Donnerstag, 12. Februar 2015: Nicole Beichel schreckt schweißgebadet aus ihrem Bett hoch. Sie ist in der 14. Woche schwanger, ein Wunschkind, auf das sie und ihr Mann anderthalb Jahre gewartet haben. Sie hat jedoch geträumt, dass die Frauenärztin feststellt, mit dem Köpfchen stimme etwas nicht. Hätte sie ihrem Partner den Traum nicht in einer SMS beschrieben, würde sie ihn im Nachhinein für Einbildung halten. Denn als die Frauenärztin am selben Tag mit dem Ultraschallkopf über ihren sich dezent wölbenden…
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dem Ultraschallkopf über ihren sich dezent wölbenden Bauch fährt, schaut sie die werdende Mutter mit großen Augen an: „Mensch, Frau Beichel, das Köpfchen ist nicht in Ordnung.“
In diesem Augenblick bricht für das Paar eine Welt aus Vorfreude, Hoffnung und Familienträumen zusammen. Teile des Gehirns könnten außerhalb des Schädels liegen, meint die Frauenärztin, dann sei das Kind nicht lebensfähig. Oder aber es sei nur eine Hautfalte, die sich operativ entfernen ließe. Nur ein Spezialist mit einem hochauflösenden Ultraschallgerät kann eine klare Diagnose stellen.
Der Tag darauf, Freitag, der Dreizehnte: Der Spezialist hat erst um 17 Uhr Zeit. Nicole Beichel und ihr Mann straucheln durch Stunden der Ungewissheit. Sie bangen und hoffen. Bei Nicole überwiegt allerdings die Angst: Wenn das Gehirn außerhalb des Schädels liegt, kann ihr Junge nicht leben. Aber was spürt er dann? Hat er Kopfschmerzen? Wut und Unverständnis graben sich in ihre Gedanken: Warum wir? Warum unser Kind? Andere werden ungewollt schwanger, trinken Alkohol.
Mit ihrer dunklen Vorahnung liegt sie leider richtig. Wichtige Teile des Gehirns, darunter das Atemzentrum, liegen außerhalb des Kopfes, erkennt der Spezialist. „Frau Beichel, dieses Kind wird niemals leben können. Sie können warten, bis es von allein stirbt. Man kann nicht sagen, wie lange das dauert. Aber spätestens bei der Geburt wird es versterben.“ Das Paar ist völlig außer sich und versucht zu begreifen, was gerade passiert. Fragen steigen auf, wie isolierte Blasen, die noch nicht in Verständnis gebettet sind. Was machen wir jetzt bloß? Der Arzt tendiert zu einem Abbruch, damit sie nicht so lange mit der Qual leben müssen. Soll er mit einem Krankenhaus schon einen Termin vereinbaren? Beichel wehrt ab. Sie ist dermaßen überwältigt von ihren Gefühlen, dass sie nichts entscheiden kann.
Der Schock des völlig Unerwarteten
Viele Schwangere gehen zu den Spezialuntersuchungen vor der Geburt, etwa der hochauflösenden Ultraschalldiagnostik, ohne auch nur einen Gedanken daran, was sie bei einer Auffälligkeit tun würden. Einer Untersuchung der Psychologin Anke Rohde von der Abteilung Gynäkologische Psychosomatik des Universitätsklinikums Bonn zufolge hatten sich knapp 40 Prozent der Frauen, die sich später wegen eines auffälligen Befundes psychosozial beraten ließen, keine Gedanken über eine Erkrankung ihres Kindes gemacht. Zwar ist die Angst vor einer Behinderung ein wichtiges Motiv für pränatale Tests, wie eine Erhebung von Monika Willenbring von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin zeigt. Aber vordergründig wollen die meisten nur schauen lassen, „ob alles in Ordnung ist – und schöne Bilder vom Baby haben“ sagt Jette Brünig von der psychosozialen Beratungsstelle donum vitae in Berlin. Laut einer repräsentativen Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 2006 nehmen 85 Prozent der Schwangeren vorgeburtliche Untersuchungen in Anspruch, die über die normale medizinische Vorsorge hinausgehen. Meist wüssten die Frauen jedoch kaum etwas über Sinn, Zweck und mögliche Konsequenzen.
Deshalb zerstört ein beunruhigender diagnostischer Befund fast immer unvorbereitet die freudige Erwartung, bald Familienzuwachs zu bekommen. Gisela Herd hat dies genauso wie Nicole Beichel erleben müssen und erinnert sich an diesen Moment so: „Ich hatte eine wunderbare Schwangerschaft. Man freut sich einfach auf das Kind, die Welt dreht sich ganz normal. Dann heißt es, Ihr Kind hat einen Herzfehler. Wir waren sofort in einem Schockzustand und konnten keine Informationen mehr aufnehmen.“
Gezwungen zu sein, eine erwünschte Schwangerschaft infrage zu stellen, ist allen Studien zufolge ein schweres psychisches Dilemma. Die Schwangerschaft teilt sich jäh in eine hoffnungsfrohe Zeit vor dem pränatalen Befund und eine psychisch belastende Zeit danach. Denn plötzlich steht für viele Paare ein Abbruch zur Diskussion. Bei einem Downsyndrom entscheiden sich beispielsweise rund 90 Prozent der Paare gegen das Kind. Leicht fällt dieser Entschluss jedoch nie. Brünigs Kollegin, die Psychologin Anne Achtenhagen von der Berliner Beratungsstelle donum vitae betont: „Es ist mit das Schwerste, was man im Leben entscheiden können muss. Diese Entscheidung ist immer hochambivalent.“
Bis sie zu einem Entschluss gelangen, durchlaufen die Paare unterschiedliche Phasen intensiver Gefühle: Ein auffälliger oder auch nur unklarer Befund versetzt sie zunächst in einen tiefgreifenden Schock. Die positive Haltung zur Schwangerschaft ist dahin. Die meisten wollen so rasch wie möglich aus dieser Situation flüchten und deshalb schnell entscheiden. Sie verfallen in Aktionismus. Andere jedoch sind vor Schrecken wie gelähmt.
Schlimme Phase der Ungewissheit
Marion Baldus, Erziehungswissenschaftlerin an der Hochschule Mannheim, hat die Psychodynamik des Prozesses bei zehn Paaren eingehend untersucht, bei deren Kind ein Downsyndrom diagnostiziert wurde. Der Erstbefund ist bei der Trisomie 21 zunächst ein ungewisser Verdacht: Ein Blutwert ist erhöht oder die Nackenfalte verdickt. Erst eine Fruchtwasseruntersuchung wird Klarheit bringen. Dazwischen liegt für die Paare eine fürchterliche Phase der Ungewissheit – kein seltener Fall in der Pränataldiagnostik. Der uneindeutige Befund gibt jedoch auch Raum zu Hoffnung. Es könnte ein Fehler unterlaufen und beispielsweise zu einer Verwechslung der Blutprobe gekommen sein. Auch Gisela Herd und ihr Partner suchen nach der Erstdiagnose „Herzfehler“ im Geiste nach dieser rettenden Insel: „Wir haben uns gesagt, dass das Gerät nicht richtig funktioniert oder unser Kind nicht richtig gelegen hat. Wir haben jeden Faden festgehalten, der sich uns bot.“ Tatsächlich kommt es manchmal vor, dass sich die Nachricht als Fehlalarm herausstellt, berichtet die Psychologin Gabriele Hess von der Evangelischen Beratungsstelle für Schwangerschaft, Familie und Sexualität in Essen. Die Wartezeit bis zum abschließenden Befund belastet die meisten Paare immens und erschüttert die Bindung zum Ungeborenen.
Trotz Tests lässt sich die Diagnose jedoch manchmal nicht exakt fassen. Es ist fast immer unmöglich, exakte Prognosen über die Lebensdauer und Lebensqualität des Kindes zu stellen. Schon ein Downsyndrom kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Manche Kinder haben Herzfehler oder Nierenschwächen, andere nicht. Veränderungen des Gehirns erlauben oft gar keine Rückschlüsse, erläutert der Berliner Pränataldiagnostiker Andreas Hagen: „Vielleicht kann das Kind später nie einen Löffel halten. Vielleicht wird es aufs Gymnasium gehen.“
Nach der Diagnose fällt es den Paaren schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die von Baldus befragten Frauen beschrieben ihr Gefühl mit Worten „… als wenn einer stirbt“ oder „Jetzt scheint das Leben für immer vorbei – nie mehr lachen, nie mehr unbeschwert sein können“.
Schwangere, die sich bis dahin oft eins mit ihrem Kind fühlten, nehmen eine spürbare Entfremdung wahr. Einige Frauen deuten es als Versagen ihrer Weiblichkeit, dass sie kein gesundes Kind in sich tragen. Sie schämen sich und ziehen sich sozial zurück. „Bei einigen entstehen Fantasien, dass etwas Monströses, Bedrohliches in ihnen heranwachse“, sagt Baldus.
Alle Paare quälen sich jedoch mit der Entscheidung für oder wider ihr Kind. Der Prozess ist vergleichbar mit dem klassischen vierstufigen Prozess eines Krisenmodells, wie es etwa der schwedische Psychiater Johan Cullberg beschrieben hat. Phase eins: Ein kritisches Ereignis bringt die Partner an die Grenzen des Tragbaren und kann nicht mit bewährten Bewältigungsstrategien beantwortet werden. Das löst in der zweiten Phase Angst, Orientierungslosigkeit und Handlungsunfähigkeit aus. In der dritten Phase bricht die Trauer ein. Doch spätestens in dieser Phase beginnen die Paare nach Auswegen zu suchen, sich also damit zu befassen, ob sie ihr Kind austragen wollen oder nicht. In der vierten Phase kristallisiert sich dann der einzuschlagende Weg heraus, auf den sich die Wahrnehmung zusehends verengt. Dieser Prozess kann jedoch eine unterschiedliche Reflexionstiefe und Dauer einnehmen.
Kopfkino von der Zukunft
Im Entscheidungsprozess selbst spielen ganz unterschiedliche Aspekte eine Rolle: Für fast alle Paare stehen das Leid und Wohlergehen und die Zukunftsperspektive des Kindes im Mittelpunkt, so Achtenhagen. Doch Fragen wie „Wird mein Kind einmal allein für sich sorgen können?“ lassen sich oft mangels gesicherter medizinischer Prognose nicht beantworten. Vorstellungen dazu sind fast immer Kopfkino. In der Imagination blühen dann die Ängste auf. Ähnlich verhält es sich mit den anderen Entscheidungsdimensionen wie etwa der Frage, ob die Geburt eines behinderten Kindes für die Familie emotional, beruflich und finanziell tragbar wäre. „Auch wenn es selten ausgesprochen wird, hat die Entscheidung auch immer mit der Selbsteinschätzung und dem eigenen Menschenbild zu tun“, sagt die Psychologin. Es geht darum, wie viel Krankheit für jemanden zum Menschsein gehört, ob sich jemand einer vorgestellten Belastung gewachsen fühlt und wie man vor anderen dastehen möchte.
Alle Entscheidungsdimensionen sind durchwirkt von ethischen Fragen. „Werdende Eltern sind nicht dazu geschaffen, über Leben und Tod ihres Kindes zu entscheiden. Damit verbunden ist das Empfinden einer kaum aushaltbaren Schuld und Verantwortung“, so Achtenhagen. In der Beratung könnten sie diese schwierigen Gefühle aussprechen. „Wenn man durch dieses Tal hindurchgeht und nichts verdrängt, hat der Entschluss die Chance, in das Leben integriert zu werden“, weiß Achtenhagen aus Erfahrung.
Nicole Beichel erzählt noch an jenem Freitagabend ihrer Mutter, dass ihr Baby im Bauch sterbenskrank ist. „Ich wollte es einmal aussprechen, außerhalb des geschlossenen Bereichs mit meinem Partner, damit ich weiß, dass es wahr ist“, sagt sie. „In dem Moment wusste ich: Jetzt muss ich handeln.“ Tags darauf bricht das Paar an die Ostsee auf, einen Ort, an dem sie gerne sind, um dem Alltag und Freunden zu entfliehen. Sie mieten ein Hotelzimmer, sitzen auf dem Sofa, gehen lange am Strand spazieren und reden. Sie arbeitet als Kinderkrankenschwester auch mit schwerstbehinderten Kindern und wusste nie, ob sie ein Baby mit Behinderung abtreiben könnte. Beide haben sich gegen das Ersttrimesterscreening zur Abklärung eines Downsyndroms entschieden, weil sie fanden, dass man nicht zwischen lebenswertem und unwertem Leben sortieren darf. Doch das Baby in ihrem Bauch ist dem Tod geweiht.
Sie stimmen schließlich in einem Gedanken überein: „Wir wollen die Schwangerschaft nicht auf die Gefahr hin beibehalten, dass unser Kind leidet.“ Die Vorstellung, dass es dem kleinen Jungen schlecht gehen könnte, nur weil sie „zu schwach sind, nein zu sagen“, nimmt in den Gesprächen immer mehr Raum ein.
Chaos statt Beratung
Mit dem Entschluss bricht die Trauer über den bevorstehenden Verlust ein. Zugleich keimt auch Angst vor dem Abbruch auf, der schon am Donnerstag, also eine Woche nach der Diagnose, in Form einer eingeleiteten Geburt erfolgen soll. Die Beichels kennen jedoch nicht alle Details des Vorgangs, weil sie keine psychosoziale Beratung bekommen haben, was sich als folgenschwere Lücke erweisen soll.
Alle Paare, die sich einer pränatalen Diagnostik unterziehen, haben per Gesetz Anspruch auf eine psychosoziale Beratung (siehe Kasten). Erfahrene Beraterinnen helfen, Gedanken und Gefühle zu sortieren, und informieren detailliert über alle bevorstehenden Schritte, bis hin zu Fragen, wie das Kind beerdigt werden kann und wie man Kollegen und Freunde hinterher informiert. Doch viele Paare wissen wie die Beichels nichts von dieser Möglichkeit, weshalb nur wenige von ihnen die Zentren von donum vitae, von der Arbeiterwohlfahrt oder pro familia aufsuchen.
Dienstag, 17. Februar 2015: Zwei Tage vor dem Abbruch klärt die Beichels ein Arzt im Schnelldurchlauf über den Abbruch auf. Nicole soll Medikamente nehmen, damit die Durchblutung zum Kind so weit reduziert wird, dass es sich leichter aus der Gebärmutter löst. Sie begreift, dass sie Medikamente nehmen wird, damit ihr Kind stirbt, und dass sie damit ihr Kind umbringt. Auf ihren eigenen Wunsch hin. Der Arzt huscht unterdessen durch einen Fragebogen: Wollen Sie Ihr Kind nach der Geburt sehen? Wie soll Ihr Kind beerdigt werden – in einer Klinikbestattung oder privat? „Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt“, entgegnet Beichel, zusehends um Fassung ringend, und fängt schließlich an zu weinen. Ihr Partner greift ein und bittet, die Beantwortung der verbliebenen Fragen auf Donnerstag zu vertagen. Die drei Tabletten nimmt Nicole Beichel an diesem Tag trotzdem. Aber die Schuld lastet schwer auf ihr. Bringe ich mein Kind um, obwohl ich es liebe?
Die Gefühle und Gedanken bis zur Entscheidung sind fast nie eindeutig, sondern bei den meisten Paaren ambivalent. Das Ausmaß dieser Zwiespältigkeit macht eine Befragung an 352 Paaren von Anke Rohde vom Universitätsklinikum Bonn deutlich: Neben Niedergeschlagenheit und Verzweiflung beschrieben 67 Prozent ein starkes Gefühl des Hin- und Hergerissenseins.
Gisela Herd und ihr Partner entschließen sich nach reiflicher Überlegung dagegen, ihr Kind auszutragen, bei dem in der Fruchtwasseruntersuchung ein Gendefekt als Ursache des Herzfehlers gefunden wird. Trotzdem hat sie während des Abbruchs in Form einer eingeleiteten Geburt etliche Male die Fantasie, auf die Toilette zu rennen und aus dem Fenster zu steigen, um der Situation zu entfliehen. „Es ist das Brutalste, was wir erlebt haben. Herz und Ratio haben verschieden gesprochen“, sagt sie. „Das Herz ist immer für das Leben.“
Nicole Beichel fällt nach dem Vorgespräch mit dem Arzt in eine neue Phase der Ambivalenz. Ihr Mann nimmt in dieser Krisensituation den stützenden, pragmatischen Part ein. 2013 untersuchte die Psychologin Carolin Gersthahn an der Universität Bonn in ihrer Doktorarbeit erstmals die Rolle der Väter bei der Entscheidung nach einer Pränataldiagnostik. Oft tendieren sie eher zu einem Abbruch, während die Frauen infolge der engeren leiblichen Bindung zum Kind damit hadern. Gersthahn befragte zehn Paare, die sich für die Fortsetzung ihrer Schwangerschaft, und zehn Paare, die sich dagegen entschieden hatten. Verglichen mit den Frauen, reagierten die Männer rationaler und weniger gefühlsbetont. Sie versuchten, der Partnerin eine Stütze zu sein. Zugleich suchten sie rascher und häufiger nach Bewältigungsstrategien, etwa nach einem Arzt für eine Zweitmeinung oder nach Informationen im Internet. Oder sie organisierten den Alltag, um nicht aus dem Tritt zu geraten.
Gersthahn erlebte die Väter als verantwortungsvoll. Das Wohlergehen ihrer Partnerin habe an erster Stelle gestanden. Und doch überließen die meisten das letzte Wort der Frau, weil sie aus der körperlichen Nähe von Mutter und Kind und ihrem Mutterverständnis eine höhere Entscheidungsbefugnis, aber damit auch Verantwortung ableiteten. Gabriele Hess warnt allerdings davor, wenn Männer die Entscheidung ganz der Frau anheimstellen, was in der Praxis ebenfalls vorkomme. „Die Frauen fühlen sich dann im Stich gelassen. Für den Rückhalt und die Stabilität in der Partnerschaft ist ein gemeinsamer Entschluss wichtig.“
Die meisten Paare bringt die schwere Krise näher zusammen, hat Jette Brünig über viele Jahrzehnte der Beratung beobachtet. Nicole Beichel kann das bestätigen: „Es ist tiefer geworden zwischen uns. Wir haben gelernt, anders miteinander zu reden. Und wir haben Ängste ausgesprochen; ich, dass ich schuld an unserem kranken Sohn bin, und er, dass er es kaum ertrug, mich so leiden zu sehen.“ Allerdings sind auch Trennungen infolge abweichender Meinungen bekannt.
Der Umgang mit der Trauer beeinflusst die Bewältigung
Viele werdende Eltern glauben, dass die Krise mit einem Abbruch ausgestanden ist – ein fataler Fehlschluss. Um Nicole Beichel wird es sehr dunkel nach jenem Donnerstag. Es ist ihr egal, ob sie duscht oder nicht. Sie hat gerade ihr Kind verloren. Warum soll sie Freunde sehen oder mit der Familie telefonieren? Sie hat gerade ihr Kind verloren. Sie kann nicht arbeiten, sie kann nicht aus dem Bett. Sie hat gerade ihr Kind verloren. Vom Schlafzimmer bis ins Wohnzimmer zu schlurfen kostet sie alle verbliebene Kraft. Sie quält sich mit der Frage, wo ihr Sohn jetzt ist. Liegt er irgendwo in der Klinik herum – vielleicht in einem Gefrierfach? Denn an jenem Donnerstag, als er tot geboren wurde, hatten sie sich gegen eine private individuelle Beerdigung entschieden, weil sie glaubte, die nötige Kraft dafür nicht zu haben. Dass alle jetzt sagen, du bist doch noch so jung, du kannst viele Kinder bekommen, steigert ihre Trauer nur noch. Sie fühlt sich unverstanden.
Oft kommen die Bilder, die Tränen und der Schmerz um das verlorene Wunschkind erst mit dem Abbruch, berichtet Anne Achtenhagen. „Je schneller ein Paar zuvor entschieden hat, desto größer ist die Gefahr, dass es hinterher lange in einem krisenhaften Auf und Ab damit zu tun bekommt.“ Aber auch der Umgang mit der Trauer und dem Abschied beeinflusst die Bewältigung.
„Vor einigen Jahren noch wurde das abgetriebene Kind den Frauen weggenommen – bloß keine Bindung aufbauen, hat man gedacht. Die Leichname wurden mit dem Klinikmüll entsorgt. Schnell wieder schwanger werden, riet man“, sagt Achtenhagen. Sie wie auch die Kolleginnen aus anderen Beratungsstellen erwähnen immer die Möglichkeit zur individuellen Bestattung. „Dann haben die Paare einen eigenen Ort für ihre Trauer.“
Weil Nicole Beichel in einer Depression zu versinken droht, führt sie nun ihr Weg zu donum vitae in Berlin. Achtenhagen regt an, die Klinik um die Herausgabe des Leichnams zu bitten. Das könnte ihr ermöglichen, ihre nicht ausgelebte Liebe zum Ausdruck zu bringen, indem sie den Sarg und die Beerdigung ihres Kindes individuell gestalten.
Zur besseren Trauerverarbeitung ermutigen die Beraterinnen die Paare auch, ihr Kind nach der Geburt zu sehen und anzufassen, eine Haarsträhne abzuschneiden oder ein Foto zu machen und sich würdevoll zu verabschieden. „Sie entdecken dann: Das hat etwas von dir oder von mir. Wenn es diesen zwischenmenschlichen Bezug gibt und das Kind kein Phantom bleibt, können sie es später leichter gehenlassen“, erläutert Achtenhagen.
Im April 2015 bestatten die Beichels im Kreise ihrer Familie ihren Sohn auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin. Ein großer Bereich dieses Friedhofs ist nur für Sternenkinder reserviert, also Kinder, die bei einer Fehlgeburt oder einem Abbruch verstorben sind. Eine Kapelle spielt bei der Beisetzung.
„Es geht uns viel besser, auch wenn es immer noch einzelne Tage gibt, an denen wir tieftraurig sind“, sagt Beichel. Manchmal fragen sie sich, auf dem Sofa sitzend, wie alt er jetzt wäre und ob er sie auf Trab halten würde. Aber inzwischen ist Nicole Beichel unerwartet wieder schwanger. In diesen Tagen entbindet sie ihr zweites Kind.
Die Redaktion dankt den beiden Paaren, die unserer Autorin Susanne Donner so mutig von ihrer schweren Zeit erzählt haben. Die Namen haben wir verändert.
Das Recht auf Beratung
Was psychosoziale Beratung leistet:
• Unterstützung bei der Entscheidung für oder gegen ein möglicherweise behindertes Kind
• In einem geschützten Rahmen können Eltern über Hoffnungen und Ängste sprechen
• Aufklärung und Information zum Leben mit einem behinterten Kind
Wertvolle Informationen gibt auch die Broschüre „Schlechte Nachrichten nach vorgeburtlicher Untersuchung“, die der Verein Psychosoziale Aspekte der Humangenetik (www.vpah.de) herausgibt. Onlinebestellung unter anmeldung@medizinische-genetik-dresden.de.