Was immer war und was nie

Mariana Lekys Onkel gibt seine Praxis als Psychoanalytiker auf – samt Couch, zu der unsere Kolumnistin schon als Kind eine besondere Beziehung hatte.

Die Illustration zeigt eine sitzende Frau im Kopf eines bärtigen Mannes, der eine Kassette mit Bandsalat in den Händen hält
Couch, Kassetten, Seelenheil: Jeden Dienstag kam Mariana Leky früher in die Praxis ihres Onkels. © Elke Ehninger

Seit Tagen sind wir damit beschäftigt, die Praxis meines Onkels auszuräumen. Mein Onkel war fast dreißig Jahre lang Psychoanalytiker, nun soll Schluss sein.

Wir sind fast fertig. Nur die Couch, auf der die Patienten lagen, steht noch da. Darauf sitzt jetzt mein Onkel, erschöpft vom Herausräumen und vom Abschiednehmen. Die Regale abbauen, die Bücher wegpacken, die Teppiche einrollen: all das ging einigermaßen. Sogar von dem Sessel, auf dem mein Onkel immer saß, schräg hinter der Couch, konnte er sich mit…

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dem mein Onkel immer saß, schräg hinter der Couch, konnte er sich mit Fassung trennen. Die Couch aber fällt ihm sehr schwer. Mein Onkel schaut, als würde nicht das alte Möbel, sondern er selbst gleich auf den Sperrmüll gebracht.

Ich sitze auf dem Boden und schrubbe mit einer alten Zahnbürste Heizkörperrippen sauber. Mein Onkel starrt auf die jetzt kahlen Wände. Man sieht die Schatten der ­Regale, der Bilder, die da gehangen haben, vereinzelte Dübel stecken noch in der Wand, und all das weist uns wenig subtil darauf hin, dass etwas, das jahrzehntelang da war, schnurstracks weg sein kann.

Am Ende des Lebens

„Am unvergesslichsten waren die Wände“, sagt mein Onkel mit brüchiger Stimme, „das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren.“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass das ein Zitat von Rilke ist. Mein Onkel zitiert gern Rilke, auf Familienfeiern, insbesondere bei Beerdigungen, und in seinen Augen sind wir gerade so gut wie in einer Beerdigungssituation.

Ich setze mich mit der verdreckten Zahnbürste neben ihn auf die Couch. „Weißt du was“, sagt mein Onkel, „ich glaube, ich bleibe einfach für immer hier sitzen.“ Ich streiche ihm über den Rücken. „Du bist ein Analytiker, der auf seiner eigenen Couch in einen Sitzstreik tritt“, sage ich, und mein Onkel ­lächelt, aber nur kurz. „Das alles hier kommt nie wieder“, sagt er, „diese Couch wird in wenigen Stunden für immer weg sein“, und mir fällt ein, dass es mein Onkel war, der mir sagte, man habe kein Recht, von immer oder nie zu sprechen, bis man ganz am Ende seines Lebens angekommen sei, weil man nur von dort aus beurteilen dürfe, was immer war und was nie.

Die Couch, die heute ihr Lebensende erreicht hat und daher über nie und immer befinden dürfte, ist mit nachtblauem Breitcord bezogen. Angesichts der ekligen Zahnbürste in meiner Hand frage ich meinen Onkel lieber nicht, ob sie in all den Jahren auch nur einmal gereinigt worden ist.

Vom Ausbessern der Seelen

Ich kenne diese Couch gut, seit meiner Kindheit. Als ich in der Grundschule war, passte mein Onkel jeden Dienstagmittag auf mich auf, und oft hatte er noch Sachen zu erledigen, wenn ich nach der Schule zu ihm in die Praxis kam. Er saß dann an dem Schreibtisch, der jetzt weg ist, und ich legte mich auf die Couch, ohne Schuhe, weil meine Beine längst nicht an die Fußmatte am Ende der Couch heranreichten. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, welchen Leuten mein Onkel heute wieder „etwas an der Seele ausgebessert“ hatte; irgendwer hatte mir gesagt, dass es das war, was mein Onkel tat. Dementsprechend nahm ich an, dass man Seelen ausbessern konnte wie Strümpfe oder Regenrinnen.

Ich erinnere mich, dass ich mir oft einen Bildband über Wale angesehen habe. Mein Onkel hatte viele Bücher über Tiere in seiner Praxis – ein Psychoanalytiker, fand er, muss sich mit den verschiedensten Säugetieren auskennen. Ich erinnere mich, dass mich die Ausmaße eines Wals weniger erstaunten als die Tatsache, dass sein Herz mitunter nur zweimal pro Minute schlägt.

Ich erinnere mich, dass mein Onkel am Schreibtisch manchmal Kassetten hörte, Mitschnitte von den Sitzungen mit seinen Patienten. Ich erinnere mich an keinen einzigen Satz daraus, aber an das viele Schweigen auf den Kassetten und an das Klickgeräusch der Pause-Taste, wenn mein Onkel etwas notieren wollte, und ich erinnere mich sehr gut an die ausführlichen Flüche meines Onkels, wenn es Bandsalat gab und er versuchte, das braune Magnetband voller verhedderter Traumerzählungen und Schweigen zu entwirren.

Ereignisloses Leben, spektakuläre Träume

Ich erinnere mich auch, dass ich mir eines Dienstags in der Schule Läuse eingefangen hatte. Ich hinterließ die Läuse auf dem Kopfende der Couch, von wo aus sie auf die Köpfe der Patienten übersiedelten. Es dauerte eine Weile, bis mein Onkel sich erklären konnte, warum sich die Dienstagabendpatienten allesamt so ausgiebig am Kopf kratzten.

Jetzt, wo wir nebeneinander auf der Couch sitzen, frage ich meinen Onkel, ob er sich an seinen allerersten Patienten erinnern kann. „Selbstverständlich“, sagt mein Onkel. „Es war ein junger Mann, der sein Leben ereignislos fand.“ Er seufzt. „Aber seine Träume – die waren spektakulär.“

Wir lehnen uns zurück, wir lehnen windschief da, wir sind sehr müde. Ich streiche mit der Hand über den struppigen blauen Breitcord und frage mich, wie viele Verstrickungen, Lösungen, Träume, wie viel Läuse, Schweigen und Hosen hier schon gelegen haben.

Eine Couch mit Herz, Rilke und ein Wal

Und dann schlafen wir beinahe gleichzeitig ein, mein Onkel und ich. Ich höre noch, wie er murmelt: „Wie ist das klein, womit wir ringen, was mit uns ringt, wie ist das groß“, und das ist jetzt definitiv Rilke, und dann rutscht mir die Zahnbürste aus der Hand, und dann träume ich auch was.

Ich träume, dass die blaue Breitcordcouch die Ausmaße eines Blauwals annimmt. Ich träume, dass sie, mit meinem Onkel und mir darauf, langsam angehoben wird von der Flut aller Träume aller Patienten, die in diesem Zimmer erzählt wurden, und auch das Schweigen der Patienten, das Best of Schweigen aus drei Jahrzehnten schwemmt die Couch und uns hoch. Ich träume, dass die Couch ein Herz hat, das mitunter nur zweimal pro Minute schlägt. Ich träume, dass der Seegang mäßig ist, wir dahingleiten, dass mein Onkel lächelt und „spektakulär“ sagt – und dann noch irgendetwas, das nur im Traum von Rilke ist.

Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit vielen Wochen in den Bestsellerlisten. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen ­Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2019: Stille