Jenseits von Ostalgie

Ein Gespräch mit der Psychoanalytikerin Annette Simon über die noch fehlende Integration ostdeutscher Erfahrungen in die gesamtdeutsche Geschichte.

Wie es um die Aufarbeitung nach fast 30 Jahren Wiedervereinigung bestellt? © Frank Schirrmeister/OSTKREUZ

Frau Simon, die unterschiedlichen Erfahrungswelten von Ost und West wirken bis heute nach. Was bedeutet das für die Menschen, die in der DDR gelebt haben?

Um es gleich vorwegzunehmen, es gibt weder den Ostdeutschen noch die ostdeutsche Identität an sich. Es gibt zweifelsohne ähnliche Erfahrungen, doch die DDR-Bevölkerung war, obwohl durch die Mauer eingeschlossen, keine homogene.

Inwiefern?

Die DDR war eine gespaltene Gesellschaft, unterteilt in Herrscher und Beherrschte, und die Identität der Ostdeutschen…

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eine gespaltene Gesellschaft, unterteilt in Herrscher und Beherrschte, und die Identität der Ostdeutschen war bis zur Wende eher gespalten und fragil. Fragil, weil sie zunächst durch die Über­formungen der russischen Sieger geprägt war. Nur ein Teil der Menschen hat sich im Laufe der Jahre wirklich mit der DDR identifiziert. Nach 1989 wurde das noch uneindeutiger, die Ostdeutschen fühlten sich zunächst weder als DDR-Bürger noch als Bundesdeutsche. Hier hinein spielte zunehmend das Gefühl, dass sie zu wenig gehört, wahrgenommen und respektiert wurden. Es gab ja auch keine Wiedervereinigung, von der immer gesprochen wird, sondern es gab einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Das manifestierte sich auch im Erleben, dass sich das Alte auflöste, das Neue noch nicht da oder unbekannt war und sich die ohnehin fragile Identität nicht festigen konnte.

Es wird oft behauptet, dass die DDR-Identität erst nach der Wende entstanden sei, durch die schwierigen Erfahrungen, die die Ostdeutschen im Vereinigungsprozess machen mussten. Wie sehen Sie das?

Ich denke, dass jeder, der in der DDR lebte, sich irgendwie zu diesem Staat in Bezug setzen musste, weil er zwangsläufig mit ideologisch-hierarchischen Machtstrukturen konfrontiert war. Und dieses Inbezugsetzen hat immer mit der Frage zu tun, wie ich zu diesem Staat stehe. Der Vereinigungs­prozess hat die Ostdeutschen auf eine andere Weise vereint, egal ob Herrscher oder Beherrschter, Parteisekretär oder Bürgerrechtler – alle mussten sich mit neuen Strukturen und der Infragestellung ihrer bisherigen Existenz auseinandersetzen. Alle bekamen – vereint – weniger Geld als Westdeutsche in vergleichbaren Positionen und wurden allesamt plötzlich als Diktaturgeschädigte angesehen. Es fand zunächst kaum eine differenzierte Wahrnehmung statt.

Also müsste man bei der Frage nach der ostdeutschen Identität weiter in der Geschichte zurückgehen?

Ja. Der Zivilisationsbruch während des deutschen Nationalsozialismus, die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg mit dem Bewusstwerden der ausgeübten Verbrechen haben die deutsche Identität zunächst aufs Schwerste beschädigt. Es war einfach nicht mehr möglich, stolz darauf zu sein, dem deutschen Volk anzugehören. Die nationale Selbstachtung erlitt einen tiefen Riss. Die in der DDR nach 1945 eingesetzten Machthaber und Politiker schufen den Mythos, dass die DDR gewissermaßen aus dem ­Antifaschismus geboren sei. Diese Sage entfaltete eine ungeheuer starke Wirkung – bis in die einzelne Familie hinein –, weil sie eine gewisse Schuldentlastung von deutschen Verbrechen bot. Die Identifikation mit den Antifaschisten und mit der DDR bot den Vorteil, scheinbar auf der richtigen deutschen Seite zu stehen, auf der Seite des Widerstands und der Opfer. Doch die psychische Anfälligkeit für Unterordnung, autoritäres Denken, Verachtung des Fremden und Schwachen blieb auch nach 1945 und wurde nicht öffentlich bearbeitet – außer in der Kunst und Literatur der DDR.

Welche Rolle spielt das Jahr 1968 für Deutschland?

Es markierte einen der Schnittpunkte, von dem aus sich die beiden Teile Deutschlands stark auseinanderentwickelt haben. Die Alltagskultur der Westdeutschen war seitdem demokratischer, toleranter und weltoffener als die der Ostdeutschen, zum einen aufgrund des Einflusses der westlichen Besatzungsmächte und der durch Adenauer eingeleiteten Westintegration, zum anderen war dies der rebellierenden Jugend zu verdanken. Die 68er stellten die nationalsozialistische Ideologie und die Überhöhung der Tugenden wie Ordnung, Fleiß und Gehorsam infrage. Sie begannen die Generationenauseinandersetzung mit den Eltern und in den Institutionen. Sie lebten das ‚ganz andere‘ in der Erziehung, in der Sexualität und hinterfragten die Geschlechterrollen. Dass sie dabei oft überzogen agierten und ihre unbewusste Identifizierung mit den Täter-Eltern nicht klären konnten, steht auf einem anderen Blatt.

Und im Osten?

Eine ähnliche Kulturrevolution hat es in der DDR nicht gegeben, weil sie mit allen zur Verfügung stehenden Repressionsmitteln unterdrückt wurde. Obwohl dieser Geist in jener Generation genauso zu finden war und über die westlichen Medien aufgenommen wurde, inspirierte er nur eine Minderheit – aus Angst, staatlichen Verfolgungen ausgesetzt zu werden.

So blieb der DDR-Alltag durch autoritär-hierar­chische Strukturen geprägt? Und vom Versuch, sich damit irgendwie zu arrangieren?

Schon. Ein Beispiel: 1975 war ich in einen Neubaublock in einem Ostberliner Stadtbezirk gezogen. Am 7. Oktober, dem Tag der Republik, an dem 1949 die DDR gegründet worden war, sollten alle stets die Fahne aus dem Fenster hängen. Ich verweigerte das, zum einen weil ich das schon immer zu vordergründig fand, zum anderen war meine Loyalität zu diesem Staat so gering, dass ich diese Fahne nicht aus meinem Fenster hängen konnte. Vom Leiter der Hausgemeinschaft wurde ich dann ausdrücklich dazu aufgefordert. Ich merkte, wie ich unter Druck geriet, und beschloss, mir die rote Fahne der Arbeiterbewegung zu kaufen und diese rauszuhängen. Auf meinen Kompromiss war ich einerseits stolz, andererseits schämte ich mich, weil ich mich der Aufforderung gebeugt hatte. Die Scham bestand darin, wissentlich von dem inneren Gefühl der Wahrhaftigkeit, dem eigenen inneren Maßstab abgewichen zu sein. Ich gab dem sozialen Druck nach, weil ich zu viel Angst hatte. Dies hing vielleicht auch damit zusammen, dass im gesellschaftlichen Unbewussten der DDR-Bürger die alte Unterwürfigkeit und Angst aus der Nazizeit und die Angst aus dem Terror des Beginns der DDR präsent waren. Wir konnten in der DDR nicht antiautoritär auf den Tischen tanzen, der DDR-Staat ließ dies nur notgedrungen in kleineren Kreisen zu – womöglich unter Beobachtung der Staatssicherheit. Der nicht gebrochene Untertanengeist durchwaberte die DDR-Gesellschaft weit mehr als die durch ihre 68er durchgeschüttelte Bundesrepublik.

Die Vereinigung verlief dann in einem rasanten Tempo. Hat das noch Folgen?

Ja, es gab kein Innehalten, keine echte Aufarbeitung, keine Zeit für Überlegungen, was wollen wir, wohin soll es gehen. Durch die schnelle Vereinigung, die die Ostdeutschen in freier Entscheidung gewählt hatten, konnten gravierende Konflikte zwischen ihnen nicht ausgetragen werden und wurden teilweise unter den Tisch gekehrt. Für manche ist dies eine unverdiente Gnade, für andere Grund zu großer Bitterkeit. Auch die sozialökonomische Abwertung, die nach dem wirtschaftli­chen Zusammenbruch der DDR unvermeidlich war, wirkt nach.

Hinzu kommt in meiner und in der älteren Generation eine bestimmte Form von Melancholie, die sich aus dem jahrelangen Abgeschnittensein von lebenswichtigen Erfahrungen speist. Das Gefühl, wichtige Elemente der Westkultur nicht erfahren zu haben und sich aber jetzt in dieser Kultur bewegen zu müssen, und zu merken, dass man als relativ fertig geprägter Mensch sein Leben nicht noch einmal von vorn leben kann, ist eine wichtige Osterfahrung nach 1989. Die Traurigkeit darüber, dass vieles, was man in der DDR getan hat, jetzt nicht gebraucht wird oder unter anderen Bedingungen nicht so viel Mühe gekostet hätte, ist auch eine ostdeutsche Traurigkeit. Doch auch Scham, Traurigkeit, Wut und Schuld sind nicht gleich verteilt im Osten.

Zwischen 1975 und 1985 kamen etwa 2,4 Millionen Menschen in der DDR zur Welt. Sie sind die dritte Generation eines Landes, das es nicht mehr gibt. Was bedeutet für sie nationale Zugehörigkeit?

Die jungen Ostdeutschen haben den größten Teil ihres Lebens im vereinigten Deutschland gelebt, deshalb spielt es für sie vorrangig keine Rolle mehr, ob sie nun aus Frankfurt/Oder oder Frankfurt am Main kommen. Dennoch sind sie oft in einem Umfeld aufgewachsen, das von der DDR geprägt wurde, eben durch ihre Eltern, Großeltern, Lehrer, die in diesem Land gelebt haben. Und vierzig Jahre haben natürlich Erfahrungsmuster hervorgebracht, die bewusst und unbewusst weitergegeben werden. Es werden ihnen Heldengeschichten erzählt, Täter-, Opfergeschichten, oder es wird nur auf Nachfragen von der DDR erzählt. Es bilden sich aus Filmen, Literatur und Unterricht verschiedene Vorstellungen und Fantasien über die DDR, über das untergegangene Land. Gleichzeitig erfahren sie einiges über das vereinte Deutschland, in dem sie leben, machen eigene Erfahrungen. Wie sehr sie sich trotzdem noch in der DDR verorten, ist unterschiedlich, glaube ich, und hängt auch davon ab, ob sie einen gesicherten Platz im Heutigen gefunden haben oder eher nicht.

Aufarbeitung heißt, ins Gespräch kommen. Wie wichtig ist der Austausch zwischen der jungen und der älteren Generation über die Erfahrungen in der DDR?

Die Geschichte hat gezeigt, wie schwerwiegend es sein kann, ungeliebtes Vergangenes zu verdrängen. Es reicht nicht, dass es eine Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gibt. Den differenzierten Erlebnishorizont des Alltags in der DDR in seiner Widersprüchlichkeit zu erzählen gelingt bisweilen nur schwer. Manchmal werden unliebsame Erinnerungen und Geschehnisse eben auch nicht erzählt, aus Scham, aber auch um die Nachgeborenen zu schützen, ihnen keine familiäre Last aufzubürden. Die Älteren berichten wenig und meist nur das, was ihnen heute kein Unbehagen bereitet. So erzählen sie eben auch ihr Leben lückenhaft und teilweise geschönt oder verträglich. Manche Erinnerungen werden nur bruchstückhaft weitergegeben, manche sind verdrängt oder einfach vergessen. Und einige der Jungen fragen nicht nach, weil sie die Eltern nicht verunsichern wollen.

Gibt es im Osten möglicherweise ein größeres Verständnis für die Eltern?

Die dritte Generation hat in den letzten dreißig Jahren mehr als andere auf die Eltern aufpassen müssen, sie will die Eltern schützen, nicht noch mehr verunsichern, da die Älteren damit zu tun hatten, mit der neuen Lebenssituation zurechtzukommen. So viel Einschneidendes hat sich verändert, kaum einer arbeitet noch in dem Betrieb, wo er vor 1989 war. Aber vielleicht spielt auch eine Rolle, dass es keine anti­autoritäre Bewegung in der DDR gab, es fehlte größtenteils die Auseinandersetzung, die Reibung zwischen den Generationen. Es wurde gelernt, sich lieber anzupassen als aufzubegehren. Man saß mit den Eltern im gleichen Boot gegenüber den autoritären Staatsstrukturen.

Und wie steht es um die psychische Aufarbeitung?

Mein Gefühl ist, dass die psychische Aufarbeitung im kleinen Kreis stattfindet, in Gruppen und Gesprächskreisen, in denen Menschen sich wirklich aus ihrem Leben erzählen. Es sind viele Begegnungen und Freundschaften entstanden zwischen Ost und West, in denen die Unterschiede im Alltag deutlich werden und auch verhandelt werden, besonders hier in Berlin. Und man arbeitet zusammen, etwa an unserem psychoanalytischen Weiterbildungsinstitut oder in den Fachgesellschaften. Da kann man auch die Fruchtbarkeit von Verschiedenheit und Konflikthaftigkeit erleben und wie etwas wirklich Neues entstehen kann. Zunehmend habe ich das Gefühl, dass auch Patientinnen und Patienten sich für ihr gesellschaftliches Geprägtsein interessieren und sich damit in der Therapie auseinandersetzen wollen.

Kleiner Ausblick: Was wünschen Sie sich für die Deutschen in der Zukunft?

Neugier! Hinschauen, ohne gleich zu werten und ohne gleich in Schubladen einzuteilen, ob jemand aus dem Osten oder Westen kommt oder von ganz woandersher. Schauen, was ihn ausmacht, was das Besondere, Individuelle ist. Ins Gespräch kommen, sich aus seinem Leben erzählen, versuchen, sich zu verstehen. Für die nun dritte Generation könnte das leichter sein, da sie nicht mehr mit der ganzen Schwere der deutschen Teilungs- und Kriegsgeschichte belastet ist. Ich wünsche mir ein Hin­schauen ohne Klischees, statt Fremdbewertung auch lieber Selbsterforschung.

Annette Simon war bis 1991 als Diplompsychologin in einer Ostberliner Nervenklinik tätig und arbeitet jetzt als niedergelassene Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin. Sie schrieb mehrere Bücher über die psychosozialen Prozesse der deutschen Vereinigung, zuletzt „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ (Psycho­sozial 2009). Sie ist Tochter der Schriftsteller Christa und Gerhard Wolf

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2018: Geschwister