In meiner Ursprungsfamilie ist es ein Ritual, einander einmal im Jahr gründlich zu verschaukeln. Ich kenne keine andere Familie, in der die Sitte „Aprilscherz“ so ernst genommen wird wie bei uns – Wochen zuvor wird bereits fieberhaft überlegt, wie man wen am sichersten in den April schicken kann. Die Vorstellung, niemanden hineinzuschicken oder selbst nicht geschickt zu werden, ist sehr trübe; als müsste man selbst oder ein naher Verwandter sich dann für immer in einem nichtssagenden März zurechtfinden.
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ein naher Verwandter sich dann für immer in einem nichtssagenden März zurechtfinden.
Beim Aprilscherz geht es darum, mittels einer exakt auf ihn zugeschnittenen Erfindung das Herz des anderen kurz in seine Hose rutschen zu lassen – und ihn dann mit Erleichterung zu begießen. Das Phänomenale ist, dass wir alle, meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und ich, tatsächlich immer wieder hereinfallen; obwohl wir seit Jahrzehnten wissen, was uns am ersten April blüht, und deshalb besonders argwöhnisch sind. Wahrscheinlich liegt das an dem Wunsch, unbedingt hereinfallen zu wollen.
Als ich in Berlin gerade mit Ach und Krach meinen Führerschein gemacht hatte (sehr spät, ich war Anfang vierzig), rief am ersten April mein Bruder an und gratulierte mir herzlich und wortreich – schade sei es nur, sagte er beiläufig, dass in Berlin erworbene Führerscheine ja ausschließlich in Berlin und Brandenburg gültig seien. Ich glaubte das und erschrak und freute mich dann sehr. Meinem Vater, der am liebsten allein ist und sich, wenn überhaupt, nur mit den unvermeidlichsten Menschen umgibt, erzählte ich dieses Jahr, dass ich seinen sehr gesprächigen Schulfreund Franz getroffen habe, der um eine psychologische Beratung durch meinen Vater gebeten habe, weswegen ich ihn spontan zu meinem Vater eingeladen habe, Franz bleibe über Nacht und bringe seine ebenfalls beratungsbedürftige Enkelschar mit. Mein Vater glaubte das und erschrak und freute sich dann sehr.
Ein heikles Geschäft
Auch wegen unserer Lust am Aprilscherz haben mein Bruder und ich eine Leidenschaft dafür, unsere nahe Verwandtschaft an runden Geburtstagen aufwendig zu überraschen. Das ist natürlich ein heikles Geschäft. Zum 60. Geburtstag meiner Mutter haben wir den Fehler gemacht, ihr eine Überraschungsparty zu kredenzen – noch Jahre später hat meine Mutter uns das verübelt, weil sie sich aufs Unschönste überrumpelt fühlte, weil sie sich vorher nicht zurechtmachen konnte und mit ungewaschenen Haaren in eine Meute herausgeputzter Gratulanten stolperte. Wir haben aus unserem Fehler gelernt: Eine Überraschung muss immer in einem kleinen Kreis passieren, in dem man sich auch ungeduscht wohlfühlt.
Am 70. Geburtstag meiner Mutter waren wir versierter. Meine Mutter war in ihrer Jugend eine begeisterte Reiterin, und immer mal wieder seufzte sie, dass sie gerne noch mal reiten würde. Also planten wir, meine Mutter mit einem Ausritt an der Nordsee, ihrem Lieblingsmeer, zu überraschen; ein Reiter mit zwei Pferden sollte den Strand entlanggeritten kommen und meine Mutter bitten, aufzusitzen.
Aufwendige Geburtstagsüberraschungen organisiert man nicht aus Selbstlosigkeit, sie erheben auch die Überraschenden. Als der Plan stand, ging es bei meinem Bruder und mir zu wie auf einem Raketenstartgelände beim Countdown. Das Organisieren, das drohende Scheitern des Plans, das schließliche Doch-noch-Hinkriegen ist euphorisierend; und auch, sich für einen guten Zweck danebenzubenehmen. „Und du kommst wirklich nicht zu meinem Geburtstag?“, fragte meine Mutter mich Wochen vorher am Telefon. „Es ist doch der siebzigste!“ Und ich erwiderte bräsig, dass ich gerade schrecklich viel zu tun habe und wir halt irgendwann nachfeiern müssten.
Zum Sterben nach Holland
Meinem Vater kam die Aufgabe zu, meine Mutter unter Angabe falscher Gründe an die Nordsee zu schaffen. Mein Vater, der an diesem Tag offenbar eine Schlagseite zum Morbiden hatte, sagte, er habe einen ehemaligen Patienten, der suizidal sei und sich, mein Vater sagte das wörtlich, „zum Sterben nach Holland“ zurückgezogen habe. Mein Vater müsse ihn retten, und meine Mutter solle mit, um ihm notfalls bei der Rettung beizuspringen. Meine Mutter möge Verständnis haben, man müsse dann halt irgendwann nachfeiern. Wie immer hatte meine Mutter Verständnis und die ganze Fahrt über große Sorge um den suizidalen Patienten, und mein Vater machte es nicht besser, indem er bis Holland ausführlich verschiedene Selbsttötungsszenarien entwarf.
Mein Bruder und ich erwarteten meine Mutter am Nordseestrand. Meine Mutter freute sich sehr, auch darüber, dass hier keiner lebensmüde war und alle nur sehr verschwitzt waren: mein Bruder, weil er seit Stunden in seinem Rucksack verborgene Reitstiefel für meine Mutter durch die Augusthitze schleppte, und ich, weil ich die Sorge trug, dass die Pferde womöglich nicht auftauchen würden. Sie tauchten aber auf, malerisch kamen sie den Strand entlanggeprescht.
Meiner Mutter rutschte das Herz in die Hose, weil man immer erschrickt, wenn ein Wunsch erfüllt wird, und kurz erschrak ich auch, weil ich plötzlich dachte: Wir haben es falsch gemacht, die Erfüllung dieses Wunsches seift meine Mutter mit ihrem Altsein ein, man kann mit siebzig nicht einfach so auf ein Pferd. Aber dann zog sich meine Mutter die Stiefel an, mit vereinten Kräften schoben und zogen wir sie hoch auf das Pferd. Und dann preschte sie davon, einfach so und laut jubelnd, hinein in einen Sonnenuntergang, den vermutlich mein Bruder organisiert hatte.
Morgen wird mein Onkel fünfundachtzig Jahre alt. „Kommst du zu meinem Geburtstag?“, hat er letzte Woche gefragt. „Leider nicht“, habe ich gesagt, „ich habe gerade schrecklich viel zu tun. Wir müssen halt irgendwann nachfeiern.“ Ich freue mich auf morgen. Das wird ein Fest.
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker