Die Architektin Hanna Seiler (Name geändert) hatte bei einem Kundentermin den Bauingenieur Jens kennengelernt. Sie verliebten sich, und die 33-Jährige war überzeugt, endlich den Richtigen gefunden zu haben: Jens war witzig und liebevoll, er wollte sogar Kinder, genau wie sie. Doch als er nach einigen Monaten laut über eine gemeinsame Wohnung nachzudenken begann, spürte die Architektin, wie sich ihr Magen zusammenzog. Nachts grübelte sie, ob in einer gemeinsamen Wohnung noch genug Raum für sie bliebe und ob…
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ihr Magen zusammenzog. Nachts grübelte sie, ob in einer gemeinsamen Wohnung noch genug Raum für sie bliebe und ob Jens wirklich der Richtige sei. „Es ging mir schlechter und schlechter, ich hatte richtige Panikattacken“, erinnert sie sich an diese bedrückende Zeit. Sie zog sich zurück und beendete schließlich die Beziehung.
Was Hanna Seiler zum Zeitpunkt der Trennung nicht bewusst war: Sie gehört zu einer gar nicht so kleinen Gruppe von Menschen, die unter Bindungsangst leiden. Die Betroffenen sehnen sich zwar meist nach Nähe zu einem anderen Menschen, doch wenn es ernst wird, kommen ihnen Bedenken. Es ist typisch für Bindungsängstliche, dass sie „nach einer mehr oder minder kurzen Anfangsphase an der Beziehung, also an ihrem Partner oder ihrer Partnerin (ver-)zweifeln“, erklärt die Psychotherapeutin Stefanie Stahl. „Sie sehen die realen oder auch vermeintlichen Schwächen ihres Partners und reiben sich an der Frage auf, ob nicht doch ein anderer Partner besser passen würde.“
Die Angst vor Nähe kann sich ganz unterschiedlich zeigen. Oft „versteckt“ sie sich, erklärt Stahl. In ihrem Buch Jein! Bindungsängste erkennen und bewältigen skizziert die Expertin einige Prototypen bindungsängstlichen Verhaltens: Der Jäger etwa, der potenzielle Partnerinnen nur so lange interessant findet, wie sie unerreichbar sind, die Prinzessin, die stets Schwächen an ihren neuen Partnern entdeckt und dann die Beziehung beendet, der Maurer, der Nähe und Distanz in seiner Partnerschaft durch übermäßiges Arbeiten oder zeitintensive Hobbys reguliert.
Auch andere Strategien von bindungsängstlichen Menschen beschreibt die Psychotherapeutin, wie etwa die Flucht in die Untreue, die Flucht durch Fernbeziehung, die Flucht durch Gesprächsverweigerung oder auch die Wahl von unterlegenen Beziehungspartnern, um emotional unabhängig zu bleiben – alles effektive Methoden, um die als bedrohlich empfundene Nähe fernzuhalten und Distanz zum Partner zu schaffen. „Before I fall in love, I’m preparing to leave her“ (Ehe ich mich verliebe, bereite ich mich schon darauf vor, sie zu verlassen), singt der Sänger Robbie Williams in seinem Superhit Feel.
Dabei führen näheängstliche Menschen durchaus langjährige Beziehungen und kinderreiche Ehen, in denen sie aber auf Distanz bleiben müssen, um ihren Fluchtimpuls im Griff zu haben. „Der Bindungsängstliche hält immer einen gewissen Sicherheitsabstand, er lässt sich nicht wirklich auf einen Partner oder eine Partnerin ein oder vermeidet Beziehungen ganz“, erklärt Stefanie Stahl. „Dahinter steckt das tiefe und zumeist unbewusste Empfinden, dass er es tatsächlich nicht überleben würde, verlassen zu werden. Im tiefsten Inneren ist er davon überzeugt, dass es sein Tod wäre.“ Obwohl sich die Bindungsangst also anfühlt wie ein unbändiger Freiheitsdrang, verbirgt sich dahinter doch ein schmerzlicher Wunsch nach Liebe. Deshalb ist es verständlich, dass bindungsängstliche Partner sich in Partnerschaften zuweilen distanziert und ablehnend verhalten, gleichzeitig aber auch nicht trennen können.
Nicht nur die innere Flucht aus Beziehungen kann ein Indiz für Bindungsängstlichkeit sein. In ihrem erfolgreichen Ratgeber Nah und doch so fern beschreiben die Autoren Steven Carter und Julia Sokol einen weiteren, versteckteren Bindungsangst-Typ: den passiven Vermeider. Er ist aktiv auf der Suche nach einer Beziehung und wählt vorzugsweise Partner, die eigentlich nicht infrage kommen. Also verheiratete, bindungsunwillige oder unpassende Partner, die ihm nur wenig Gegenliebe entgegenbringen.
Wie Timothy, ein Gesprächspartner aus Carters und Sokols Buch, der stets Beziehungen mit jungen Models und Schauspielerinnen führt und dabei immer wieder enttäuscht wird. In seiner Selbstwahrnehmung gerät er stets an die Falsche, tatsächlich vermeidet er durch seine Partnerwahl aber das Entstehen echter Nähe. „Weil sie ja nichts tun, das irgendjemandem weh tut, fällt es passiven Vermeidern leicht, alle eigenen Probleme auf den Partner abzuwälzen“, schreiben Carter und Sokol. „Solange sie nicht bereit sind, wenigstens einen Teil der Verantwortung für ihre Entscheidungen zu übernehmen, sind sie dazu verurteilt, immer wieder die gleichen bösen Erfahrungen zu machen.“ Bei der Recherche zu ihrem Buch stellten die Autoren außerdem erstaunt fest, dass Menschen mit Bindungsproblemen sich oft in Beziehungen zusammenfinden – aus „aktiven Vermeidern“ und „passiven Vermeidern“ werden bisweilen bindungsphobische Paare, die im Kern der gleiche Konflikt vereint. Dass diese Beziehungen für beide Partner quälend und zermürbend sein können, liegt auf der Hand.
Angst vor Nähe: Welche Rolle spielen frühe Erfahrungen?
Hanna Seiler ist erst Jahre nach ihrer Trennung in einer Psychotherapie klargeworden, dass ihre Angst nichts mit Jens zu tun gehabt hatte, sondern mit ihren früheren Erfahrungen: mit einer launischen und manipulierenden Mutter, die ihre Tochter als Beziehungsersatz missbraucht hatte. Unbewusst fürchtete die Architektin, in einer Beziehung erneut vereinnahmt und besetzt zu werden. Also zog sie lieber selbst die Reißleine.
Unsere Bindungserfahrungen begleiten uns ein Leben lang. Das Urvertrauen, das wir brauchen, um enge Beziehungen genießen zu können, speist sich aus den ersten Lebensjahren, der Zeit, in der Menschen ihre allerersten Bindungen aufbauen. Erfahren Babys und Kleinkinder in dieser frühen Phase der Abhängigkeit, dass sie von ihren Eltern feinfühlig versorgt werden, entwickeln sie Vertrauen darin, dass auch andere Beziehungen – zu Erziehern, Lehrern, Freunden – Quellen von Geborgenheit sein können. Auch für das Gelingen späterer Partnerschaften sind frühe Beziehungserfahrungen ausschlaggebend – das haben Forschungen in den letzten Jahren gezeigt. Die renommierten deutschen Entwicklungspsychologen Karin und Klaus E. Grossmann untersuchten in einer 22-jährigen Längsschnittstudie 49 Familien in Bielefeld und konnten belegen, dass sich schon die Qualität der mütterlichen und väterlichen Fürsorge im Kleinkindalter als ausschlaggebend für die spätere Partnerschaftsqualität des Kindes erwies:
Diejenigen Kinder, die feinfühlige – also liebevolle, zugewandte und zuverlässige –Eltern erlebt hatten, entwickelten sich später zu Erwachsenen, die eine „sichere Partnerschaftsrepräsentation“ verinnerlicht hatten: Sie konnten enge Beziehungen als verlässliche Quellen der Geborgenheit schätzen und sich gut auf Partnerschaften einlassen. Kinder wenig feinfühliger Eltern hingegen hatten als Erwachsene größere Schwierigkeiten, sich auf Beziehungen einzulassen. Oft werteten sie die Bedeutungen von Partnerschaften ab oder hielten ihre Partner auf Abstand. Waren sie gar bindungsgestört, weil ihre Bezugspersonen ihnen häufig Angst machten, erlebten sie Beziehungen bisweilen als so bedrohlich, dass sie sie ganz mieden. Zwar hatten auch sie eine tiefe Sehnsucht nach Liebe – doch überwog bei ihnen die Furcht vor Verletzung oder Vereinnahmung in Beziehungen.
Drei frühkindliche Grundkonflikte können die Bindungsfähigkeit beeinträchtigen
Wer als Kind die ganz normale Abhängigkeit von den Eltern als bedrohlich oder schmerzlich erfahren hat, möchte sich als Erwachsener verständlicherweise in Beziehungen nicht öffnen und angreifbar machen. Die Psychotherapeutin Stefanie Stahl lässt in ihrem Buch einen ihrer Patienten zu Wort kommen, der zwar im Beruf viele Erfolge vorweisen, sich privat aber nicht auf enge Partnerschaften einlassen konnte. Der heute 60-Jährige war bei einer kriegstraumatisierten und gewalttätigen Mutter aufgewachsen, die ihn stets als Ballast empfunden hatte. Er beschreibt, wie schon kleinste Berührungen ihm Angstschweiß auf die Stirn trieben und aus Partnerschaften flüchten ließen. „Ich habe mir immer gesagt: Ich muss mich schützen“, berichtet er. „Ich darf mich nicht verführen lassen. Wenn ich mich öffne, bin ich verloren. Ich darf mich nicht in die Hand eines anderen geben. Letztlich bist du sowieso immer allein. Damit musst du fertigwerden. Der Selbstschutz ist das Wichtigste.“
Gerade die Fähigkeit zur Nähe, also zur tiefen emotionalen und körperlichen Verbundenheit, ist also ein wichtiger Gradmesser der Beziehungskompetenz eines Menschen. Der Psychoanalytiker und Psychosomatiker Gerd Rudolf beschreibt drei „Grundkonflikte“, die aus unterschiedlichen Phasen der ersten Lebensjahre resultieren und die Bindungsfähigkeit eines Menschen beeinträchtigen: den Grundkonflikt der Nähe, den depressiven Grundkonflikt und den Grundkonflikt der Autonomie.
Menschen mit dem Grundkonflikt der Nähe, erklärt Rudolf, erlebten schon in den ersten Lebensmonaten keine „kommunikative Verbundenheit“ mit ihren Bindungspersonen und konnten entsprechend nicht gut lernen, sich selbst wahrzunehmen und mit anderen mitzufühlen: Sie wehren Nähe ab, indem sie ihre Emotionalität und Körperlichkeit quasi „einfrieren“. Als Erwachsene fällt es ihnen schwer, sich überhaupt auf die kommunikativen zwischenmenschlichen Aspekte von Beziehungen einzulassen, oft verstehen sie gar nicht, wie sie oder ihre Partner „ticken“.
Der depressive Grundkonflikt hingegen entstammt laut Rudolf einer späteren Phase der frühkindlichen Entwicklung und stellt sich ein, wenn das Baby von seinen Bindungspersonen zu wenig Geborgenheit und Sicherheit erhält und „hungrig“ nach Liebe und Schutz bleibt. Noch als Erwachsene schwanken die Betroffenen dann zwischen einem großen Nähebedürfnis und einer riesigen Angst vor erneuter Enttäuschung, die schnell dazu führen kann, dass Partner nach der ersten Verliebtheitsphase entwertet werden.
Der Grundkonflikt der Autonomie schließlich entsteht im Kleinkindalter, wenn Kinder in ihrer Autonomieentwicklung stark begrenzt werden, also nicht unabhängig werden dürfen, sondern an die Eltern gebunden bleiben sollen. Diese Kinder finden – wie Hanna Seiler – später keinen guten Zugang zu ihren Bedürfnissen und stehen Partnerschaften deshalb ambivalent gegenüber: Weil sie sich innerlich schlecht abgrenzen können, fühlen sie sich schnell vereinnahmt und beenden deshalb oft abrupt die Beziehung. „Bindung zu den anderen wird als Sicherheit gebend ersehnt und zugleich als einengend und die Individualität zerstörend gefürchtet“, schreibt Gerd Rudolf.
Bleibt die Frage: Muss ein Bindungsängstlicher überhaupt in einer festen Beziehung leben, wenn Nähe für ihn so angstbesetzt ist? Stefanie Stahl rät Betroffenen nicht unbedingt zur Bindung – sondern plädiert für ein Durcharbeiten der Gefühle und Handlungen, die das eigene Bindungsverhalten steuern. „Jeder Mensch sollte die Verantwortung für sein Handeln übernehmen – gerade in Beziehungen – und sich irgendwann entscheiden, statt sich auf Kosten des Partners oder der ständig wechselnden Partner und Affären in einem ewigen Jein einzurichten“, erklärt Stahl.
Aufgabe der Bindungsängstlichen ist also, sich mit den Ursprüngen der Näheangst, also den bedrückenden Kindheitserfahrungen von Abhängigkeit und Ausgeliefertsein auseinanderzusetzen. Psychotherapie oder Paartherapie können auf diesem Weg gute Begleiter sein – aber auch die Partnerschaft kann dazu beitragen, Bindungsängste zu besiegen. Denn die gute Nachricht ist: Bindungsmuster können „überlernt“ werden. Menschen, die eher bindungsvermeidend orientiert sind, können in Beziehungen umlernen, in denen die Partner sensibel mit ihren Ängsten umgehen und ihnen genug Autonomie einräumen. Stück für Stück erkennen sie dann, dass vom neuen Partner keine Bedrohung ausgeht, und lernen, sich fallenzulassen.
Menschen hingegen, die zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und dem Wunsch nach Abstand schwanken, können ihr Bindungsmuster am besten in einer Beziehung mit einem in sich ruhenden Partner überschreiben, der Zuwendung bietet, aber gleichzeitig nicht allzu viele Erwartungen an sie stellt. Sogar wenn beide Partner bindungsunsicher sind, kann das Umlernen innerhalb einer Beziehung funktionieren, erklärt der renommierte Bindungsforscher Karl Heinz Brisch. Die Voraussetzung dafür sei allerdings, dass die Partner ihr Verhalten immer wieder reflektierten und einander spiegelten – und so das Bindungsmuster des anderen einzuschätzen lernten. Macht der Bindungsängstliche dann oft genug die Erfahrung, dass eine befürchtete Reaktion des Partners auf die eigene Verhaltensweise nicht eintritt, verändert sich das Bindungssystem in Richtung Sicherheit: Earnt security nennen Forscher dieses neu erworbene Bindungsmuster. Die ehemals Näheängstlichen erleben dann, dass Bindung nicht gleich Abhängigkeit bedeutet, sondern im Gegenteil frei macht: Wichtige Entscheidungen können aus einer inneren Balance heraus gefällt werden und nicht aus einer Angstreaktion heraus. Und die Liebesbeziehung spendet zum ersten Mal echte Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit.
Doch es wäre zu optimistisch, zu behaupten, dass sich alle Formen der Bindungsstörung durch eine Therapie oder neue Beziehung korrigieren lassen würden. Es gibt traumatische Bindungserfahrungen, die so stark in die Persönlichkeit der Betroffenen eingraviert sind, dass Beziehungen gänzlich vermieden werden müssen, um das Triggern alter Erinnerungen zu vermeiden. Von ihren Bindungspersonen missbrauchte Kinder zum Beispiel können als Erwachsene manchmal keine Partnerschaften mehr eingehen. „Menschen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen können zwar beruflich sehr erfolgreich sein und viele Freundschaften pflegen“, erklärt Karl Heinz Brisch. „Aber für einige von ihnen sind Themen rund um Körper, Intimität, Sexualität und Schwangerschaft tabu. Selbst wenn der netteste Mensch auf sie zukommt und in ihnen starke Sehnsüchte weckt, … sobald sie in den Arm genommen werden, bekommen sie eine Krise, auch nach einer langen Therapie.“ Andere wiederum schaffen es, trotz dieser Missbrauchserfahrungen gelingende Liebesbeziehungen einzugehen. Es gibt also kein Patentrezept, um Bindungsangst zu überlernen. Und auch in stabilen Beziehungen tauchen immer wieder mal Momente der Schwäche oder Bedürftigkeit auf, in denen Bindungsängstliche zurück in alte Verhaltensweisen fallen und Zweifel und Ängste verspüren. Wichtig ist aber, die eigenen Muster überhaupt erst einmal zu erkennen.
Zum Weiterlesen
- Stefanie Stahl: Jein! Bindungsängste erkennen und bewältigen. Ellert & Richter 2013
- Stefanie Stahl: Vom Jein zum Ja! Bindungsangst verstehen und lösen. Ellert & Richter 2014
- Karl Heinz Brisch: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Klett-Cotta 2013
- Steven Carter, Julia Sokol: Nah und doch so fern. Beziehungsangst und ihre Folgen. Fischer Taschenbuch 1998