Frau Stahl, woran erkennt man eigentlich, ob ein Mensch bindungsängstlich ist?
Typische Symptome von Bindungsangst sind: Nach einer stürmischen Anfangszeit stellt sich der „Schwächenzoom“ ein, kleine Schwächen des Partners werden lupenhaft vergrößert wahrgenommen. Die Erwartungen des Partners nach Nähe, Verbindlichkeit und einer gemeinsamen Zukunft werden als einengend erlebt. Das sexuelle Verlangen lässt stark nach, und es stellen sich immer mehr Zweifel ein, ob der Partner, der richtige ist. Ab…
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lässt stark nach, und es stellen sich immer mehr Zweifel ein, ob der Partner, der richtige ist. Ab welchem Zeitpunkt der Fluchtimpuls den Bindungsängstlichen ergreift, hängt von der Ausprägung der Bindungsangst ab. Manche brechen schon beim Flirten ab, andere nach dem Einzug in die gemeinsame Wohnung. Manchen Bindungsängstlichen wird auch erst nach der Hochzeit schlagartig bewusst: „Jetzt sitze ich fest!“ Die Bindungsangst bricht zumeist dann aus, wenn die Beziehung eine bestimmte Stufe der Verbindlichkeit erreicht hat, so dass die Betroffenen das Gefühl befällt, in der Falle zu sitzen.
Sie sagen nun, jeder Mensch könne beziehungsfähiger werden. Wie geht das? Nehmen wir Ihr Beispielpaar Julia und Robert: Was können sie tun, um beziehungsfähiger zu werden?
Die beiden müssten im ersten Schritt reflektieren, welche Prägungen sie von ihren Eltern in Bezug auf die Themen Bindung und Autonomie übernommen haben. Hier könnten sie sich mit den Fragen befassen: Wie gut haben meine Eltern meine Bindungsbedürfnisse erfüllt? Wie gut haben sie meine Selbständigkeit unterstützt? Oder haben sie mir zu früh zu viel Selbständigkeit abverlangt? Welches Vorbild waren sie für mich im Umgang mit ihren eigenen Bindungsbedürfnissen und hinsichtlich ihrer eigenen Autonomie? Wie sind sie mit Aggressionen bei mir und bei sich selbst umgegangen? Am besten notieren sie die Beantwortung dieser Fragen schriftlich. Im nächsten Schritt könnten Julia und Robert nachspüren, welche Glaubenssätze sie durch das Verhalten ihrer Eltern in Bezug auf ihren Selbstwert entwickelt haben.
Auf welche Glaubenssätze könnten sie hier stoßen?
Man kann zwischen positiven und negativen Glaubenssätzen unterscheiden. Positive Glaubenssätze könnten sein: Ich werde geliebt. Ich genüge. Ich bin wichtig. Ich darf ich sein. Ich darf einen eigenen Willen haben. Negative Glaubenssätze könnten lauten: Ich bin nichts wert. Ich genüge nicht. Ich muss mich anpassen. Ich muss es allein schaffen. Ich falle zur Last. Unser Beziehungsprogramm und unser Selbstwertgefühl manifestieren sich in diesen Glaubenssätzen, sie sind sozusagen die Programmiersprache unserer Psyche.
Welche Folgen haben denn solche negativen Glaubenssätze?
Die Glaubenssätze gehen im negativen Fall mit Gefühlen der Wertlosigkeit einher, die uns zu Selbstschutzstrategien motivieren. Sehr weit verbreitete Selbstschutzstrategien sind beispielsweise Perfektions- und Harmoniestreben: Ich mache alles richtig und passe mich den Wünschen meines Gegenübers bestmöglich an. Ich suche also Schutz in der Bindung. Ich kann aber auch – unbewusst – genau die gegenteilige Strategie wählen, indem ich rebelliere und auf Distanz zu anderen Menschen gehe. Dann lasse ich keinen Menschen so nah an mich heran, dass er mir wehtun könnte – ich flüchte mich also in die Autonomie.
Was bringt mir das, wenn ich das alles erkenne? Ich kann die frühen Erfahrungen ja nicht ändern.
Wenn ich diese inneren Programme verstehe und vor allem verstehe, dass meine negativen Glaubenssätze gar nichts über meinen eigenen Wert aussagen, sondern lediglich etwas über das Verhalten meiner Eltern, dann kann ich sie auflösen und verändern. Hierfür ist ein anderer Anteil in unserer Persönlichkeit gefragt als das innere Kind, nämlich unser Erwachsenen-Ich, das eine Metapher für unseren klar denkenden Verstand ist. Die große, erwachsene Julia könnte also mithilfe dieser Übungen erkennen, dass ihr Kind-Ich sich verzweifelt bemüht, überautonome Männer wie Robert von sich zu überzeugen. Robert könnte erkennen, dass er auf jede Frau, die sich auf eine feste Beziehung zu ihm einlassen möchte, seine übergriffige Mutter projiziert. Die Devise für beide sollte lauten: ertappen und umschalten. Immer wenn sie sich dabei ertappen, dass sie wieder mit ihrem Kindheits-Ich agieren, sollten sie sofort einen kleinen Abstand einnehmen, indem sie auf ihr Erwachsenen-Ich umschalten. Im Erwachsenen-Ich können sie nämlich erkennen, dass sie gerade wieder in einer alten Kindheitsprojektion gefangen sind.
Dieses Umschalten vom Kind-Ich ins Erwachsenen-Ich stelle ich mir gar nicht so einfach vor. Wie kann das gelingen?
Für Julia wäre es hilfreich, wenn sie sich weniger abhängig von überautonomen Männern machte. Hierfür sollte sie ihre autonomen Fähigkeiten trainieren, indem sie mehr zu ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen steht und für sich eintritt. Sie sollte sich aus der Überanpassung befreien und lernen, sich selbst zu behaupten. Hierfür benötigte sie neue Glaubenssätze, die lauten könnten: „Ich bin okay.“ „Ich darf ich sein.“
Was Robert angeht – er müsste mehr Bindungsfähigkeiten erwerben. Hierfür sollte er Vertrauen in sich selbst und in seine Partnerin entwickeln, sich öffnen, mehr zuhören und sich in Empathie üben. Beide würden also genau jene Fähigkeiten in sich selbst entfalten, die sie früher bei ihren Partnern gesucht haben: Julia würde autonomer und Robert bindungsfähiger. Beide würden hierdurch in eine gute innere Balance kommen, in der sie sich sowohl selbst behaupten als auch anpassen könnten. Sie könnten also innerlich frei und in einer Beziehung sein, und dann könnten sie sogar miteinander richtig glücklich werden.
Stefanie Stahl arbeitet als Psychotherapeutin in freier Praxis in Trier. Sie ist Autorin zahlreicher psychologischer Sachbücher. Darunter: Das Kind in dir muss Heimat finden (Kailash 2015). Ihr aktuelles Buch Jeder ist beziehungsfähig. Der goldene Weg zwischen Freiheit und Nähe ist am 16. Oktober 2017 ebenfalls im Kailash-Verlag erschienen