Frau Professor Goltermann, als „Opfer“ bezeichnen wir heute jemanden, der durch einen anderen verletzt oder geschädigt wird – wir sprechen etwa vom Unfallopfer oder Kriegsopfer. Doch diese Bedeutung ist, wie Sie schreiben, noch relativ neu. Wofür stand der Begriff des Opfers denn ursprünglich?
Bis ins späte 19. Jahrhundert war fast ausschließlich der aktive Opferbegriff präsent: also sich für etwas aufzuopfern, ein Opfer für etwas zu bringen. Zuschreibungen in der Form, dass jemand Opfer eines Krieges oder…
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ein Opfer für etwas zu bringen. Zuschreibungen in der Form, dass jemand Opfer eines Krieges oder einer Katastrophe ist, waren noch überhaupt nicht verbreitet. Das Wort existierte natürlich, aber kaum jemand bezeichnete sich selbst als passives, leidendes Opfer.
Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlor das „Opfer für etwas“ an Bedeutung. Die Rede, ein „Opfer von etwas“ geworden zu sein, nahm dann, vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, allmählich zu.
Wenn man im 19. Jahrhundert also Opfer eines Verbrechens wurde, wurde man trotzdem nicht als solches bezeichnet?
Wenn man sich das Strafrecht in Deutschland anschaut, ist bis ins 20. Jahrhundert selten vom Opfer die Rede. Verletzt wird in erster Linie nicht das Individuum, sondern eine rechtliche Norm; außerdem konzentrierte sich das Strafrecht eher auf die Täter als auf die Opfer. Auch in der Kriminologie herrschte bis in die 1960er Jahre die Annahme vor, dass es bei zwischenmenschlichen Verbrechen keine wirklich „unschuldigen“ Opfer gebe.
Das war überhaupt eine verbreitete Ansicht. Wenn einem Erwachsenen etwas geschah, kam immer die Frage auf: Was hast du dazu beigetragen, dass dir das passiert ist? Es wurde meist davon ausgegangen, dass der Betroffene auf irgendeine Art und Weise daran mitschuldig war, dass ihm etwas Kriminelles zugefügt worden war.
Und erst während des 20. Jahrhunderts hat sich das Sprechen über Opfer dann langsam verschoben?
Ja, das betraf zunächst die Toten und dann erst die Lebenden. Kindern gestand man etwas früher als Erwachsenen zu, ein unschuldiges Opfer zu sein. Bis ins ausgehende 20. Jahrhundert war es aber überhaupt nicht opportun, sich als passives Opfer zu bezeichnen. Im Falle von Vergewaltigungen hat sich diese Haltung auch bei uns sehr lange gehalten – bis ins späte 20. Jahrhundert hieß es immer wieder, dass eine Frau wohl etwas dazu beigetragen haben müsse, wenn sie vergewaltigt wurde.
Warum hat sich das Bild des passiven Opfers in den letzten Jahrhunderten überhaupt herausgebildet?
Individualisierung und Säkularisierung waren sicher wichtige Voraussetzungen. Die Menschen interpretierten Tod und Krankheit immer seltener als Strafe Gottes und machten stattdessen andere Ursachen für das erlebte Leid aus. Sie versuchten damit, auch andere Verantwortliche zu finden: Im Falle von Infektionen im Lazarett zum Beispiel war nun der Staat schuld, weil er seinen Soldaten eine schlechte hygienische Versorgung bot.
Dazu kommt, dass sich erst im letzten Jahrhundert langsam verschob, welche Art von Gewalt wir eigentlich als legal oder illegal ansehen – sowohl in Bezug auf kriegerische Handlungen als auch auf häusliche und sexuelle Gewalt. Überhaupt hat sich verändert, was wir unter Gewalt verstehen, seit wir nicht mehr nur auf die physischen, sondern auch auf psychische Verletzungen sehen. Um als traumatisiertes Opfer gelten zu können, musste sich ja erst das spezifische Wissen etablieren, dass manche Ereignisse erhebliche psychische Verletzungen hervorrufen können.
Waren dafür die Entwicklungen in der Psychiatrie und Psychologie ausschlaggebend?
Im 19. Jahrhundert waren erst einmal die wissenschaftlichen Erkenntnisse im weiteren Bereich der Medizin wichtig, speziell in der Hygiene und der Bakteriologie. Im Falle von Kriegen konnten Angehörige dann die Regierungen für viele Kriegstote verantwortlich machen, weil Soldaten oft infolge unzureichender hygienischer Vorkehrungen starben. Auch Fabrikbesitzer mussten zunehmend Schutzmaßnahmen treffen, um die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht zu gefährden. Für die Ausweitung des passiven Opferbegriffs war das wichtig; wer nun ein Opfer wurde, war nicht zwangsläufig selbst verantwortlich dafür. Die Annahme, dass schwere Belastungssituationen oder Gewalterfahrungen auch psychische Erkrankungen auslösen können, kam aber erst viel später.
Hatte diese Erkenntnis mit den Kriegserfahrungen der Deutschen zu tun?
Nein. In der Nachkriegszeit glaubte man noch, dass länger dauernde psychische Beschwerden der Soldaten entweder „anlagebedingt“ waren oder auf eine organische Schädigung zurückzuführen waren, etwa aufgrund von Mangelernährung in den Gefangenenlagern. Erst die Einführung der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) in den USA um 1980 nach dem Vietnamkrieg sorgte letztendlich dafür, dass das Konzept der „Disposition“ massiv an Gewicht verlor, wenn nicht gar über Bord geworfen wurde.
Stattdessen ging man mit der PTBS-Diagnose davon aus, dass jeder nach einer Gewalterfahrung oder außergewöhnlichen Belastungssituation psychische Symptome entwickeln konnte und es ausschließlich das äußere Ereignis war, das diese auslöste. Das war eine ganz grundlegende Verschiebung und immens wichtig für die Vermehrung an Opferzuschreibungen.
Heute hat es sich wieder ein wenig gedreht, man weiß ja inzwischen, dass nicht jeder, der körperliche oder psychische Gewalt erlebt, davon traumatisiert wird. Man geht also davon aus, dass die Disposition doch wieder eine gewisse Rolle spielt.
Der Opferbegriff steht inzwischen nicht nur für Ohnmacht, sondern manchmal auch für Macht. Die #MeToo-Debatte ist ein Beispiel dafür. Ist der Opferbegriff für Sie mittlerweile ein doppeldeutiger?
Das passive Opfer kann heutzutage in der Gesellschaft eine machtvolle Position einnehmen. Das gelingt aber ausschließlich dann, wenn Teile der Gesellschaft bereit sind anzuerkennen, dass dem Opfer tatsächlich ein Unrecht widerfahren ist. Das heißt, es braucht ein geteiltes Verständnis davon, was Recht und Unrecht ist, was legitime Gewalt und nichtlegitime Gewalt ist. Erst dann kann eine Selbstbeschreibung als Opfer eine machtvolle Position sein. In vielen Fällen geht es um den Anspruch auf Wiedergutmachung. Das ist mittlerweile ein sehr breiter Bereich.
In Ihrem Buch schreiben Sie mehrfach, dass der Opferbegriff heute Konjunktur habe. Beobachten Sie eine inflationäre Verbreitung des Opferbegriffs? Oder ist diese Entwicklung aus Ihrer Sicht eher positiv zu sehen?
Wenn man einen Vergleich mit dem 19. oder 20. Jahrhundert zieht, kann man schon sagen, dass der Opferbegriff heute Konjunktur hat. Was ich aber nicht teile, ist die Annahme, dass sich heute fast jeder als Opfer bezeichnet. Das ist eine Behauptung, die in jüngster Zeit immer wieder in den Medien zu lesen ist, meines Erachtens aber einfach nicht stimmt.
Wenn Sie wirklich mal aufmerksam schauen, ob Menschen sich tatsächlich so häufig als Opfer bezeichnen, werden Sie feststellen, dass der Opferbegriff den meisten Menschen überhaupt nicht leichtfertig über die Lippen kommt, weil er eben immer gleichgesetzt wird mit dem Verständnis, dass man hilflos ist.
Allerdings: Sobald jemand heute sagt, dass ihm ein Unrecht geschehen ist, wird ihm entgegengehalten, er habe sich als Opfer bezeichnet oder begebe sich in die Opferrolle. Wenn Frauen heute reklamieren, dass es strukturelle Ungerechtigkeiten in der Arbeitswelt oder viele sexuelle Übergriffe gibt, wird das bis zu einem bestimmten Punkt anerkannt, aber es gibt immer wieder Leute, die sagen, ach, jetzt macht sie sich zum Opfer. Obwohl der Begriff überhaupt nicht gefallen ist.
Gerade deshalb bezeichnen sich viele Menschen lieber als Überlebende statt als Opfer. Das hat etwas proaktiveres und impliziert ja auch, dass das Trauma ein Stück weit bewältigt worden ist.
Einerseits, ja. Aber ich glaube, es kommt mehreres zusammen: Der Begriff des Überlebenden, der immer mehr um sich greift, verweist nämlich auch darauf, dass der Opferbegriff zunehmend negativ besetzt ist. In den USA ist das ganz auffällig. Aber meist wird noch beides betont: Ich bin ein Opfer und ein Überlebender oder eine Überlebende. Und das ist auch gut so.
Ich bin absolut der Meinung, dass man sich als Opfer bezeichnen können soll, wenn man davon überzeugt ist, dass einem Unrecht getan wurde. Etwas anderes kommt aber noch hinzu: Der Begriff des Überlebenden reagiert auch darauf, dass Menschen, die Gewalt erlitten haben, häufig auf diese Opferrolle reduziert werden. Überhaupt wird oft unterschätzt, dass Menschen sogar auf extreme Belastungssituationen ganz unterschiedlich reagieren.
Da muss ich an Natascha Kampusch denken, die ja kein Opfer sein möchte, sondern darum kämpft, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. In einem Interview mit der Zeitschrift Wienerin sagte sie neulich: „Man meint zu wissen, wie Opfer sich verhalten, und man hat auch schon seit Jahrzehnten ein Rezept. Oft ist es aber nicht das, was man sich als Opfer wünschen würde …“
Ja, diese Zuschreibungen, wie man sich als Opfer verhalten soll, können sehr bedrückend sein. Man darf als Opfer – zugespitzt gesagt – nicht mehr lachen, weil einem sonst jemand zum Vorwurf machen könnte, es könne ja alles nicht so schlimm gewesen sein. Opferzuschreibungen können eben aus einer Reihe von Gründen für die Betroffenen sehr viel problematischer sein, als die meisten denken.
Der Opferbegriff ist längst in die Umgangssprache eingegangen, heute bezeichnen sich Jugendliche manchmal verächtlich oder auch ironisch gegenseitig als Opfer!, wenn sie sich in einer Situation nicht wehren können.
Viele Jugendliche haben ein feines Gespür dafür, wie Erwachsene sprechen und welche gesellschaftlichen Prozesse im Gange sind. Diese verfestigen sich dann in solchen Begriffen. In der neuen Bedeutungsebene ist definitiv etwas Verächtliches drin, das hatte der Opferbegriff zwar schon immer, aber ich sehe in dieser Schärfe auch eine neue Entwicklung.
Sie beobachten inzwischen eine Art Wende in der Verwendung des Opferbegriffs?
Ich nehme seit einiger Zeit die gesellschaftliche Erwartung wahr, dass man Druck- oder Belastungssituationen immer selbst meistern müsse. Wenn man das nicht schafft oder einknickt, liegt die ganze Verantwortung in der Person selbst. Man kann das an der zunehmenden Verwendung des Begriffs der Resilienz beobachten. Inzwischen ist Resilienz ja schon fast zu einem Schlüsselbegriff geworden. Ratgeberliteratur dazu finden Sie reichlich, ebenso gibt es Schulungskurse, die einen befähigen sollen, resilienter, also widerstandsfähiger zu werden. In vielen Medien wird Resilienz schon beinahe als eine Art neues Heilskonzept diskutiert, als hätte man den Schlüssel gefunden, wie man an sich arbeiten müsse, um größere Belastung zu überstehen.
Es kann ja aber nicht falsch sein, an der eigenen Widerstandskraft zu arbeiten.
Natürlich ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen, warum ein Mensch eine Extrembelastung durchsteht und ein anderer nicht. Und herauszufinden, wie man Menschen, die dauernd in Belastungssituationen stecken, Techniken dafür an die Hand geben kann, wie etwa Notfallmedizinern oder Feuerwehrleuten.
Ich finde es aber problematisch, wenn in Ratgebern und Magazinartikeln der Eindruck entsteht, man könne sich ganz einfach Techniken aneignen, um resilienter zu werden. Und der Anschein erweckt wird, als habe man es einfach nicht genug gewollt oder versucht, wenn es nicht klappt. Das bürdet dem Individuum die alleinige Verantwortung dafür auf, wenn es Belastungen nicht mehr aushält, und es delegitimiert jegliche Kritik an äußeren Verhältnissen. Resilienz darf deshalb nicht zur Ideologie werden, mit entsprechenden Verhaltenserwartungen.
Gleiches gilt beim Thema posttraumatisches Wachstum: Selbstverständlich gibt es Menschen, die aus einem Trauma auch etwas Positives ziehen und sich in eine neue Richtung entwickeln. Aber man kann das nicht generalisieren und damit anderen, die dem nicht entsprechen, Scheitern attestieren.
In Deutschland ist der Opferbegriff derzeit hoch-umstritten, oft geht es dabei um die Deutung der Vergangenheit. Ist das spezifisch deutsch?
Wer genau ein Opfer ist, das war schon in der Vergangenheit politisch umkämpft, ist in der Gegenwart umkämpft und wird wohl auch in der Zukunft umkämpft sein – in vielen Ländern der Welt. Aber wenn man im Bereich des Krieges schaut, dann ist der Opferbegriff wohl gerade in Deutschland besonders umstritten, weil er eben eine Chiffre für Unrecht ist. Insofern ist es hierzulande problematisch, wenn sich ehemalige Wehrmachtssoldaten als Opfer bezeichnen oder Vertriebene sich als reine Opfer darstellen.
Als im Fußballverein HSV jüngst der Antrag gestellt wurde, AfD-Mitglieder auszuschließen, verglich sich der AfD-Landesverband Hamburg mit den jüdischen Bürgern, die 1933 aus den Fußballstadien vieler deutscher Vereine ausgeschlossen wurden. Es ist höchst unangebracht, wenn sich ausgerechnet diese Partei mit den verfolgten Juden der NS-Zeit vergleicht. Wie kann man den Opferbegriff vor Missbrauch schützen?
Natürlich ist das völlig geschmacklos, das ist gar keine Frage. Aber was hier passiert – und das finde ich auch verrückt und gefährlich –, ist, dass der Opferbegriff in den Mund genommen wird, obwohl er seitens der AfD ja gar nicht gefallen ist. Man sagt: Jetzt haben die sich wieder als Opfer bezeichnet. Ich glaube, man muss wieder lernen, genauer zuzuhören, um den Opferbegriff nicht zu diskreditieren und delegitimieren. Man braucht sich gar nicht auf diese Opfer-ebene einzulassen, sondern kann in diesem Fall einfach sagen: Was da behauptet wird, ist sachlich falsch, völlig absurd und unangemessen.
Sie haben sich als Wissenschaftlerin insgesamt fast zehn Jahre mit der Opferthematik beschäftigt. Was hat diese Auseinandersetzung mit Ihnen persönlich gemacht?
Sie hat auf jeden Fall zu der Überzeugung geführt, dass wir diesen Begriff nicht leichtfertig über Bord werfen sollten, auch wenn er ambivalent ist. Ich stimme nicht ein in die Generalkritik am Opferbegriff, also in die vielen Vorwürfe, dass sich heute alle zu leichtfertig zu Opfern machten. Dass Opferzuschreibungen heute weitaus häufiger sind als vor hundert Jahren hat eben ganz entscheidend damit zu tun, dass sich verändert hat, was wir als Gewalt und als psychische Verletzung ansehen.
Auch Sprache kann psychisch verletzend sein; prinzipiell bestreitet das heute niemand mehr. Es mag schon sein, dass der Moment wiederkommen wird, an dem wir darüber reflektieren müssen, ob wir einen zu weiten Begriff von Gewalt haben; diese Entwicklung lässt sich jedoch nicht vorhersehen. Sicher ist aber, dass der Opferbegriff auch in Zukunft wichtig sein wird, weil er eine Möglichkeit bietet, Kritik an Unrecht zu üben. Das sollten wir nicht verspielen.
Svenja Goltermannist Professorin für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Zürich. 2017 erschien ihr BuchOpfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne bei S. Fischer, Frankfurt.