Die Frau vor mir mit der modischen Kurzhaarfrisur wirkt bekümmert. Oder gar verzweifelt? Sie erzählt, dass sie sich davor fürchtet, von ihrem Partner verlassen zu werden. Vor allem wenn sie allein sei, überfalle sie die Angst.
Zunächst lasse ich mir ihre Situation ausführlich berichten. Ihr Partner, den ich hier Patrick nenne, lebt schon seit über zehn Jahren mit ihr und ihren beiden Kindern zusammen. Warum hat sie nach so langer Zeit Angst, verlassen zu werden, frage ich mich, will aber zunächst von ihr…
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frage ich mich, will aber zunächst von ihr wissen, wie die beiden zu Beginn ihrer Beziehung zusammenlebten. „Am Anfang war alles gut: Er war – und ist immer noch – freundlich und hilfsbereit“, berichtet die Klientin. Und dann erklärend: „Wissen Sie, meine Kinder sind nicht von ihm. Sie haben beide einen anderen Vater, der sich aber nicht um sie kümmert. Für mich zählte von Anfang an, dass mein neuer Partner liebevoll zu ihnen ist, dass er sie annimmt und gut behandelt. Sie waren ja noch klein damals. Vor Patrick hatte ich nämlich einen Freund, der selbst Kinder hatte, und ich merkte, dass er meine viel schlechter behandelt hat. Er war viel strenger zu ihnen und schlug sie sogar manchmal. Ihm war immer wichtig, dass seine Kinder möglichst jedes Wochenende zu uns kamen. Mich störte das nicht, obwohl ich sie nicht mochte. Aber wie er meine Kinder behandelte, das war letztlich der Grund, weswegen ich mich nach einigen Monaten von ihm getrennt habe.“weswegen ich mich nach einigen Monaten von ihm getrennt habe.“
„Also war Ihr jetziger Partner immer auch ein guter Vater für Ihre Kinder?“, will ich von ihr wissen. „Ja, durchaus“, bestätigt sie und fährt fort: „Meine Kinder sind bald erwachsen, sie sind 16 und 19 Jahre alt.“ „Erzählen Sie mir vom jetzigen Zusammenleben mit Ihrem Partner“, bitte ich sie. „Na ja, ich glaube, es ist ein ziemlich normales Zusammenleben“, sagt sie. „Patrick geht morgens in seine Praxis – er ist Arzt mit Schwerpunkt Naturheilverfahren – und kommt abends nach Hause. Ich bin Mitarbeiterin in einem pädagogischen Institut und habe nachmittags frei. Da kann ich mich um den Haushalt kümmern und früher natürlich auch um die Kinder.“ „Was läuft denn abends ab, wenn Ihr Partner nach Hause kommt?“, will ich wissen. „Als die Kinder klein waren, hat er mit ihnen noch eine Weile gespielt. Das geht jetzt natürlich nicht mehr. Susanne, meine Tochter, ist oft weg, und mein Sohn Jens verkriecht sich in seinem Zimmer und bereitet sich aufs Abitur vor.“ Also tatsächlich ein ziemlich normales Familienleben mit einem heranwachsenden und einem erwachsenen Kind, denke ich mir. Zwei Kindern, die bald aus dem Haus sein werden.
Genügt sie ihm – ohne Kinder?
„Wie stellen Sie sich denn die Zukunft vor?“, frage ich weiter. „Nun, Jens ist bald weg zum Studieren, und Susanne wird nach ihrem Abitur ein soziales Jahr im Ausland machen.“ Die Klientin wird dann mit dem Mann, der ein guter Vater für ihre Kinder war, allein sein, denke ich. Ob sie vielleicht Angst vor der Zukunft hat, Angst vor dem leeren Nest, das immer näher auf sie zukommt und das umso bedrohlicher ist, je leerer die Paarbeziehung ist? Dieser Zusammenhang wäre jedenfalls nicht außergewöhnlich. Als ich ihr meine Gedanken mitteile, bestätigt sie meine Fantasien. „Ja, jetzt fängt ein neuer Lebensabschnitt an“, meint sie. „Ohne die Kinder. Vielleicht werde ich beruflich aufstocken.“ Und dann: „Aber ich will auch einen Partner, der für mich da ist.“
Fürchtet sie vielleicht, dass sie ohne ihre Kinder wertlos ist? Dass ihr Partner sie deshalb verlassen könnte? Sie berichtet mir jetzt, dass Patrick keine eigenen Kinder haben kann und deshalb auch von seiner früheren Frau verlassen wurde. Ihm sind, Kinder also wichtig, überlege ich. Und wenn die Kinder nicht mehr da sind – fürchtet sie vielleicht, dass sie allein ihm nicht mehr genügt. Hat sie ein Selbstwertproblem? Ist das der Grund für die Ängste? Möglicherweise fühlt sie sich nur mit ihren Kindern vollständig. Sie ist vermutlich ganz in der Mutterrolle aufgegangen.
Vorsichtig teile ich ihr meine Überlegungen mit. Sie macht einen unentschiedenen Eindruck. „Geht es mehr um die leere Zukunft ohne Kinder oder um Ihre unerfüllten eigenen Bedürfnisse oder um beides?“, frage ich sie. Dann komme ich noch einmal zurück auf den Mann und frage sie, was ihr in der Beziehung fehlt. Sie denkt nach und meint dann nach einer Weile: „Ich glaube, früher habe ich ihn immer nur mit den Augen meiner Kinder gesehen. Und allmählich erst dämmert mir, dass schließlich ich mit ihm weiter leben muss.“ Ja, darum geht es, denke ich. Dann erfahre ich, dass er sehr mit sich beschäftigt ist, seine Sorgen um seine Patienten abends mit nach Hause bringt und darüber mit ihr redet und sie sich dadurch vernachlässigt fühlt. „Er kann also durchaus auch ohne die Kinder ein erfülltes Leben haben“, gebe ich ihr zu bedenken. „Er hat sich mit seinem Beruf eine Erfüllung geschaffen.“ Und sie? Braucht sie vielleicht tatsächlich noch etwas mehr an eigener Erfüllung? An Selbstwirksamkeit? Würde das ihre Angst vermindern?
Ich denke mir, dass es zielführender wäre, sich selbst erst klarzuwerden darüber, was genau ihr fehlt, was die Grundlage ihrer Angst ist. Ob es das Verlassenwerden oder die drohende Verlassenheit, die innere Leere ohne Kinder ist. Mit diesen Überlegungen entlasse ich sie aus der ersten Sitzung.
Margarethe Schindler ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet als systemische Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Tübingen.