Interview: Martina Hinz
Frau Adam-Lauterbach, stellen Geschwister ein Gesundheitsrisiko dar?
Also als Gesundheitsrisiko möchte ich das nicht bezeichnen, aber selbst wenn Schwestern und Brüder meist jahrzehntelang verbunden sind und sich gegenseitig stärken können, so können auf der anderen Seite konfliktreiche Geschwistererfahrungen das seelische Gleichgewicht ins Wanken bringen. Tiefgreifende Verletzungen bis zum Kontaktabbruch sind möglich und erzeugen einen enormen Leidensdruck.
Ist der Einfluss der…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
bis zum Kontaktabbruch sind möglich und erzeugen einen enormen Leidensdruck.
Ist der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder nicht gravierender?
Das hat man lange geglaubt. Doch klinische Erfahrungen legen nahe, dass Geschwisterbeziehungen ganz genauso seelische Erkrankungen auslösen können. In der Psychotherapie ist der Leidensdruck, den Geschwister erzeugen, oft ein Thema. Doch es fehlen bisher die passenden Studien. Wir brauchen psychodynamisch orientierte empirische Untersuchungen, die über den Einzelfall hinaus die klinische Bedeutung der Geschwisterdynamik und deren Wirksamkeit im Erwachsenenalter in ihrer Tiefendimension wissenschaftlich genauer betrachten.
Welche Geschwistererfahrungen sind problematisch?
Exzessive, verstrickte und viel zu enge Bindungen bis hin zur inneren Verschmelzung können schwer belasten. Wenn Geschwister nur aufeinander fixiert sind und es nicht schaffen, sich als getrennte Persönlichkeiten zu entfalten, dann führt das zur sozialen Isolation. Bei Zwillingen, die sehr eng miteinander sind, wurden schon häufiger Symptome wie Erstickungsanfälle oder Platzangst beobachtet. Auf der anderen Seite können natürlich zu starker Neid, Aggression, aber auch Kontaktlosigkeit zwischen Geschwistern eine enorme seelische Belastung darstellen.
Hat die Reihenfolge der Geburt einen Einfluss?
Für die Älteren ist die Geburt eines zweiten Kindes nicht zu unterschätzen. Die Mütter wenden sich für sie überraschend ab und schenken all ihre Aufmerksamkeit dem Jüngeren. Diese Erfahrung ist natürlich mit einem großen Verlustgefühl verbunden, das sich auf das spätere Leben auswirken kann. Dieser Effekt wird viel zu wenig gesehen. Oft werden die Ältesten darüber hinaus viel zu früh in die Selbständigkeit entlassen. Geschwister berichten vor diesem Hintergrund in Behandlungen immer wieder von Vernachlässigung, Kränkungen, oftmals auch von Gewalt und Missbrauch.
Haben es die mittleren Kinder denn leichter?
Einige Studien sagen, dass die Mittleren psychisch auffälliger sind als ihre Geschwister. Andere wiederum zeigen, dass diese Mittleren es leichter schaffen, sich loszulösen und eigene Nischen aufzubauen. Oftmals erzählen Betroffene, dass zwischen ihnen und ihren Geschwistern eine große Distanz herrscht, bis hin zum Abbruch sämtlicher Kontakte im Erwachsenenalter. Solche Erfahrungen traumatisieren und lösen Depressionen aus. Ich halte komplette Kontaktabbrüche in familiären Beziehungen für sehr problematisch, aber dies gilt natürlich nicht in einem besonderen Maße für mittlere Geschwister, sondern letztendlich für alle familiären Beziehungen.
Warum?
Die Folgen für die Betroffenen und ihr weiteres Leben sowie das ihrer Kinder sind oft mit großen Schuld- und Ohnmachts- sowie mit Ängsten und Minderwertigkeitsgefühlen verbunden. Denn auch wenn persönlich kein Kontakt mehr zum Bruder oder zur Schwester möglich ist, spielen die abwesenden Geschwister ja noch eine Rolle. Diese negativen Erfahrungen beeinflussen ja auch andere soziale Bindungen. Hinzu kommt, dass Geschwister dann keine Ressource mehr im Leben darstellen.
Wie beeinflussen uns Geschwister allgemein?
Viele Schwestern und Brüder sind sehr innig miteinander, andere Beziehungen werden im Erwachsenenalter mit einem riesigen Konfliktpotenzial, mit Neid, Streit und Rivalität geführt. Ich erlebe in meiner Praxis häufig, wie viel Leid entsteht, wenn Geschwister sich nicht verstehen, wie stark infantile Fixierungen und Projektionen die Beziehungen unangemessen belasten und gegenseitige Wahrnehmungen verzerrt sind. Manche sind miteinander verstrickt, können sich kaum lösen, ihr Lebensgefühl ist stark auf die anderen bezogen. Es hat sich gezeigt, dass sich Geschwisterbeziehungen neben dem Elterneinfluss sogar ein Stück weit unabhängig entwickeln.
Inwiefern?
Schwestern und Brüder ermöglichen uns einzigartige Erfahrungen, unabhängig von den Müttern und Vätern. Schon im Kleinkindalter haben Geschwister eine große Bedeutung füreinander. Jüngere beispielsweise binden sich eher an die Älteren als umgekehrt. So entstehen eigenständige und elternunabhängige Dynamiken. Was hierbei unterbewusst passiert und welche positiven und negativen Auswirkungen das auf die Psyche hat, ist doch hochspannend.
Kann man aus der Geburtenreihenfolge ganz bestimmte Schlussfolgerungen ziehen?
Diese Frage wird seit Jahrzehnten diskutiert. Trotz der Beobachtungen von Kinderpsychologen, Eltern und Erziehern sowie einer langen Bedeutungstradition in der Mythologie und Märchenwelt ist das aus Sicht der empirisch-quantitativen Forschung letztlich nicht mehr haltbar. Einige Forscher messen der Reihenfolge und dem Geschlecht sogar inzwischen gar keine Bedeutung mehr bei. Ich sehe darin durchaus noch eine wichtige Funktion, besonders im Hinblick auf die Entstehung seelischer Erkrankungen.
Welche Funktion ist das?
Patienten leiden offensichtlich unter ihrer Rolle in der Geschwistergemeinschaft, wenn diese sich nicht im Lebensverlauf ändert, sondern in kindlichen Mustern verfangen bleibt, und berichten in der Therapie von diesbezüglichen Problemen.
Natürlich warne ich auch vor Vereinfachungen und Spekulationen wie „Erstgeborene neigen stärker zu Perfektionismus, währen die Jüngsten typischerweise Rebellen sind“. Was ich aber beobachten kann, ist, dass die ältesten Kinder zum Beispiel in Familien mit einem chronisch kranken Elternteil am stärksten Aufgaben übernehmen, die eigentlich Sache der Eltern sind. Darunter, dass sie schon früh diese Elternaufgaben übernehmen mussten, leiden viele noch im Erwachsenenalter. Ich betone hier ausdrücklich, dass ich klinisch arbeite und dass sich meine familientherapeutischen Erfahrungen nicht so einfach verallgemeinern lassen.
Wie kann ich meine Geschwisterkonflikte in den Griff kriegen?
Das Wichtigste ist, sich zeitlebens auseinanderzusetzen und die zugewiesenen Rollen zu überwinden. Mehr Gleichheit zulassen, das ist ein gutes Ziel. Ich erlebe die Geschwisterbeziehung in meiner Praxis alles in allem auch nicht so negativ, wie es jetzt vielleicht scheint. Für die meisten Schwestern und Brüder geht es noch immer größtenteils um Liebe, Bindung und gemeinsame Interessen.
Aus Psychologie Heute 10/2018