Frau E. berichtet einen Traum: Sie ist in Unruhe, weil im Elternhaus Waffen versteckt sind. Sie weiß nicht genau, von wem – einer rechtsradikalen Gruppe? Sie will ihre Eltern warnen, sucht sie und kommt auf den Dachboden. Dort findet sie Vater und Mutter erhängt, mit Pappschildern um den Hals, auf denen steht: „Verräter der Republik“. Mehr kann sie nicht erinnern.
Der Hintergrund hierzu: Nach einem Krankenhausaufenthalt des bald neunzigjährigen Vaters brach die Mutter buchstäblich unter der Last zusammen,…
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Vaters brach die Mutter buchstäblich unter der Last zusammen, ihn zu pflegen. Die Tochter ließ alles stehen und liegen. Sie reiste zu ihren Eltern, um deren Pflege zu organisieren. Die beiden sind geistig noch rege, aber vor allem der Vater ist körperlich sehr geschwächt, muss wegen der Emboliegefahr Stützstrümpfe tragen und oft umgebettet werden. Dabei kam es auch zu einem Wirbelbruch bei der Mutter.
Sie weinte heimlich
Die Tochter organisierte die Dauerbetreuung durch ein Team osteuropäischer Krankenschwestern. Das gelang nicht ohne Konflikte. Die Mutter wollte nicht, dass die Tochter ein Zimmer für die Pflegekraft ausräumte und einrichtete. Es bedurfte zäher Verhandlungen; oft fühlte sich Frau E. durch den Widerstand der Mutter entwertet.
Sie ärgerte sich über die Undankbarkeit der Pflegebedürftigen, wollte diese aber nicht mit ihren Gefühlen belasten. Manchmal war die Tochter so erschöpft, dass sie heimlich weinte. Endlich war alles gelungen, sie verließ das Elternhaus und kehrte in die Wohnung zurück, die sie mit ihrem Mann teilt; die Kinder sind schon einige Jahre ausgezogen.
Ihre Einfälle zu dem Traum kreisten zuerst um den Vater. Dieser hatte den Krieg als 17-Jähriger noch erlebt, war verwundet worden und knapp mit dem Leben davongekommen. Frau E. hat eine enge Beziehung zu ihm; es gab früher manchmal Konflikte in ihrer Ehe, weil ihr Partner überzeugt war, sie liebe den Vater mehr als ihn. Dieser sei viel gebildeter, sanftmütiger, hilfsbereiter. Die Ehefrau fand das ungerecht. „Aber es ist doch auch wahr: Mein Vater ist ordentlich und hilft im Haushalt, mein Mann ist ein Chaot. Mein Vater schreit nicht, mein Mann sofort, wenn ihm etwas nicht passt.“
Träume sind amoralisch
Allerdings war der Vater auch mit sanftem Nachdruck autoritär; als seine Tochter mit ihm über die 68er-Gedanken diskutieren wollte, schnitt er ihr das Wort ab. Der Vater hatte während seiner Erkrankung oft von Fantasien aus den letzten Kriegstagen erzählt, die ihn belasteten. Als die Tochter vorschlug, er solle doch seine Erinnerungen aufschreiben, wurde er deutlich ruhiger.
Es ist altes Menschheitswissen, bereits in der griechischen Antike und im Talmud auffindbar: Wir sind in unseren Träumen amoralisch. Die Psychoanalyse hat den Traum als Zugang zur Welt des Unbewussten entdeckt und in den freien Einfällen zu einem Traum ein Werkzeug gefunden, die Traumbilder zu untersuchen, herauszufinden, was sie dem bewussten Ich sagen können.
Das Modell geht davon aus, dass diese Bilder Wünsche erfüllen und den Schlaf bewachen; sie tun das aber auf krummen Wegen, tragen Masken, verkleiden sich, um der nicht ganz schlafenden moralischen Zensur zu entgehen, oder werden von Piraten gekapert – unterdrückten Affekten wie Wut und Angst. Wenn diese zu bedrohlich werden für das Ich des Träumers, bleibt ihm nur die Flucht ins Erwachen.
Freud hat die einfachste Form der Wunscherfüllung in Kinderträumen beschrieben: Im Kleinkindalter hatte seine Tochter zum Abendessen die begehrten Erdbeeren nicht bekommen. Morgens berichtete sie, sie habe in der Nacht Erdbeeren gegessen. In dem Traum über die Verräter der Republik ist die Wunscherfüllung verschlüsselt. Es geht um verbotene Gedanken und tabuisierte Wünsche. Wer vor der Aufgabe steht, seine hinfälligen Eltern zu pflegen, kann die Fantasie nicht zulassen, von dieser Aufgabe durch deren Tod befreit zu sein.
Unbekannte übernehmen die Rolle des Henkers
Die Träumerin hat sich dieses Dilemmas entledigt, indem sie in keiner Weise für den Tod verantwortlich gemacht werden kann: Die Rolle des Henkers haben Unbekannte übernommen, die Eltern sind Opfer eines Bürgerkriegs, der erlösende Akt war schnell und gnädig. Er hat den Eltern sogar einen Teil der an ihnen so schmerzlich vermissten Jugend und Kraft zurückgegeben, denn hinfällige, bettlägerige Menschen werden doch nie und nimmer aus politischen Gründen aufgeknüpft.
In dem zweiten Traumgedanken, in dem sie ihre Eltern warnen will, distanziert sie sich noch einmal von dem Tötungswunsch. Ihre Gewissenhaftigkeit und ihre Bereitschaft, sich um andere zu kümmern, haben sie in einen helfenden Beruf und auch in die Analyse geführt; sie denkt in den letzten Jahren viel über die Schattenseiten dieser Persönlichkeitszüge nach.
Eindrucksvolle Inszenierung
„Volksverräter“ und „Deserteur“ war auf Pappschildern zu lesen, die 1945 den von fanatischen Nationalsozialisten Ermordeten umgehängt wurden. Bekannt geworden ist eine Fotografie, die den Widerstandskämpfer Karl Biedermann unmittelbar nach seiner Hinrichtung zeigt. Auf der Brust des Gehenkten sind Schilder mit der Aufschrift „Ich habe mit den Bolschewiken paktiert!“ angebracht. Biedermann hatte mit anderen Offizieren der Reichswehr in den letzten Kriegstagen versucht, gemeinsam mit Offizieren der Roten Armee die von Hitler angeordnete Zerstörung der Stadt Wien zu verhindern.
Auf dem Dachboden ist das Schild eigentlich unsinnig. Und was bedeutet „Verräter der Republik“? Lynchjustiz wird in der historischen Realität nur von Feinden des Rechtsstaates, mithin von Feinden der Republik praktiziert. Die Republik steht für Menschen, die sich gegen verkrustete Machtverhältnisse durchsetzen. In diesem Fall ist aber der Henker die Republik selbst, eine Staatsform, die großen Wert auf Gerechtigkeit legt und mit diesem Ideal gegen Willkür und Tyrannei steht.
Kämpft und siegt hier die Republik gegen das autoritäre Regime der Eltern? Spiegelt sich in dem Traum die Auseinandersetzung der Tochter mit dem Starrsinn der Eltern, die sich weigern, sich ihre Pflegebedürftigkeit einzugestehen? Der Traum ist eine eindrucksvolle Inszenierung.
Schöpferische Bearbeitung
Er belegt, dass die depressive Dynamik von Frau E., ihre Neigung, Aggressionen gegen sich selbst zu richten, von ihr schöpferisch bearbeitet wird; die Stimmung, in der wir den Traum deuten, ist gelöst und zeigt, dass sie keine Mühe hat, zwischen unbewussten Todeswünschen und ihrer bewussten, fürsorglichen und liebevollen Einstellung zu ihren Eltern zu unterscheiden.
Auf jeden Fall ist die Republik, die hier das Aufhängen übernimmt, eine untadelige Einrichtung. Sie erinnert ein wenig an den lieben Gott, dem Heinrich Heine eine ähnliche Aufgabe gab. Er schrieb in einem Aphorismus, der erst nach seinem Tod publiziert wurde: „Friedliche Gesinnung. Wünsche: bescheidene Hütte, Strohdach, aber gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Türe einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, lässt er mir die Freude erleben, dass an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. – Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt – ja, man muss seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt worden. – Versöhnlichkeit, Liebe, Barmherzigkeit.“
Die hier berichtete Therapiestunde gehört in die Endphase einer mehrjährigen Behandlung und veranschaulicht, dass Frau E. viel Gelassenheit und inneren Raum entwickelt hat, sich mit ihren unbewussten Aggressionen auseinanderzusetzen. Dazu passt, dass die ausgeprägten Depressionen, mit denen sie vor einigen Jahren in die Analyse kam, inzwischen völlig verschwunden sind und sie gegenwärtig plant, nur noch alle 14 Tage in eine Sitzung zu kommen.
Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker, Paar- und Familientherapeut und Autor in München. Jüngstes Buch: Du bist schuld! Zur Paaranalyse des Vorwurfs (Klett-Cotta 2020)