In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verfasste der berühmte Mathematiker und Astronom Laplace ein fünfbändiges Werk über die Mechanik des Himmels. Als er sein astronomisches System Napoleon Bonaparte präsentierte, fragte ihn dieser, welche Rolle Gott denn in seinem Buch spiele. Die berühmte Antwort von Laplace lautete: „Ich habe diese Hypothese nicht nötig gehabt.“ Diese Anekdote ist hilfreich, weil sie auf eine vergleichbare Situation in der Psychologie hinweist: Als Wissenschaft hat sie die…
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Psychologie hinweist: Als Wissenschaft hat sie die Seele nicht mehr nötig.
Psychologie bedeutet dem Wortsinn nach bekanntlich „Seelenkunde“, doch der Begriff der Seele (und was wir gewöhnlich mit ihm verbinden) kommt in der entsprechenden Wissenschaft schon lange nicht mehr vor. Stattdessen spricht man von der Psyche – was moderner klingt, aber einfach das griechische Wort für „Seele“ ist –, von Ich-Identität und vor allem vom „Selbst“. Die Rede von der Seele ist der Wissenschaft von ihr offenkundig peinlich geworden; sie erscheint als Relikt einer vergangenen Zeit, in der Glaube, nicht Wissenschaft die Weltsicht dominierte.
Wo das Wort noch verwendet wird, wie zum Beispiel in Dietrich Dörners Buch Bauplan für eine Seele, ist es häufig ironisch gemeint oder soll provozieren. Dörner möchte zeigen, wie psychische Vorgänge maschinell durch Computer nachgebildet werden können. Mit der Seele im alltagssprachlichen Sinn hat das wenig zu tun. Wenn Verhalten und Bewusstsein des Menschen wissenschaftlich untersucht werden, geht es eben immer darum, was sich darüber objektiv, aus der Perspektive eines Beobachters sagen lässt. Und die Seele scheint nicht zu den Dingen zu gehören, die sich von außen beobachten lassen.
Im Alltag ist der Begriff weiterhin präsent
Sollten wir deshalb nicht lieber aufhören, von der Seele zu reden? So denken heute sicherlich viele Wissenschaftler. Die Sozialpsychologie untersucht, wie menschliches Verhalten durch den sozialen Kontext geformt wird, während die Verhaltensgenetik den Beitrag des Erbguts und die Neuropsychologie die neuronalen Verschaltungen analysiert, die geistigen Zuständen und Handlungen zugrunde liegen. Die Rede von der Seele wirkt in all diesen Zusammenhängen antiquiert und unpassend – wie etwas, das man aus einer Gleichung herauskürzen kann, ohne dass sich das Ergebnis dadurch verändert.
Im Alltag allerdings wollen wir auf den Seelenbegriff nicht verzichten. Wenn es um den Kern einer Person geht, um das, was einen Menschen im Innersten ausmacht, sein Wesen und seinen moralischen Wert bezeichnet, dann liegt er uns, obwohl er sicherlich etwas verstaubt wirkt, immer noch nicht fern. Wir verwenden Formulierungen wie „das liegt mir auf der Seele“, „eine Seele von Mensch“ oder „von etwas beseelt sein“ ziemlich unbefangen weiter, wir sprechen von „seelischen Nöten“ oder einer „schwierigen Seelenlage“. Entweder handelt es sich dabei um eine im Alltag noch mitgeschleppte, eigentlich aber überholte Redeweise, etwa so, wie wir immer noch davon sprechen, die Sonne gehe auf, obwohl wir doch seit Kopernikus wissen, dass sich in Wirklichkeit die Erde dreht. Viele Wissenschaftler sehen das so. Oder der Begriff der Seele transportiert auch Bedeutungen, die von den modernen Ersatzbegriffen, wie sie in der Psychologie entwickelt wurden, nicht erfasst werden, weshalb er noch nicht überflüssig ist. Diese zweite Alternative scheint plausibler: Menschen reden deshalb noch von der Seele, weil sie sich als handelnde und verantwortliche Wesen mit einer Innenperspektive erfahren.
Allerdings ist hier Vorsicht angebracht. Wer danach fragen will, was von der Seele bleiben könnte, sollte die Ergebnisse der modernen Psychologie, den Wandel von der Seele zum Selbst, positiv zur Kenntnis nehmen und gleichzeitig eine kritische Haltung gegenüber all dem weltanschaulichen Ballast kultivieren, der im Seelenbegriff mitgeschleppt wird. Eine der wichtigsten Einsichten, die uns die moderne Psychologie und Kognitionswissenschaft gebracht hat, ist dabei die Überwindung des Dualismus von Leib und Seele. Menschen sind nicht halb Geister, halb Tiere. Nur als leibseelische Einheit ist das, was einen Menschen ausmacht, denkbar.
Körper und Seele bilden eine Einheit
Die von Platon geprägte und später auch im Christentum verbreitete Vorstellung, der Leib sei nur eine Wohnung oder gar ein Gefängnis der Seele, zerteilt die eine Wirklichkeit, in der wir leben, in zwei Bereiche, deren Verhältnis völlig unklar ist. Wir wissen einfach mittlerweile viel zu viel über die Verkörperung des Geistes, um noch ernsthaft an eine leibfreie Seele glauben zu können. Jede moderne Konzeption der Seele im Sinne dessen, was einen Menschen wesentlich ausmacht, muss den lebendigen Organismus und das bewusste Selbst zusammendenken.
Mit dem weltanschaulichen Ballast, von dem oben die Rede war, ist vor allem die Idee gemeint, die Seele könne als eine geistige Substanz gedacht werden, eine irgendwie der Zeit enthobene nichtkörperliche Einheit, die unzerstörbar ist. Auch hier steht Platon Pate, und die Idee der Seelensubstanz, einer rein geistigen Entität, hat das westliche Denken tief geprägt, bevor sie durch die Entwicklung der empirischen Psychologie zunehmend entwertet wurde: Es gibt kein Selbst und keine Seele, wenn darunter etwas Geistiges verstanden werden soll, das auf mysteriöse Weise vom biologischen Organismus getrennt ist. Wie lässt sich also jenseits dieser wissenschaftlich überholten Vorstellungen noch von der Seele reden?
Der wichtigste Schritt besteht hier darin, sorgfältig zwischen der Sache, die das Wort meint, und ihren nicht mehr haltbaren Deutungen zu unterscheiden. Die Erfahrung, um die es geht, lässt sich nämlich nur sehr schwer wegdiskutieren. Dass es uns selbst wirklich gibt, dass wir einen individuellen Charakter haben, eine – wenn auch komplexe und wandelbare – Identität, dass wir in Beziehungen zu uns selbst und anderen Menschen leben, uns als verantwortlich erfahren, zählt zu den am tiefsten sitzenden Überzeugungen unseres Alltags. Wenn jemand „Ich“ sagt, sein Handeln gegenüber anderen verantwortet oder auch nur etwas bewusst erlebt, ist das Selbst immer schon dabei. Daraus folgt aber nicht, dass es sich dabei um etwas rein Geistiges handelt. Im Gegenteil: Dagegen spricht alles, was wir über den Organismus Mensch aus Selbstwahrnehmung und Wissenschaft wissen. Man kann die Realität und Bedeutung der menschlichen Innenperspektive aber auch betonen, ohne dabei überholte Annahmen über eine Seelensubstanz aufrechtzuerhalten.
Die Sakralisierung der Person
Wie das möglich ist, lässt sich in zwei Schritten erläutern. Der erste Schritt setzt an zwei unterschiedlichen Erfahrungen an, die jeder Mensch im Umgang mit sich selbst und anderen machen kann. Einerseits ist unsere Selbsterfahrung beschränkt und in vielen Hinsichten auch verzerrt. Deshalb kann uns die objektivierende Perspektive der wissenschaftlichen Psychologie dabei helfen, uns besser zu verstehen. Andererseits macht jeder Mensch immer wieder die Erfahrung, im eigenen Handeln und den beobachtbaren Eigenschaften seines individuellen Charakters nicht aufzugehen. Was ein Mensch als sein wirkliches, inneres Wesen empfindet, ist nicht einfach die Summe seiner Taten. Diese Differenz kennt auch das Strafrecht, wenn es den Täter nicht dafür bestraft, dass er so ist, wie er ist, sondern eben nur für seine Tat. Darin kommt zum Ausdruck, dass Menschen sich zwar in ihren Taten offenbaren, aber mit diesen nicht gleichgesetzt werden dürfen. In ihnen steckt mehr und anderes als dasjenige, das durch die Tat zum Ausdruck kommt. Welche Träume ich habe, welchen Werten ich mich verpflichtet fühle (auch wenn ich sie im Handeln nicht vollständig umsetzen kann), wer ich sein möchte (obwohl ich es leider nicht bin), all das zählt ebenso zu mir wie mein beobachtbarer Charakter, der sich im Handeln manifestiert.
Die Dichter haben das immer besser verstanden als die Wissenschaftler. Robert Musil hat deshalb in seinem unvollendeten Riesenroman Der Mann ohne Eigenschaften vom „Möglichkeitssinn“ gesprochen und diesen als die Fähigkeit definiert, „das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“. Bei Träumern und Utopisten ist diese Fähigkeit besonders stark ausgeprägt, aber sie gehört eigentlich zu jedem Menschen. Menschsein bedeutet immer, sich in einem Möglichkeitshorizont zu bewegen. Dem Spuren-Buch von Ernst Bloch ist deshalb das schöne Motto vorangestellt: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Der Übergang zum „Wir“ soll hier ausdrücken, dass das Individuum seine Möglichkeiten nur in einer sozialen Gemeinschaft entfaltet.
Die Seele als der „Kern“ eines jeden Wesens
Alle Menschen können also die Erfahrung machen, in dem, was man tut, wodurch man identifiziert wird, nicht vollständig aufzugehen – und sie können ein darüber hinausgehendes ideales Selbstbild entwickeln. Das lässt sich gut mit der Rede von der Seele verbinden. In ihr ist die Intuition aufbewahrt, dass kein menschliches Leben durch eine rein objektive Beschreibung verstanden werden kann, weil jeder Mensch eine Innenperspektive hat, aus der heraus das Leben geführt wird. Dazu passt es bestens, dass die Seele von alters her als belebendes, bewegendes Prinzip, als der vitale Kern dessen, was ein Wesen ausmacht, gedacht wurde. Der Begriff der Seele lässt sich also erstens als Platzhalter für dieses „Mehr“ verstehen, das sich einer objektiven Beschreibung entzieht.
Es gibt aber einen zweiten, noch grundsätzlicheren Anlass, von der Seele zu reden, einen Grund, der mit Moral zu tun hat. Auf ihn macht der Soziologe und Philosoph Hans Joas in seinem Buch Die Sakralität der Person aufmerksam. Joas möchte verstehen, warum die Menschenrechte, obwohl es um ihre Umsetzung in vielen Ländern so schlecht bestellt ist, in den jüngsten Jahrzehnten eine solche Bedeutung und moralische Wucht gewinnen konnten. Ihm zufolge zeigt sich hier ein Prozess der „Sakralisierung“: Jede menschliche Person wird als etwas gedacht, dessen Leben heilig ist – heilig nicht primär in der religiösen Bedeutung des Wortes, sondern im Sinn von unantastbar, in sich wertvoll, unverletzlich.
Wer von den Menschenrechten redet, spricht jedem Individuum einen „Personkern“ zu, der unbedingte Achtung verdient. Und hier zeigt sich nun, dass der psychologische Begriff des Selbst nicht ausreicht: Ein Selbst kann man nämlich sinnvoll nur Menschen zusprechen, die auch zu Selbstbewusstsein und rationalem Denken fähig sind, die Zukunftspläne haben, mit anderen kommunizieren etc. Um diesen Artikel lesen zu können, müssen sie ein Selbst sein. Aber wie steht es mit Säuglingen, Schwerstbehinderten, Komatösen, schwer Dementen und so weiter? Solche Menschen fallen aus dieser Definition schlicht und einfach heraus. Wollen wir aber jedem, der Kriterien wie Selbstbewusstsein, Zukunftsplanung nicht entspricht, die Menschenwürde absprechen? Hier steht moralisch sehr viel auf dem Spiel. Wie viel, das zeigen die erregten Diskussionen, die der bekannte Moralphilosoph Peter Singer mit seinem Buch Praktische Ethik ausgelöst hat. Für Singer sind nämlich Menschen, die nicht über Selbstbewusstsein und Rationalität verfügen, zum Beispiel Neugeborene, keine Personen und haben deshalb weniger Anspruch auf moralische Berücksichtigung als etwa ein gesunder Erwachsener.
Menschen sind immer mehr als das, was sie sind
Joas argumentiert sehr eindringlich dafür, dass der Kern der Menschenrechte in der gleichen Achtung aller Menschen besteht – also auch derjenigen, die durch Geburt, Alter oder Krankheit nicht über Vernunft und Selbstbewusstsein verfügen – und dass dies auch so sein sollte. Die Rede von Menschenwürde und Menschenrechten greift, so betrachtet, die Vorstellung auf, dass alle Menschen eine Seele haben. So könnte jemand, der Singer widersprechen möchte, etwa sagen: Das Neugeborene verfügt zwar (noch) nicht über Rationalität und Selbstbewusstsein, aber es hat eine Seele. Damit würde dann nicht der Glaube an eine mysteriöse geistige Substanz zum Ausdruck gebracht, sondern die Überzeugung, dass das Leben aller Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, unbedingt geachtet werden muss. Wer hingegen Rationalität und Selbstbewusstsein als ausschlaggebend ansieht, muss letztlich beispielsweise Schwerstbehinderte und Neugeborene als Menschen zweiter Klasse ansehen.
Damit soll natürlich nicht der Eindruck erweckt werden, wir müssten nur davon ausgehen, dass alle Menschen eine Seele haben, und schon wäre das Problem der Begründung der Menschenrechte gelöst. Das wäre abwegig, denn der traditionelle Seelenbegriff ist, wie gezeigt, mit vielen Problemen belastet und wurde auch keineswegs immer im Dienste der Menschenwürde gebraucht. Aber die Bedeutung, die der Rede von unbedingten Rechten und unverlierbarer Würde heute – so gefährdet sie gerade auch wieder ist – zukommt, zeigt doch eines sehr deutlich: Hier ist ein Überschuss wirksam, der in der nüchternen Sprache der Psychologie nicht zum Ausdruck gebracht werden kann.
Menschen sind eben immer mehr als das, was sie sind. Zu ihrem Leben gehört der Bezug auf das, was (noch) nicht der Fall ist. Dieses „Nochnicht“ hat zwei Seiten, die der persönlichen Möglichkeiten, die das Leben wie einen Horizont umgeben, und die allgemeine von Werten und Normen, die als verbindlich erfahren werden. Für beides kann die Rede von der Seele ein Platzhalter sein. Das, wofür sie stand und steht, lässt sich nicht restlos in die Sprache der Wissenschaft übersetzen. Dennoch spielt Wissenschaft hier eine sehr wichtige Rolle, nämlich die eines unentbehrlichen Korrektivs. Sie weist Denkformen und Bilder zurück, die sich mit unserem Wissen über die Welt nicht vereinbaren lassen, wie etwa die Idee einer rein geistigen Seele. Aber um uns selbst richtig zu verstehen, brauchen wir dringend auch Redeweisen, mit denen wir unsere Selbsterfahrung und unsere moralischen Intuitionen zum Ausdruck bringen können. Wir sollten deshalb auf den altehrwürdigen Begriff der Seele nicht verzichten.
Matthias Jung, Jahrgang 1960, ist seit 2010 Professor für philosophische Ethik und Rechtsphilosophie am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau
Literatur
Ernst Bloch: Spuren. Suhrkamp, Berlin 2016
Dietrich Dörner: Bauplan für eine Seele. Rowohlt, Reinbek 2001
Hans Joas: Die Sakralität der Person. Suhrkamp, Berlin 2011
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt, Reinbek 2014
Peter Singer: Praktische Ethik. Reclam, Stuttgart 2013