren?

Die Studenten verhalten sich angepasst. Sie verhalten sich so, wie sie meinen, dass wir es von ihnen erwarten. Sie glauben: Erwünscht ist, dass du nicht nachfragst. Erwünscht ist, dass du nicht widersprichst. Erwünscht ist, nicht lange im Seminar nach Gegenargumenten zu suchen und zu debattieren. Erwünscht ist, dass du dich mit dem schnellen Konsens zufriedengibst. An diese Botschaften halten sie sich, weil diese ihnen zu oft signalisiert werden.

Eine wesentliche Ursache sehe ich in unserem neugeschaffenen Studiensystem. Es basiert auf einer Punktevergabe, den sogenannten credit points. Mit dem System wird den Studenten suggeriert: Nicht nur in den Naturwissenschaften gibt es messbare Ergebnisse. Auch in den Geisteswissenschaften wie der Politikwissenschaft gibt es stets eindeutige, klare Antworten. Und nur diese eindeutigen Lösungen werden honoriert. Für eine leidenschaftliche Debatte gibt es keine credit points. Es zählt nur das prüfungsrelevante Wissen.

Dann ist die Universität schuld, dass die Studenten nicht debattieren wollen?

Ich sehe die Verantwortung auf mehreren Seiten. Bei den Hochschulen, wenn sie sich damit abfinden, nur eine Produktionsstätte von Hochschulabsolventen zu sein. Es lief ja so: Vor etwa 15 Jahren kam aus der Wirtschaft die Klage, unsere Abiturienten und Hochschulabsolventen seien zu alt. Wir könnten so auf dem globalen Markt bald nicht mehr mithalten. Daraufhin wurde die Schule bis zum Abitur um ein Jahr verkürzt, Hochschulen stellten auf Bachelor- und Masterabschluss um. Die Universitäten signalisierten damit: Wir sind ein Durchlauferhitzer für die Wirtschaft.

Wir Lehrende tragen auch eine Verantwortung für den Pragmatismus der Jungen. Wir haben zugelassen, dass alles an der Universität zweckgebunden sein muss. Alles Wissen, was nicht unmittelbar nützlich ist, gilt nun als Gelaber oder Gerümpel und fliegt raus.

Sie meinen, die heutigen Studenten beugen sich einem versteckten Druck durch das neue Hochschulsystem? Sie nehmen unausgesprochene Erwartungen auf, denen sie sich anpassen?

Genau. Es ist heute nicht mehr der autoritäre Vater zu Hause, der diesen Anpassungsdruck ausübt. Auch nicht der Professor vorne im Hörsaal, der nur Zustimmung duldet und nicht zum Selbstdenken ermuntert. Was die Studenten wahrnehmen, ist eine diffuse Autorität, die aber trotzdem mächtig ist. Sie ist vielleicht gerade deshalb so unheimlich, weil man nicht wirklich jemanden dingfest machen kann, der sie ausübt.

Die Studenten nehmen ein Klima wahr, an das sie sich anpassen. Ventiliert werden folgende Botschaften: Du solltest Abitur machen, dann ein Studium mit sehr guten Noten abschließen. Aber das reicht noch nicht – du musst zusätzlich Praktika absolvieren und am besten ein Engagement in einem sozialen Projekt vorweisen. Die Studenten wollen all dem gerecht werden, aus Angst, sonst später keinen Beruf ausüben zu können, der mehr ist als nur ein Job. Also basteln sie an so einem optimierten Lebenslauf und fühlen sich dabei fremdbestimmt. Diese Haltung meine ich mit „Anpassung“.

Andererseits behaupten Sie in Ihrem Buch auch, dass die Studierenden sehr ichbezogen sind und ständig die eigene Befindlichkeit im Blick haben. Wie passt das zusammen?

Das ist kein Widerspruch. Nehmen wir als Beispiel eine Hausarbeit. Ich spreche mit den Kursteilnehmern in Einzelgesprächen über meine Bewertungskriterien. Sage ich dann etwa einem Studenten: „An dieser Stelle war es gut, an jener hat es den Maßstäben nicht genügt“, dann lautet eine typische Reaktion: „Diese Kritik hat mich jetzt aber verletzt.“ Oder wenn es sich um eine gute Beurteilung handelt: „Das hat mich unheimlich angesprochen.“ Beide Reaktionen sind nicht angemessen. Sie liegen nicht auf einer sachlichen Ebene. Die Studenten reagieren sehr empfindlich auf Kritik, auch wenn ich behutsam und sachlich argumentiere.

Ähnlich gefühlig fallen die Reaktionen aus, wenn die Studenten ein Buch oder einen Aufsatz lesen sollen. Sie sagen dann etwa: „Das fühlt sich für mich jetzt gut und richtig an.“ Oder eben: „Das fühlt sich falsch an.“ Vielleicht bin ich altmodisch, aber meine Meinung ist: Ein Text von Max Weber oder Enzensberger fühlt sich überhaupt nicht irgendwie an. So ein Text ist eine Anregung zu einer geistigen Auseinandersetzung. Es ist keine Frage, wie ich mich beim Lesen fühle. Es ist letztlich nicht einmal wichtig, ob mich das Thema langweilt oder interessiert. Denn wenn jemand Politik studieren möchte und sich für ein Seminar zur Innenpolitik anmeldet, dann ist klar, dass es in dem Zuge auch zum Beispiel um den Gesetzgebungsprozess unseres Landes gehen wird. Das kann die Lehrperson mehr oder weniger spannend gestalten, aber es gibt darin Aspekte, die man als Studierender einfach zur Kenntnis nehmen muss, auch wenn sie keinen emotionalen Thrill bieten.

In Ihrem Buch schreiben Sie auch von Selbstzweifeln und Ängsten der Studierenden.

Diese Ängste haben wohl mit der riesigen Auswahl an Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten, zu tun. Und mit der Angst, etwas falsch zu machen. Vielleicht ist das der Grund, warum so viele Studenten sich permanent selbst befragen: „Bin ich hier noch richtig?“ „Mache ich das hier richtig?“ „Verpasse ich nicht etwas Tolleres, Wertvolleres, während ich hier im Seminar sitze?“ Diese Fragen und Selbstzweifel lese ich in den Blicken meiner Gegenüber ständig.

Könnte die Gefühlsbezogenheit der Jungen nicht Ausdruck dafür sein, dass sie gut für sich sorgen, indem sie überprüfen: Wie geht es mir gerade? Was mute ich mir zu?

Die Universität ist aber keine Psychotherapie. Und wir Dozenten haben nicht mit dieser Gefühlsbetonung gerechnet. Wir mussten lernen: Es ist heute für die Jungen schwerer, mit Frustration umzugehen und zum Beispiel auszuhalten, dass sie bei einer Hausarbeit einen Tag lang auf eine leere Seite starren und ihnen nichts einfällt. Da fehlt jemand, der Ihnen gelassen sagt: Das ist kein therapiebedürftiges Leiden.

Sind die Studierenden überhaupt politisch interessiert?

Es kommt darauf an, welchen Politikbegriff wir zugrunde legen: Sie sind in dem Sinne unpolitisch, als dass sie sich wenig für einen etatistischen Politikbegriff interessieren: Staat, Ämter, Parteien, große Männer oder große Frauen, die Geschichte machen – das ist für sie gestrig. Das zeigen auch Medienforschungen, die das Leseverhalten des Politikteils von Zeitungen und Zeitschriften auswerten. Berichterstattung über Institutionen wird eher nicht gelesen. Von den Jungen nicht und von den Mittelalten auch nicht.

Wenn wir von einem erweiterten Politikbegriff ausgehen, sieht es anders aus. Wenn wir Petitionen und Onlinepetitionen, Shitstorms, Flashmobs – wenn wir all solche Aktionen zur Politik dazuzählen, sind die Jungen politisch. Es gibt noch weitere Felder, auf denen die Jungen aktiv sind: Denken Sie an die neue Lust am Teilen: Carsharing, Wohnung teilen oder Benutzen der Stadtfahrräder. Wenn das dazu zählt, sind die Jungen politisch. Sie selbst stehen auch auf dem Standpunkt, dass ihr iPhone politisch ist. Zugespitzt kann ich es so formulieren: Die ideologische Frage lautet heute nicht mehr „bist du links oder rechts?“, sondern „Hast du Apple oder Sam­sung?“.

Auf dieser Ebene wird diskutiert. Sie können sich vorstellen, dass wir Lehrenden da an Grenzen stoßen, wenn wir das mit dem in Beziehung setzen, was wir meinen, was ein Politikstudent lernen sollte. Ich bin der Ansicht: Ich kann nicht Politik studieren, ohne mir grundlegende Gedanken über das Gewaltmonopol des Staates und auch über das Regierungssystem gemacht zu haben. Allein dadurch, dass man Parteien ignoriert und für unwichtig erklärt, sind sie nicht abgeschafft.

Sie beklagen in Ihrem Buch auch das Einzelkämpfertum der Studierenden.

Den größten Diskussionsbedarf bei den Studierenden gibt es, wenn es um ihre Note geht. Für gemeinschaftliche Belange herrscht kein solches Engagement. Wenn Universitäten eine Veranstaltung anbieten „Wie kann die Lehre besser werden?“, ist sie nicht so gut besucht wie eine Karrieremesse. Jeder verhandelt für sich und versucht, das Optimum herauszuschlagen in den Einzelgesprächen mit Dozenten und Professoren.

Ich frage mich: Ist das eine Entwicklung, die wir Geisteswissenschaftler so gewollt haben? Für mich bedeutet eine akademische Bildung etwas anderes. Ich sehe darin zunächst einmal ein Freiheitsversprechen. Die Möglichkeit, aus Begrenzungen herauszutreten, beispielsweise aus denen seiner Herkunft. Bildung ermöglicht, den eigenen Horizont zu erweitern. Die Welt zu verstehen. Das ist vielleicht ein altmodischer Bildungsbegriff, aber ich möchte mich nicht zu früh von meinem Idealismus verabschieden, dass Geisteswissenschaften eigenständig denkende Leute hervorbringen. Ich wünsche mir, dass wir die Studierenden ermutigen: Wir möchten, dass du selbständig denkst. Du darfst auch mal einen Fehler machen. Du kannst auch mal einen Umweg gehen.

Wie wäre denn der Weg zu einer Universität, die das Debattieren und eine kritische Haltung fördert?

Miteinander über die Lehre zu sprechen, Dozenten und Studierende, das wäre der Anfang. Das setzt voraus, dass die Studenten auch mal offen sagen, was sie stört. Dass sie ihren Unmut nicht nur anonym in den Evaluationsbogen kundtun. Wenn die Studenten weiterhin nur diese Haltung einnehmen: „Hauptsache, ich komm da in drei Jahren durch“, wird sich nichts ändern.

Christiane Florin, Jahrgang 1968, studierte Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Musikwissenschaft in Bonn und Paris. Seit dem Sommersemester 2000 hat sie einen Lehrauftrag für politische Wissenschaft an der Universität Bonn. Im Hauptberuf ist sie Redaktionsleiterin von Christ &Welt der Wochenzeitung Die Zeit.

Christiane Florin versteht ihr Buch, das 2014 im Rowohlt-Verlag erschienen ist, nicht als „Abrechnung“ mit den heutigen Studierenden. Ihr geht es um eine kritische Einschätzung einer Situation, für die das Studiensystem eine hohe Mitverant­wortung hat.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2015: Vorwärts Leben