Frau Professor Woodhead, seit Jahrzehnten leeren sich in Westeuropa die Kirchen. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Ich beobachte, dass an die Stelle kirchlicher Bindung mehr und mehr die individuelle Vermischung religiöser Ideen tritt, denn viele Konfessionslose pflegen im privaten Bereich eigene spirituelle Praktiken. Ein Beispiel: Wer sich heute in England oder Deutschland beerdigen lassen will, bekommt zusätzlich zu den rein christlichen Ritualen christlich-säkulare Mischformen angeboten. Bestattungen gibt es nunmehr in vielen Varianten. Urnen werden unter Bäumen oder in einer Seebestattung beigesetzt, Menschen lassen die Asche ihrer Liebsten zu Diamanten pressen und tragen sie als Brosche.
Christliche Rituale werden demzufolge seltener angewendet?
Genau, vor 20 Jahren etwa waren alternative Bestattungen noch exotisch. Heutzutage sind Bestattungen ein gedankenvoller Moment, bei dem der Wunsch nach dem Sinn des Lebens über den Tod hinaus deutlich wird. Und dies war jahrhundertelang doch das Kerngeschäft der organisierten Religionen. Heute wenden sich viele Menschen von den Kirchen ab und versuchen, eine eigene Bedeutung in ihrem Leben zu erschaffen. Immer mehr Menschen ist es wichtig, das zu tun, womit sie sich wohlfühlen, und nicht, was die Norm diktiert. Im weltweiten Vergleich sehen wir solche Entwicklungen vor allem in liberalen Demokratien, jenen, die zuvor mehrheitlich christlich waren, etwa Deutschland, Frankreich, Niederlande, Australien und USA. Konfessionslose legen viel Wert auf ihre eigenen Überzeugungen und sagen häufig von sich, dass sie auf ihre Weise gläubig sind.
Wie ist das zu verstehen?
Konfessionslose wollen nach unseren Umfragen weder als säkular, also komplett nichtreligiös, noch als spirituell gelten. Sie wehren sich gegen jegliche Zuordnung. Insgesamt haben wir es mit einem tiefgreifenden Wertewandel zu tun, besonders mit dem Wechsel von einem...
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