Sehr seltsame und skurrile Werke“ seien das, sagt die Psychologin Kristin Platt über die Bücher, die sie seit einigen Jahren von Berufs wegen liest. Das lässt sich schon an den Titeln erkennen: Der nächste Gaskrieg, Krieg im All, Die Spur des Dschingis-Khan oder Berge, Meere und Giganten. Sie stammen meist aus den 1920er und 1930er Jahren. Ihre Autoren fantasieren von Zukunftswelten mit Strahlenkanonen und anderen Wunderwaffen, von abschmelzenden Polkappen, die lebende Dinosaurier freisetzen. In diesen…
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abschmelzenden Polkappen, die lebende Dinosaurier freisetzen. In diesen Fantasiewelten leben Marsbewohner oder biotechnisch veränderte Menschen. Es gibt Gewalt und Katastrophen wie den nächsten Weltkrieg, in dem ganze Kontinente ausgelöscht werden.
Wie kommt es, dass eine Sozialpsychologin Zukunftsromane aus der Vergangenheit erforscht? Kristin Platt leitet zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Monika Schmitz-Emans die Projektgruppe Der verdichtete Raum. Sprache, Text und weltanschauliches Wissen in deutschsprachigen Zukunftsromanen der 1920er und 1930er Jahre an der Universität Bochum. Daran nehmen weitere Wissenschaftler aus den Disziplinen Komparatistik, Geschichte und Politikwissenschaften teil.
Gemeinsam hat das Team mehrere hundert solcher Werke deutscher Autoren aus den 1920er und 1930er Jahren umfassend ausgewertet – im Hinblick auf Sprache, Text, das darin beschriebene weltanschauliche Wissen und die politischen Bilder, welche die Autoren zeichneten. Die Forscher fanden heraus, dass die Autoren dieser Bücher eine damals weitverbreitete Stimmung aufgegriffen und beschrieben haben, wie sie auch heute wieder häufiger vorkommt: ein Gefühl, der eigenen Gegenwart entfremdet zu sein und von ihr gleichzeitig überrollt zu werden.
Verlust der Gegenwart
Die untersuchten Werke, die heute kaum noch jemand kennt, waren mit großen Auflagen von bis zu einigen hunderttausend Exemplaren damals sehr populär. Einige wurden als Fortsetzungsromane in Werks- und Fachzeitschriften abgedruckt. Die Autoren kamen sowohl aus dem linken wie aus dem rechten politischen Spektrum. Daraus folgern die Bochumer Forscher, dass die Bücher ein in sehr unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verbreitetes gemeinsames Lebensgefühl spiegeln.
Was war das für ein Lebensgefühl? Es äußerte sich wohl in einer merkwürdigen Haltung der Menschen zur damaligen Gegenwart: Sie fühlten sich, als ob es sie gar nicht gäbe. Kristin Platt erklärt: „Um zu sagen, ich lebe in der Gegenwart, schließt man psychologisch gesehen eine Verbindung von Raum und Zeit und der eigenen Person und der Umwelt. Und in den 1920er Jahren finden wir etwas ganz Erstaunliches: Da findet Gegenwart im Kopf nicht statt. Sie wird verneint.“
Ein gefährlicher Nährboden
Bedingt war dies wohl durch den verlorenen Ersten Weltkrieg und die im Versailler Vertrag festgeschriebenen Gebietsverluste. Beides hatte bei den Deutschen den Eindruck hinterlassen, „dass die Zeit über Menschen hinwegging und sie zurückließ“, wie Platt sagt, „und dass man deshalb hinter der Zukunft her sein musste, um die Gegenwart zu sichern“. Eine Art des gedanklichen Eskapismus mit dem Gefühl: Das Glück kann nur in einem Morgen liegen, das ganz anders ist.
„Beim Lesen der Romane wird offensichtlich“, so Kristin Platt, „dass die Menschen das Gefühl hatten, nach dem Ersten Weltkrieg etwas wiederhaben zu wollen. Sie empfanden einen politischen Stillstand, fühlten sich nicht mehr als Teil der weltpolitischen Entwicklung.“ Und genau da kamen die Nationalsozialisten ins Spiel, sagen die Wissenschaftler.
Sie trafen diesen Nerv und konnten ihn nur treffen, weil die Menschen glaubten, es gebe keine Gegenwart. Die Stimmung und das Lebensgefühl der damaligen Zeit dienten offenbar als eine Art psychologischer Nährboden für den Wunsch, diese nicht wahrgenommene Gegenwart wieder „zurückzugewinnen“ und sie wieder gestalten zu können.
Wenn nur eine Katastrophe etwas ändert
Den Menschen der 1920er und 1930er Jahre war vermutlich bewusst, dass dies nicht ohne weiteres möglich war. Denn die Vergangenheit hatte sie gelehrt, dass die Zukunft stets mit teils massiven Veränderungen verbunden ist. „Die Vergangenheit bietet Anlass, Ähnliches von der Zukunft zu erwarten, nämlich gravierende und kontinuierliche Veränderungen der Welt, ihrer Bewohner sowie deren Lebensformen“, erläutert Literaturwissenschaftlerin Monika Schmitz-Emans.
Um massive Veränderungen zu erreichen, sehnten sie offenbar eine Katastrophe herbei. Gewalt! Die Leute hatten das Gefühl, dass sie für die Gestaltveränderung der Gegenwart ein Naturunglück bräuchten oder noch besser einen großen, entgrenzten Krieg. Die im Projekt untersuchten Science-Fiction-Romane des Autors Hans Dominik zeigen das sehr deutlich. „Darin“, so Kristin Platt, „erscheinen Katastrophen als nicht zu verhindernde Entwicklung, nach denen es erst möglich ist, gesellschaftliche und soziale Veränderungen zu erreichen.“
Braucht es wirklichen einen starken Mann?
Am besten durchsetzen lassen sich derart gewaltsam angestoßene Veränderungen mit einem Aggressor – dem „starken Mann“, dies eine weitere in dieser Zeit häufige Fantasie. In den deutschen Zukunftsromanen der 1920er und 1930er Jahre fungiert in dieser Rolle typischerweise der Ingenieur. Denn er hat das nötige technische Wissen und kann es praktisch umsetzen. „Da steckt viel Heldenhaftes drin“, sagt Kristin Platt.
Der Ingenieur erfindet in manchen Romanen eine furchtbare Waffe, die ganze Kontinente vernichten kann. „Aus dem Nichts“, so Platt, „lässt sich dann fruchtbar eine neue Zivilisation aufbauen, die Deutschland aus dem Vakuum führt.“
Gibt es Parallelen zur heutigen Zeit? „Dass die Gegenwart fremd wird und die Entwicklung über die Köpfe der Menschen hinweggeht, dieses Bild benutzen heute auch die Rechtspopulisten“, sagt Kristin Platt, „und wieder heißt es, dass man hinter der schnellen Zeit hinterherläuft und zurückgelassen wird.“ Eine gefährliche Entwicklung für die Demokratie.
Der verdichtete Raum. Sprache, Text und weltanschauliches Wissen in deutschsprachigen Zukunftsromanen der 1920er und 1930er Jahre. Forschungsprojekt an der Universität Bochum, gefördert von der Fritz-Thyssen-Stiftung. Laufzeit: 2017 bis 2020